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Heftarchiv – Leseproben

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[€ 11.00]  ISBN 978-3-943297-26-3

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Leseprobe aus Heft 6/2015

Dotzauer, Gregor

INNEN LEBEN
Abschied von einer romantischen Idee


1

In Peking hängen die Wolken an versmogten Tagen so tief, daß einem der Himmel bis in den Hauseingang nachkriecht. Das Firmament hockt auf der nächsten Laterne, und die Sonne ist vollständig pulverisiert. Die Stadt besitzt dann ein gesteigertes Fluidum. Ihre zerklüftete Silhouette zerfließt im Schwebstaub, und sobald es Abend wird, rücken die Fassaden der Wolkenkratzer schimmernd auf einen zu und entfernen sich wieder. Wenn danach die sogar bei Vollmond mondlose Nacht einsetzt, verschwimmen im Dunst die aus allen Richtungen heranwogenden Meere pulsierender Schriftzeichen, und über den Brücken der inneren Ringstraßen steigen bengalische Sumpflichter empor, die einen in unbekannte Viertel locken. In dem Augenblick, in dem man ihre  Quelle endlich ausfindig gemacht zu haben glaubt, verlöschen sie und flackern woanders auf. »Go inside to greet the light«: Was James Turrells Großmutter ihrem Enkel riet, lange bevor er sich daranmachte, der Dinghaftigkeit des Lichts eine Gestalt zu geben, wie andere Künstler Ton und Lehm formen, klingt wie das Gegenteil dessen, was man in Peking tun sollte. Die Stadt leuchtet nirgendwo so sakral wie in ihrem säkularen Gepränge.

Turrell hat sich in der Quäkertradition, aus der er kommt, immer wieder auf ein inneres Licht bezogen, das für die Gotteserfahrung dieser Glaubensbewegung steht: eine Form der Versenkung, die sich von östlichen Meditationsarten dadurch unterscheidet, daß sie nicht auf Entpersönlichung aus ist. Es handelt sich vielmehr um intensives Beten im direkten Kontakt mit einem Gott, der keine weitere Versinnbildlichung braucht, weil sich der Zugang zu ihm allein über das Innere erschließt. Quäker verehren das Numinose als das Luminose. Obwohl er keine religiösen Absichten verfolgt, kann man Turrell getrost das Oberhaupt einer weltumspannenden Kirche des Lichts nennen. Roden Crater, der erloschene Vulkan in Arizona, in dessen Lavagestein er Gänge, Treppen, Tunnel und Hallen gefräst hat, die ins Licht planetarer Konstellationen führen, ist ihr zentrales Heiligtum, und jedes der rund um den Globus errichteten Skyspaces eine Filiale. Ihre Erhabenheit behalten sie auch als wahrnehmungspsychologische Observatorien.

Gäbe es nur eine einzige dieser Kapellen, wie er sie erstmals 1960 für den italienischen Grafen Giuseppe Panza di Blumo in dessen damaliger Privatvilla in Varese errichtete, wäre die Verwirrung der Dimensionen von Innen und Außen bloß eine frappierende Idee. Man betritt einen Raum, um durch eine runde, ovale oder rechteckige Öffnung in den freien Himmel zu schauen, der sich wiederum in eben diesen Raum hinabsenkt und in der Morgen- und Abenddämmerung eine Lichthaut bildet, die eine objektiv nicht vorhandene Grenze vorgaukelt. Gäbe es vier, fünf oder sechs davon, würde man sagen, daß Turrell bei allem Variationsbemühen nicht mehr viel eingefallen sei. Weil mittlerweile aber über achtzig Skyspaces existieren, haben sie einen kultischen Charakter angenommen und ziehen Scharen von Pilgern an. Turrells einziges chinesisches Skyspace liegt im Pekinger Dongcheng District. Von der Wusi Dajie, einer Hauptstraße unweit der Verbotenen Stadt, biegt man in ein Areal geschäftiger Hutongs ab, jener Wohnhöfe umschließenden Gassen, die seit Jahren in vielen Teilen der Stadt Hochhauskomplexen weichen. Auf handgeschriebenen Plakaten wird gegen drohende Abrisse protestiert – die unvermutete Pracht, die sich am Ende der Shatan Beijie, einer Sackgasse, hinter einem riesigen Eisentor verbirgt, interessiert hier niemanden. Aus den Ruinen eines buddhistischen Tempels, dessen Ursprünge bis zu einer kaiserlichen Druckerei in der Ming-Dynastie zurückreichen, die Sutras und Dekrete herstellte, ist eine museumsartige Hotelanlage entstanden, deren kostbare Ruhe mit ihrer unübersehbaren Kostspieligkeit konkurriert.

