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Heftarchiv – Leseproben

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[€ 11.00]  ISBN 978-3-943297-30-0

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Leseprobe aus Heft 4/2016

Nagel, Ivan

»Dieses Rätsel will ich leben«. Im Gespräch mit Jens Malte Fischer und Wolfgang Hagen


JENS MALTE FISCHER: Sie haben einmal davon gesprochen, daß Sie auf dreifache Weise Minderheiten angehörten. Das hat mich an einen Gustav Mahler zugeschriebenen Satz erinnert, der gesagt haben soll: »Ich bin dreifach heimatlos, als Böhme unter den Österreichern, als Österreicher unter den Deutschen und als Jude in der ganzen Welt.« Bei Ihnen lagen die Minderheitsprobleme etwas anders.

IVAN NAGEL: Ich war Jude, Staatenloser, Homosexueller. Ich glaube, wir sollten jetzt nicht über die äußere Biographie reden, sondern über die innere Biographie. Wie konnte man mit dieser Situation der dreifachen Minderheit fertig werden? Als meine Mutter während der ungarischen Revolution am Wiener Westbahnhof ankam, wir hatten uns nach meiner Flucht, meiner Emigration aus Ungarn acht Jahre nicht gesehen, stieg sie aus dem Zug aus und sagte: »Ich habe die Adresse eines Psychiaters.« Für mich war das ein entscheidendes Ereignis. Denn das, was ich als Judenkind bei den Nazis nicht sein durfte, nämlich ich selbst, was ich als bürgerliches Kapitalistenkind bei den Kommunisten nicht hätte sein können, hat meine Mutter mit der ganzen versteinerten Autorität der Budapester Bourgeoisie mitgebracht und mir so eigentlich dasselbe angetan: Geh zum Psychiater, du bist krank, du darfst nicht sein, was du bist. Es stimmt, daß man damals im Adenauer-Deutschland nicht dafür bestraft wurde, was man tat, also nicht für den Liebesakt zwischen einverstandenen, willigen Volljährigen. Aber man wurde dafür bestraft, was man war, im Sinne von § 175 durfte man kein Homosexueller sein: was man war, war strafbar. Dann, im Kinderheim, als Judenkind, hatte ich diese ungeheure, unerklärliche Energie eines Kindes, leben zu wollen, und hielt mich fest an der Behauptung: Es kann nicht sein, daß das, was ich bin, falsch ist, unerlaubt ist. In den glücklichen drei Jahren nach der Befreiung konnte sich diese Ich-Energie ausdehnen und mir die Welt und die Kunst erobern. Aber nach dieser Periode bin ich sozusagen mit mir, mit diesem Ich-Drang und dieser Ich-Energie allein geblieben. Die Gefahr war natürlich, daß man ins Ich-Loch des Egoismus, des Solipsismus hineinfällt. Davor rettet einen nur die Liebe, das heißt das Ausbrechen aus dem eigenen Ich. In der Liebe lernt man am Körper eines anderen, einer anderen sich selbst kennen und merkt, daß diese Lippen, diese Arme, diese Schenkel schön sind, richtig sind, daß der Mensch schön und richtig ist. Mit sechzehn wollte ich eigentlich nicht mehr älter werden. Ich sagte mir: Jetzt ist das Gehirn am klarsten, die Welt am transparentesten, warum soll ich mich einlassen auf diese Erwachsenen-Seuchen, diese trüben Geschichten von Geschlechtskomplikationen, von Geschäftsdrang, von Karriere. Meine Vorbilder waren die großen jungen Mathematiker, die großen jungen Komponisten, die mit sechzehn auf dem Höhepunkt waren, weil ihre Welt diese Transparenz hatte, weil ihre Gehirne noch nicht verseucht waren von diesen seltsamen Erwachsenenkrankheiten. Aber die Liebe ist der Ausweg, das erotische Ertasten, das Kennenlernen des anderen und damit von sich selbst, den Menschen liebgewinnen durch diesen Akt der Spiegelung, des Erkennens.

FISCHER: Sie haben als Jude in den fünfziger Jahren in Frankfurt die wenigsten Schwierigkeiten gehabt, weil das Thema damals dem sogenannten kollektiven Schweigen unterlag. Als Staatenloser und als Homosexueller hatten Sie hingegen manifeste Probleme.

