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Heftarchiv – Leseproben

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[€ 11.00]  ISBN 978-3-943297-21-8

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Leseprobe aus Heft 1/2015

Herrmann-Neiße, Max

Die Kellnerin


I.

Am Samstag Vormittag ging der Lokomotivführer Gustav Finger wieder in den Dienst. Zuerst hatte man beim Frühstück tüchtig Grund gelegt, wenig dazu gesprochen, daß der ersprießliche Vorgang nicht unnötigerweise gestört würde, auch war man ohnehin noch morgendlich maulfaul, zur unternehmungslustigen Wachheit des Tages nicht bereit. Hatten sich also die beiden Eheleute wie zwei faule, dampfende Massen einander gegenüber gelagert, der Mann auf dem Sofa, hemdsärmlig, vor sich auf rotbeblümter Tischdecke den tiefen Teller voll Aufgewärmtem, Suppe, Fleisch, Gemüse von gestern Mittag zu einem Brei verkocht, dicke Bissen Brotes nun noch hineingebrockt und das Rauchende dann in sich geschaufelt, an der anderen Seite des Tisches Frau Bertha, zottlige Haare unfrisiert um das frisch geaschte, verdunsene Gesicht, die Augen kindlich blöde blinzelnd, mit weißgestärkter, knallender Untertaille vorläufig die schaukelnden Rundlichkeiten garniert, die prallen nackten Arme auf der Tischplatte breit aufgelümmelt, Kaffee schlappernd, eine Semmel in die Flüssigkeit tunkend und das triefende Gebäck mit Geschmatz ins Maul sich pappend. Über dem Ganzen der Dunst warmer, eben erst verlassener Betten, Küchengeruch, Schweiß der Nachtruhe und des Tages und der Haussegen. Die beiderseits stier, als habe man eben erst vor, wirklich hinzusehen, und nur spärlich, stockend, in großen Zwischenräumen quält sich aus dem Gähnen, Schnaufen, Kauen, Sichräkeln ein belangloses, mißtöniges Hin und Her von Geräuschen, der träge Versuch einer Art Gespräch: »Die Klosen hatte gestern schon wieder ein neues Kostüm und einen neuen Hut! Das kann der Mann doch von seinem Bissel Heizergehalt garnicht schaffen! Das geht doch wohl nicht mit rechten Dingen zu, da steckt was dahinter, das kannst Du mir glauben! Man munkelt ja auch schon lange Verschiedenes. Der Stadtrat Bulze soll beteiligt sein …« – »Und er selber, der Klose, treibts auch auffällig: er lebt über seinen Stand hinaus. So geht doch kein Heizer angezogen! Da müßte ich als Lokomotivführer wer weiß wie nobel gekleidet sein! Er sumpft auch die Nächte durch, wenn er frei hat. Und in Lokalen, wo unsereins weiß Gott doch nicht hingehört, im ›Schwan‹, im ›Kaiserhof‹, in Liebigs Hotel. Dann liegt er besoffen und kommt nicht zum Dienst!« Und allerlei Landläufiges vom Wetter, von den Preisen, von Zeitungsneuigkeiten, von Hochzeiten, Taufen und Sterbefällen. Bis Finger einmal auf seine Uhr sieht, »Verpucht, nu ist’s aber Zeit!« jappst, eine letzte Ladung Fraß hinunterjagt und schwerfällig aufsteht, sich vollends zurechtzumachen. Indessen streicht die Frau Frühstücksbrote, füllt die Kanne mit Kaffee und verstaut alles im schwarzen, hölzernen Handkoffer. Finger, in Uniform, die Mütze auf dem Kopfe, nimmt den Kasten, klatscht der Seinen zum Abschied wohlwollend derb auf die gewichtige Hinterfront und gibt, schon in der Tür, noch Aufträge: »Vergiß nicht, den Zivilanzug in Ordnung zu bringen, die Schuhe zum Besohlen zu tragen, meine Kragen zu plätten, die grauen Socken zu stopfen, schreib der Schwägerin zum Geburtstage, dann schickt sie auch was vom Schweineschlachten, und bezahl morgen früh die Miete, Geld laß ich dir soviel da, daß du auskommst. Na dann, Adieu!« Und die Holzstiegen herunter stapft sein gewichtiger Schritt.

Auf der Straße gibt sich Finger einen besonderen Ruck, stramm und zielbewußt, wie man als pflichtgetreuer Beamter zum Dienst geht. Dreht sich auch noch einmal um, richtig, guckt ihm seine Bertha wie üblich aus dem Fenster nach, er winkt hinauf, nicht zu enthusiastisch, sonst bilden sich die Frauenzimmer wer weiß was ein und die Leute auf der Gasse lächeln womöglich über ihn, eher etwas streng, wie der Lehrer zum Schüler, der in die Ferien geht, »Mach deine Hausarbeit ordentlich, und gutes Betragen bitt’ ich mir aus!«, mahnend: »Wir sprechen uns wieder! Ich werde streng prüfen!«, aber das Weib läßt ihren immer noch schlecht verwahrten Busen in der knallenden Untertaille fast auf den Bürgersteig fallen, winkt wie verrückt, als gälte es einen Abschied auf Tod und Leben, girrt noch etwas nach, was er garnicht mehr dem Wortlaut nach verstehen kann, fuchtelt und wabbelt. Wo die Wilhelmstraße endet, biegt er um die Ecke, grinst, nimmt den Kurs nicht mehr weiter zum Bahnhof, schwenkt leichten Tritts, wie auf Kommando »Rührt euch!« schmunzelnd in Mutter

Böhms Frühstückstube.

