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Heftarchiv – Leseproben

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[€ 11.00]  ISBN 978-3-943297-22-5

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Leseprobe aus Heft 2/2015

Schlaffer, Heinz

DIE VORZÜGE DER »LEIDEN DES JUNGEN WERTHERS»


Leicht ist es, Goethes »Werther« ein vorzügliches Buch zu nennen, schwer jedoch, diese Vorzüge zu bestimmen. ›Vorzüge‹ soll wörtlich heißen, daß dieses Werk vergleichbaren Werken, in diesem Fall anderen Liebesromanen, vorzuziehen sei. Immerhin wird, was zunächst als subjektives Geschmacksurteil erscheint, durch die Geschichte der Gattung selbst bestätigt: Nachdem »Die Leiden des jungen Werthers« veröffentlicht waren, haben sämtliche früheren Liebesromane, von Heliodors »Schöner Charikleia« bis zu Rousseaus »Neuer Heloise«, bei Schriftstellern wie bei Lesern, an Interesse und Ansehen verloren. Seitdem hat sich eine neue Art von Liebesroman gebildet, der Wertherische, und dies – zum Erstaunen des deutschen Literaturhistorikers – vor allem bei französischen Autoren. Sie berufen sich auf ein Vorbild, das in der deutschen Literatur, von kurzlebigen Reaktionen und Imitationen abgesehen, keine Nachfolge fand. Nichts Geringeres als die Autorität Goethes unterband in Deutschland eine Fortführung des Modells, das sein »Werther« geschaffen hatte. Sein zweiter Roman, »Wilhelm Meisters Lehrjahre«, ist dem ersten entgegengesetzt. Der tödliche Wahn Werthers, der allein aus der Liebe sein Glück ziehen wollte, weicht, bei den Interpreten der »Lehrjahre« mehr noch als bei seinem Autor, einem pädagogisch verwertbaren Konzept von Kunst und Bildung. Die herausgehobene Stellung »Wilhelm Meisters« in der deutschen Literatur- und Bildungsgeschichte konnte auch durch Goethes Rückkehr zu einer tödlich verlaufenden Liebesgeschichte in seinem dritten Roman, den »Wahlverwandtschaften«, nicht erschüttert werden. Der Bildungsroman, nicht der tragische Liebesroman, wurde vom deutschen Bürgertum als einer seiner Grundtexte anerkannt. Die Genealogie dieser spezifisch deutschen Gattung ließ man mit Wielands »Agathon« und Moritz’ »Anton Reiser« beginnen und bis zu Thomas Manns »Zauberberg« oder Hesses »Glasperlenspiel« reichen. Bildung aber ist der Liebesleidenschaft nicht förderlich. Deshalb wurde »Werther« ein folgenreiches Ereignis in der Geschichte des französischen, nicht jedoch des deutschen Romans.

In den »Fragmenten einer Sprache der Liebe« hat Roland Barthes seine leidvollen Erfahrungen der Liebe unter achtzig Stichworten rubriziert. Die Mehrzahl der kurzen Kapitel zitiert Sätze oder reflektiert Geschehnisse aus den »Leiden des jungen Werthers«. Diese »Fragmente« ergeben einen auf das Leben angewandten Kommentar zu Goethes Roman, den Barthes gar nicht als Roman behandelt, sondern als glaubwürdiges Dokument eines jungen Mannes, als »Stimme des Unheilbar-Liebenden«. Den Briefen Werthers entnimmt ihr betroffener Interpret Einsichten in Entstehung und Verlauf einer meist einseitigen, selten erwiderten Liebe. Sie kann so beginnen: »Aus dem Wagen steigend, erblickt Werther zum ersten Mal Lotte (in die er sich verliebt) im Türrahmen ihres Hauses (sie schneidet den Kindern Brot: eine berühmte, oft kommentierte Szene): wir lieben zunächst ein Bild. Denn an der Liebe auf den ersten Blick muß gerade das Zeichen ihrer Plötzlichkeit haften (das mich unverantwortlich macht, dem Schicksal unterworfen, schwärmerisch, hingerissen): und von allen Objektzusammenstellungen ist es das Bild, das sich offenbar am besten dazu eignet, ›zum ersten Mal‹ wahrgenommen zu werden: (…) das Bild heiligt das Objekt, das ich lieben werde.« Barthes verzichtet darauf, die Namen Wetzlar, Buff, Kestner zu erwähnen, damit die unmittelbare Wirkung und fortdauernde Wahrheit des »Werther« nicht durch den Rekurs auf historisch-biographische Umstände beeinträchtigt werde. Ausgelöscht sind die zweihundert Jahre, die zwischen Werthers Briefen und Barthes’ Fragmenten liegen. Ausgelöscht sind auch alle Liebesromane vor »Werther«. Als dieser erschien, beherrschten Richardsons »Clarissa« und Rousseaus »Neue Heloise« die Vorstellung der Leser von dem, was Liebe sei. Zweihundert Jahre später zitiert Barthes den Roman Richardsons gar nicht, den Rousseaus ein einziges Mal, »Werther« jedoch mehr als fünfzigmal. Eine solche Bevorzugung beruht nicht auf einer privaten Vorliebe; vielmehr bestätigt sie die anhaltende Verehrung des berühmtesten deutschen Romans in der französischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. Goethes Buch von 1774 hat eine Epoche des Liebesromans beendet und eine neue eröffnet.

