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Heftarchiv – Leseproben

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[€ 11.00]  ISBN 978-3-943297-21-8

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Leseprobe aus Heft 1/2015

Petrow, Wsewolod

Erinnerungen an Michail Kusmin und Anna Achmatowa


Cagliostro

Man mußte in den vierten Stock eines großen Petersburger Hauses in der ruhigen Spasskaja-Straße, die allerdings schon lange Ryleew-Straße hieß. Man mußte dreimal die Klingel der Gemeinschaftswohnung drücken. Dann öffnete sich die Tür, und dahinter entstand eine magische Atmosphäre. Hier wohnte ein Mensch, der Cagliostro ähnelte – Michail Alexejewitsch Kusmin.

Er war einer der Bewohner einer zugemüllten und engen Gemeinschaftswohnung der dreißiger Jahre. Außer Kusmin und seinen Angehörigen wohnte dort eine menschen- und kinderreiche jüdische Familie, deren Mitglieder zwei unterschiedliche Nachnamen trugen: Die einen waren Shpitalniks, die anderen Tschernomordiks. Manchmal kroch eine füllige ältere Jüdin, die wohl leicht schwerhörig war, zum Telefon im Flur heraus und schrie laut in den Hörer: »Hier ist die greise Tschernomordik!« Aus irgendeinem Grund stellte sie sich ihren Gesprächspartnern genau so vor, obwohl sie nicht älter als fünfzig oder fünfundfünfzig zu sein schien. Und einmal hörte Kusmin leisen Gesang hinter der Nachbarstür. Kinder sangen, vermutlich im Kreis aufgestellt und sich an den Händen haltend: »Wir sind Shpitalniks, wir sind Shpitalniks!« Kusmin fand, daß das für sie ein Akt der Selbstbehauptung angesichts der Wirklichkeit war. Außerdem wohnte dort ein stotternder dicker Mensch namens Pipkin. Er bat die Nachbarn aus irgendeinem Grund, ihn Jurij Michajlowitsch zu nennen, obwohl er in Wirklichkeit einen ganz anderen Vor- und Vatersnamen hatte. Wenn man seiner Bitte nachkam, fing er aus Dankbarkeit an, auch Jurij Iwanowitsch Jurkun mit Jurij Michajlowitsch anzureden. Wieso er diesen Vorund Vatersnamen so sehr mochte – ob aus Pietät gegenüber J. M. Jurjew oder aus anderen Gründen – ist ungeklärt geblieben.

Manchmal kamen aus der Nachbarwohnung junge Georgier namens Wirsaladse hierher, um zu telefonieren. Kusmin nannte sie beharrlich Weselidse.

Der Hausmeister aus der Riege der ehemaligen Fähnriche, eine Lieblingsfigur J. I. Jurkuns, der ihn oft gezeichnet hat, empfand Verehrung für den Beruf des Schriftstellers. Er pflegte zu sagen, daß an dem Haus irgendwann eine Marmortafel hängen würde mit der Aufschrift: »Hier wohnten Kusmin und Jurkun, und der Hausmeister schikanierte sie nicht.« Wie man sieht, rechnete er auch für sich mit einem Anteil am Nachruhm.

Schräg gegenüber, in der früheren Nadezhdinskaja, hatten einmal Freunde von Kusmin gewohnt, die Briks. Und auch das Schild »In diesem Hause lebte Majakowski« gab es schon.

Kusmin beteuerte, daß er Gemeinschaftswohnungen möge: Dort sei es nicht so langweilig. Allerdings muß er, denke ich, bei aller Umgänglichkeit und Leutseligkeit seines Charakters, bei all seiner freundlichen Leichtigkeit, doch unter der Enge und dem Mangel an Ruhe in dieser nicht langweiligen Wohnung gelitten haben. Er belegte zusammen mit Jurij Iwanowitsch Jurkun zwei Zimmer mit Fenstern zum Hof. Eines davon war ein Durchgangszimmer – eben jenes, wo Michail Alexejewitsch arbeitete und wo sich das Leben hauptsächlich abspielte. Kusmin und die Seinen schrieben, zeichneten, musizierten dort. Dort empfing man die Gäste. Die Shpitalniks, Pipkin, die Wesilidses und die Tschernomordiks durchquerten das Zimmer manchmal auf dem Weg zur Küche. Das zweite Zimmer war das Refugium der alten Veronika Karlowna, der Mutter Jurkuns. Gäste hatten dort keinen Zutritt. In Kusmins Zimmer stand ein weißes Klavier, das absichtlich leicht verstimmt war, damit es wie ein Cembalo klang. Zwischen den Fenstern stand ein kleiner Schreibtisch mit einer dicken Glasplatte; darüber befand sich ein Bücherregal mit der Gesamtausgabe von d’Annunzios Werken, den Michail Alexejewitsch mochte, wofür er sich ein wenig schämte.

Über den Büchern hing eine alte Ikone des heiligen Georg. Es gab eine Couch, ein paar Stühle und einen riesigen Wandschrank, der mit Büchern und Ordnern vollgestopft war, in denen die Zeichnungen und vielfältigen Sammlungen J. I. Jurkuns aufbewahrt wurden. Auf den runden Eßtisch pflegte man den Samowar zu stellen. Das Leben war offen vor den Gästen ausgebreitet. Jeden Tag von fünf bis sieben kamen welche. Sie erschienen ohne Einladung und konnten Bekannte mitbringen. Michail Alexejewitsch saß vor dem Samowar und goß allen Tee ein. Manchmal sagte er, sein Samowar werde irgendwann zu einer literaturgeschichtlichen Reliquie werden und in ein Museum kommen. Dazu kam es nicht. Nach der Verhaftung J. I. Jurkuns verschwanden alle Besitztümer Michail Alexejewitschs spurlos. Lediglich ein Amateurfoto ist erhalten geblieben, das Kusmin vor dem Samowar zeigt. Nach dem Tee setzte er sich ans Klavier und spielte meistens Mozart oder Debussy, und in seltenen Fällen sang er mit halber Stimme. Von den Gästen wurde dabei keine Gebetsstille verlangt; sie unterhielten sich lautstark weiter.

Im Frühling 1933 brachte mich der Maler K. E.Kostenko, mein Arbeitskollege im Russischen Museum, in dieses Haus. Wir kamen zur Empfangszeit, zwischen fünf und sieben. Am Tisch saß schon eine ziemlich große Gesellschaft. Michail Alexejewitsch stand beim Samowar. Mit ihm empfingen Jurij Iwanowitsch Jurkun, jugendlich und schön wie Dorian Gray, und Olga Nikolajewna Gildebrandt-Arbenina, Jurkuns Frau, die Gäste. Ich habe mich mit beiden bald darauf angefreundet. Von den Menschen, die ich an jenem Tag am Teetisch bei Kusmin traf, erinnere ich mich an den Dichter Konstantin Waginow, den Dichter und Übersetzer Benedikt Lifschitz sowie an Boris Sergejewitsch Mosolow, den Freund der Dichter, den Gumiljow, Pjast, G.Tschulkow und Wjatscheslaw Iwanow kannten und mochten. K. E.Kostenko und ich wurden an jenem Tag schon eingeladen, an jedem beliebigen Tag von fünf bis sieben Uhr vorbeizukommen.

[…]

Aus dem Russischen von Daniel Jurjew
Mit einer Nachbemerkung von Oleg Jurjew

SINN UND FORM 1/2015, S. 100-112, hier S. 100-102