Als Finger vom Hausflur aus die Tür öffnet, die in den dumpfen, am Tag fast dunklen Raum führt, der hinter der Wittfrau Böhm Laden, »Kolonial- und Delikateßwaren«, liegt, schallt es ihm entgegen: »Hurra, der Seemann ist da!« – »Hast du doch Wort gehalten, Gustav!« – »Na, da setz dich mal ran! Und Mutter Böhm, noch’n Doppelstöckigen!« Finger gibt zurück: »Wenn ich sage, ich komme, dann komm’ ich auch, und wenn alle Stricke reißen! Ich werde doch an Ottos Geburtstag nicht fehlen!«, und eh er Platz nimmt, geht er auf den vierschrötigen Bullenbeißer, der in der Mitte der Kumpane thront, zu und entledigt sich seiner Gratulation: »Na, Otto, da wünsch ich Dir noch weitere 45 Jahre, und daß es immer so gut geht, wie bisher, du weißt schon, wie ich’s meine, jedes Jahr einen neuen zukünftigen Rekruten für die deutsche Armee! In alter Frische!« Und wie er ihm die Hand schüttelt, grölen schon alle im Chorus: »Hoch soll er leben! Hoch soll er leben! Er lebe hoch!« und dann lachen sie sich erst mal gründlich eins, kippen die vollen Schnapsgläser, wischen sich die Bärte und setzen sich aufs neue in Positur. »In diesem Sinne hab ich dir auch ein kleines Geschenk mitgebracht«, und Finger übergibt ein Päckchen, man drängt sich neugierig in die Nähe, als Otto es auszupacken beginnt. Eine papierene Umhüllung nach der andern ist abzuschälen, es nimmt gar kein Ende, Otto wird allmählich ungeduldig, die andern amüsieren sich königlich, und wie man schon meint, das Päckchen bestehe überhaupt nur aus papierenen Hüllen ohne Inhalt und die Fopperei gelungen nennen will, kommt doch zuletzt noch ein kleinwinziger Gegenstand zum Vorschein und erweist sich zum allgemeinen Gaudium als ein Stehaufmännchen. Mit gemachter Entrüstung, im Grunde doch geschmeichelt, gebärdet sich das Geburtstagskind Otto Bulze da, und schon lenkt Finger ein: »Na, nichts für ungut, Otto, ich hab dir auch was Reelles mitgebracht«, und wirft ein größeres Paket auf den Tisch, das dabei von selbst sich öffnet und eine Menge Wellwürste herausfallen läßt. »Mein Schwager Linka in Riemertsheide hatte doch Schweineschlachten, da hat er mir was abgelassen!« – »Dein Schwager soll leben! Mutter Böhm, nehmen Sie mal gleich die Schweinerei an sich und braten Sie sie uns mal draußen, da hätten wir gleich was Wurschtiges zum Verbeißen beim Trinken, aber die Emma soll sie nicht anbrutzeln lassen!« – »Nu, sage mal, Gustav, wie hast du die Würschte bloß vor Deiner Ollen in Sicherheit gebracht? Und vor allem, wie hast dus angestellt, dich heut früh zu drücken und hierher zu kommen? Da ist sie doch sonst immer mächtig hinter dir her, daß Du erst wieder loskommst, wenn es richtig zum Dienst geht!« – »Dies mal hab ich sie doch bemogelt. Ich sagte, ich müßte den Vorzug fahren, der ginge um 11Uhr15 vormittags; nu denkt sie, ich gondle längst in der Welt rum, dabei fängt mein Dienst erst wieder abends um 11 an.« – »Ein toller scheinheiliger Knabe, der Gustav! Der schwindelt mit der unschuldigsten Miene!« – »Was brauchen die Weiber auch alles zu wissen!« – »Und daß da draußen Schweineschlachten war, davon hat sie erst überhaupt keine Ahnung. Ich ging gestern Nachmittag raus nach Kartoffeln, da sagte mein Schwager, er hätte geschlachtet, er hätte vorzeitig schlachten müssen, das Schwein hatte sich’s Bein gebrochen, da ließ ich mir gleich ein paar Würste einpacken, die hab ich zuhause nicht weiter gezeigt. Meine war froh, daß ich Kartoffeln mitbrachte und überdies noch ein paar Pfund Äpfel.«