NAGEL: Ja, das war ein großer Unterschied. Das Jude-Sein war eine aufgezwungene Identität, ich fühlte mich in meinem Leben nie hauptsächlich als Jude, als hundertprozentiger Jude. Staatenloser – das war keine Identität, das versuchte man so schnell loszuwerden, wie es irgend möglich war. Aber ich wußte, erkannte und stand dazu, daß ich als Homosexueller so bleiben würde, wie ich war, das heißt, daß meine Identität damit zusammenhing. Da war der Angriff, da war das Problem: Was ist Homosexualität? Ist sie eine Verengung, eine Beschränkung auf das eigene Geschlecht? Ist es eine Feigheit vor dem wirklichen Abenteuer, sich in einem anderen als seinesgleichen, in zwei Formen des Menschseins zu erkennen? Die Heterosexualität hat allerdings einen großen Haken, nämlich daß der zentrale Auftrag des Menschen, mit anderen, gleichen und verschiedenen Menschen zurechtzukommen, vor allem in der christlichen Religion abgeschliffen wird zu einer Art ordentlichem Benehmen, das auch noch vom lieben Gott befohlen wird. Es wird etwas Anpasserisches, Normales daraus, was einem den großen Auftrag der Begegnung mit dem gleichen Anderen verschleiert. Ich habe da zwei wunderbare Schocks gehabt. Der erste Schock war das Erlebnis Mozarts und Goyas, der denkbar heterosexuellsten Menschen, die die Begegnung mit der Frau niemals als abgeschliffene Routine, als bloße Normalität betrachtet, sondern auf die heftigste, leidenschaftlichste, liebevollste Weise gelebt haben. Es ist kein Wunder, daß ich zuerst über diese beiden wunderbaren Menschen und Künstler nachgedacht und geschrieben habe. Aber es gab ein zweites Problem, sozusagen das Subrätsel unter diesem Rätsel: Wie war es möglich, daß die universalsten Kenner, die reichsten Darsteller der Menschheit nur Männer glücklich liebten? Shakespeare und vielleicht Proust, Michelangelo und Leonardo. Wie war es möglich, diese universale Vorstellung zu haben, wenn sie unter jener »Verengung«, »Beschränkung« litten – unter der ich ja keineswegs gelitten habe, und sie offenbar auch nicht. Sondern diese als Sprungbrett genutzt haben zur umfassendsten, genauesten und herrlichsten Erkenntnis dessen, was ein Mensch ist. Nehmen wir Shakespeare: Julia ist tausendmal tiefer und interessanter als Romeo, Rosalinde tausendmal lebendiger als Orlando, Cleopatra unendlich fesselnder als Antonius. Dazu noch die gespenstische Überlegung: Diese Frauenfiguren, die wunderbarsten, die geschrieben worden sind, wurden von fünfzehnjährigen Knaben gespielt. Wie ist das möglich? Mein Entschluß war Gott sei Dank, auch als die Angriffe durch die Gesetze und durch meine eigene Mutter kamen, gefestigt genug, um zu sagen: Dieses Rätsel will ich leben. Ich stehe dazu, ich zu sein. Dazu noch eine kleine Bemerkung. In Platons »Gastmahl« gibt es die Aristophanes-Erzählung vom zweigeteilten Menschen. Ich glaube, diese Erzählung ist viel tiefer und wahrer als unsere Adam-und-Eva-Geschichte. Denn es wird nicht gesagt, weshalb Adam sich so einsam fühlt, weshalb die Frau geschaffen worden ist. Aber Aristophanes sagt: Es gab einmal ganze, vollständige Menschen. Die wurden getrennt, entzweigeschnitten in Mann und Frau, in Mann und Mann, in Frau und Frau, und seitdem suchen sie sich mit aller Sehnsucht, um sich wieder zu vereinigen. Die ersten Arbeiten, die ich gemacht habe, galten der Frau, nämlich Mozart und der Liebe in seinen Opern und Goya mit seinen beiden Frauenaktbildern, den beiden Majas. Mein späteres Hauptwerk neben dem Mozart-Buch »Autonomie und Gnade« heißt »Gemälde und Drama« und beschäftigt sich, nicht ganz zentral, weil es um die Erschaffung des konkreten, lebendigen Menschenbildes in der italienischen Malerei der Renaissance geht, aber doch auch mit der Frage: Wieso war die florentinische Entdeckung des leibhaft seelischen, des ganzen Menschen bei Brunelleschi, Donatello, Masaccio, Alberti die Entdeckung des männlichen Körpers? Das Ungerechte daran stand mir ganz klar vor Augen: Aus dem Verhältnis Mann und Frau wurde die Frau herausgedrängt, auch von dieser homoerotischen Gruppe. Und trotzdem waren Donatello und Masaccio, der Bildhauer und der Maler, der Durchbruch zum leibhaften Menschen.

FISCHER: Bei Shakespeare ist es, glaube ich, nicht ganz erwiesen, wir wissen einfach nicht genug …

NAGEL: Aber die einzigen Liebesgedichte, die er geschrieben hat, sind an einen Mann gerichtet. Es ist ja so, als ob Sie sagen würden: Petrarca hat aus irgendwelchen Gründen einen Lauro, einen hübschen Italiener, Laura genannt und so getan, als ob er auf Frauen stehen würde. Das ist absurd. Man will seit vierhundert Jahren verschweigen, was die einfachste und einleuchtendste Geschichte der Welt ist. Wenn einer seine Liebesgedichte einem Mann schreibt, dann hat er es offenbar mehr mit Männern als mit Frauen. Eine Zeitlang hat man bei Shakespeares Sonetten das »er« in »sie« korrigiert, um die Sache in Ordnung zu bringen, denn der größte Dichter durfte natürlich nicht auf Männer stehen.

WOLFGANG HAGEN: Wir waren gerade beim Stichwort »innere Biographie«, und ich habe Sie so verstanden, daß Sie Heterosexualität und Homosexualität gar nicht gegeneinander ausspielen, sondern im Grunde genommen einen Weg zur Heterosexualität finden über das, was im Homosexuellen in Spannung bleibt. Weil das Heterosexuelle mehr oder minder kulturelle oder auch machtpolitische Rollenzuweisungen erfahren hat, die den eigentlichen Grund, warum zwei Menschen zusammenkommen, längst überschrieben haben.

NAGEL: Ich glaube, daß die Zweigeschlechtlichkeit, wie wir aus tausend Romanen, Gedichten und Lebensbeschreibungen wissen, das große Rätsel, das zentrale Problem ist. Das kann gezähmt, verdrängt werden, indem man sagt: Na ja, man heiratet, man liebt ja Frauen, das ist normal und der liebe Gott will es so. Aber ich glaube, daß die Heterosexualität sich diesem größten und schwierigsten Auftrag stellen muß. Und ich glaube außerdem, das Problem der Homosexualität besteht in Folgendem: Wenn man dieses volle Sich-Stellen verweigert, durch seine Triebstruktur gar nicht in diese Perspektive kommt, ist das eine Reduktion, ein Verlust. Oder ist das ein zweites Rätsel, das einem zuteil geworden ist und das man bestehen muß?

 

SINN UND FORM 4/2016, S. 458-465, hier S. 458-461