Selbst politische Gegner wie Napoleon und Madame de Staël waren sich in der Verehrung dieses Romans einig, der »Die neue Heloise« in den Schatten stellte. Im Kapitel »Werther und Don Juan« seiner Aufzeichnungen »Über die Liebe« nennt Stendhal bereits ungescheut Saint-Preux eine »platte Person«, die, anders als der phantasievolle Werther, gar nicht zum Liebhaber in einem Roman tauge. Der Erzähler von Nervals »Sylvie« erkennt sich am Ende seiner Erinnerung an eine versäumte Liebe als »Werther, doch ohne Pistolen«. In Flauberts »Lehrjahren des Herzens« verweist die Hauptfigur auf ihren berühmten Vorgänger: »Ich verstehe die Werther« – offensichtlich gab es mittlerweile mehrere –, »die nicht ernüchtert sind, wenn Lotte Butterbrote streicht.« (Im deutschen Original fehlt die Butter auf dem Brot.) Zum Lieben braucht man keine Heroine, und man muß auch selbst kein Held sein. Diese Einsicht der französischen »Werther"-Leser fand in Deutschland keinen Anklang: Werthers empfindsamer, unmännlicher Charakter hat hier manchen Männern mißfallen. Sie hörten bereits aus Werthers Vorspruch zur zweiten Auflage die passende Losung für deutsche Jünglinge heraus: »Sei ein Mann und folge mir nicht nach.« Goethe meinte: nicht in den Tod; die Pädagogen weiteten den Ratschlag aus: auch nicht zur Liebe. Friedrich Engels nannte Werther einen »schwärmerischen Tränensack«. Roland Barthes hingegen berichtet freimütig, daß ihn, nicht anders als Werther, ein unglückliches Liebesverhältnis zum Weinen bringen könne.

In Werther entdeckten die französischen Schriftsteller den Prototyp des modernen Subjekts, das den Ansichten der anderen, den gesellschaftlichen Umgangsformen, dem göttlichen oder gottlosen Weltplan nicht zustimmt und sich eine eigene Welt erträumt. Goethes skeptischer Blick auf die Gesellschaft wie auf den einzelnen hatte die soziale, psychische und intellektuelle Genese von Werthers Illusion freigelegt. Dieser Analyse folgt der französische Desillusionsroman; dabei deckt er weitere Fehlgriffe der Liebesphantasie auf, auch bei weiblichen Protagonisten. Weniger ihre Liebe zu Männern als Langeweile und die Lektüre trivialer Romane treiben Emma Bovary zum Ehebruch und in den Tod. Frédéric Moreau hält sein Dasein für verfehlt, weil er Madame Arnoux nicht zum Ehebruch bewegen kann und sich mit Monsieur Arnoux’ Mätresse begnügen muß. Ältere Liebesromane hatten immer nur die Frage gestellt, wie man eine Frau erobert; Constants »Adolphe « jedoch stellt die nicht weniger lebensnahe Frage, wie man eine Geliebte wieder loswird. Von Goethes Roman lernten seine Nachfolger die Methode, durch Beobachtung des eigenen Verhaltens und Bewußtseins die monströse Wahrheit aufzuspüren, die sich unter dem glückverheißenden Wort ›Liebe‹ verbirgt.

 

SINN UND FORM 2/2015, S.195- 204, hier S.195-197