Den Bulze wurmt jetzt doch plötzlich die weiter nicht böse Anspielung von vorhin, er empfindet sie auch selbst nicht als böse, aber er muß sich halt rächen, und fragt nun: »Wie steht’s denn überhaupt bei euch, Gustav, ist immer noch nichts Kleines in Aussicht? Ihr müßt mal dem Storch bissel Zucker hinstreuen, er findet wohl so den Weg nicht zu euch?« Diesmal geht das Gepruste auf Fingers Kosten los, das eiserne Figürchen, das er dem Bulze zum Spottgeschenk machte, muß nun sogar gegen ihn selbst herhalten, wird ihm als löbliches Beispiel vorgewiesen, und er wüßte kaum, wie sich wehren, erschiene nicht in diesem Augenblick der Teller mit den gebratenen Würsten und wäre nun fürs nächste durch Mundlecken, Schmatzen, Würgen, anerkennendes Gerülps, nachher schwer Aufatmen, sich lüften, in den Zähnen stochern und mit der Zunge im Maul herum scheuern jeder vollauf beschäftigt. Fand zuerst das Geburtstagskind, Otto Bulze, seines Zeichens Geldbriefträger, die Sprache wieder, denn er hatte schon ein reichliches Festfrühstück zu Haus hinter sich, brauchte sich also bei den Würsten nicht mehr so lange zu verweilen, und fragte, indes er mit den Augen zwinkerte: »Und wer zahlt nun die nächste Runde Winschelburger? « Wollte Gustav Finger in der Seligkeit seines Freiheitsgefühles schon »Ich« sagen, als von der andern Ecke des Tisches her der Küster der Garnisonkirche, eine Feldwebelvisage mit Kaiserwilhelm-Vollbart trompetete: »Ich schlage vor, wir knobeln sie aus!« Wäre es der Reihe nach weitergegangen, daß jeder in der Runde einmal zum Bezahlen drankam, so hätte er jetzt dergleichen tun müssen; als gewesener Sergeant im Nassauern erfahren, wußte er solchen Zumutungen geschickt auszuweichen und war noch stets gratis dabeigewesen. Dafür stellte er bei solchen Festivitäten im Vertilgen desto mutiger seinen Mann, und er, der sonst stundenlang bei einem kleinen Biere saß, soff, fraß und qualmte für Zehn, wenn es auf Regiments Unkosten ging. Beim Würfelspiel hatte er zumindest wenigstens die Chance, zu gewinnen, und im übrigen die Fertigkeit, dem Glück ein wenig aufzuhelfen. Und da noch einige andere Kumpane um ihre Spendierpflicht ebenso herumzukommen hofften, die sich freilich nicht getraut hätten, so offenkundig dem an sie gerichteten Appell sich zu entziehen, fand der Vorschlag Anklang. Und als die fette Frau Böhm schwerfällig davonwatschelte, den ledernen, abgegriffenen, fettigen Würfelbecher zu holen, hemmte sie der Geldbriefträger erst noch einmal in ihrem Lauf mit der Weisung: »Erst geben Sie aber noch mal jedem eine Zigarre aus der Aurora-Kiste, Sie wissen schon! Standesgemäß zu 10 Pfennig!« Denn er seinerseits wußte, was er sich als Geburtstagskind schuldig war, das durch die Anwesenheit so vieler lieber Saufkumpane geehrt wurde; die heut getrunkenen Biere kommen sowieso auf seine Rechnung, er hatte extra ein Fäßchen Helles anstecken lassen, und wenn er nun noch jedem einen Glimmstengel spendierte, hatte er getan, was offiziell von einem noblen Gastgeber erwartet wurde, sein Beitrag zu dem heutigen Beisammensein war damit erledigt, und er konnte dann dem weiteren Verlauf des Tages mit dem ruhigen Gewissen eines Menschen entgegensehen, der das Geschäftliche, soviel auf seinen Teil kam, beglichen hatte. Von dem drallen Dienstmädchen, die zur Feier des Tages heut nach unten beordert war – der schiefschultrige Kommis und die beiden spitalgesichtigen, rothändigen Stifte bedienten draußen das Ladengeschäft –, wurden inzwischen die Teller und Bestecks abgeräumt, die Bierseidel neu gefüllt, wobei es nicht ohne allerlei mehr oder minder handgreifliche Zwiste abging, die das vom Lande stammende Mensch in Erwägung der später abfallenden Trinkgelder mit einer gewissen derben Jovialität quittierte. Dann wurde also gewürfelt, und die anzügliche Natur gewisser Würfeltouren wie »Ums Loch, ins Loch«, »Semiramis mit Hängetitten« brachten es von selbst mit sich, daß die Unterhaltung in ein sozusagen frivoles, ja ohne Umschweife gemeines Fahrwasser geriet. Mutter Böhm kannte und respektierte dieses Stadium, verschanzte sich hinterm Ladentisch, beorderte das Dienstmädchen oben in die Küche, ließ die Lehrlinge die gewünschte Zufuhr an Alkohol besorgen und begnügte sich damit, von da ab das Verzehrte doppelt anzukreiden. Denn sie wußte erfahrungsgemäß, jetzt oder nie sei für sie ein lohnender Profit zu machen.

 

[…]

 

SINN UND FORM 1/2015, S. 5-40, hier S. 5-12