Der nüchterne weiße Raum, der Turrells Installation beherbergt, hat einen schwarz glänzenden Steinboden. Darauf verteilt liegen zwanzig Isomatten mit runden Strohkissen für Kopf und Füße. Während in anderen Skyspaces oft Sitzbänke die Mauern säumen, liegt man hier ausgestreckt auf dem Rücken und beobachtet durch die rechteckige Aussparung in der Decke, wie sich der Himmel, durchtränkt von der untergehenden Sonne, im Lauf von anderthalb Stunden in einen Schwamm verwandelt. Nachtblau scheint er die Öffnung zu verschließen, bis changierende Komplementär- und Tertiärfarben ihn unmerklich aus den umlaufenden Lichtleisten ins Tiefgrüne und Schwarze wenden, während er sich zwischendurch wie ausgepreßt ins Innere des Skyspace ergießt. Alle Konturen, die körperlichen des Betrachters eingeschlossen, lösen sich in einem einzigen Feld auf.

Der Septembertag ist für Pekinger Verhältnisse ungewöhnlich klar und blau, anfangs ziehen in großer Höhe Vogelschwärme vorüber. Doch spätestens wenn die Wolken in der Öffnung des Skyspace zu zittern beginnen wie von einem windbewegten Teich gespiegelt, gehen das Gegebene und das Geformte eine unauflösliche Liaison ein. Sie erinnert daran, daß Sinnesdaten und ihre Verarbeitung darüber entscheiden, welches Licht im Auge des Betrachters funkelt. »Farbe«, heißt es in einer Definition der Internationalen Beleuchtungskommission, »ist diejenige Gesichtsempfindung eines dem Auge des Menschen strukturlos erscheinenden Teiles des Gesichtsfeldes, durch die sich dieser Teil bei einäugiger Beobachtung mit unbewegtem Auge von einem gleichzeitig gesehenen, ebenfalls strukturlosen angrenzenden Bezirk allein unterscheiden kann.« Soviel kühlen Formsinn muß man sich angesichts derart substantieller Erlebnisse erst einmal bewahren.

James Turrell ist ein Meister der Illusion, aber gleichwohl nicht auf Verblüffung aus. Ihn beschäftigen die trügerischen Anteile jedes Sehakts, die physiologischen Mechanismen und psychologischen Deutungen, die Nachbilder und das Eigenlicht der Netzhaut. Licht, sagt Turrell, der sich in seinen öffentlichen Äußerungen so ausdauernd wiederholt wie in seinen Arbeiten, offenbart letztlich nichts, es ist die Offenbarung selbst. Wir sehen es nicht nur, wir nehmen es auch über die Haut auf. Als Lichtfresser sind wir jedoch weder für die gleißende Sonne gemacht noch für die Nacht. Wir sind Wesen der Dämmerung. Ort und Ortlosigkeit des künstlerischen Blicks überkreuzen sich dabei auf irritierende Weise. Rein topographisch befand sich Turrell nie in größerer Nähe zu buddhistischen Gedanken. Auf dem Tempelgelände wurde einst mit Sicherheit auch das Herz-Sutra gedruckt, dem zufolge Form nichts anderes ist als Leere und Leere nichts anderes als Form. Zugleich dürfte er seiner Umgebung selten fremder geblieben sein. Das Hotel läßt seine Lichtinstallation von einem Soundtrack begleiten, der den Lärm aus den benachbarten Hutongs übertönen soll, wofür sich die Restaurants und Garküchen mit einem Anflug von Essensgerüchen revanchieren, die durch die Dachluke ins Innere des Skyspace dringen.

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SINN UND FORM 6/2015, S. 774-783, hier S. 774-776