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Heftarchiv – Leseproben

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[€ 9.00]  ISBN 978-3-943297-19-5

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Leseprobe aus Heft 5/2014

Hanshe, Rainer J.

AUFTRITT AUF DER WELTBÜHNE
Miklós Szentkuthys »Ars Poetica«


[…]

Szentkuthys zweites Buch »Az egyetlen metafora felé« (Auf zur einzigen Metapher), das 1935 erschien und 1985 wieder aufgelegt wurde, besteht aus einhundertzwölf numerierten Abschnitten, deren Länge von einem Satz bis zu mehreren Seiten reicht. Es ist ein in sich geschlossenes singuläres Werk, eine Art Kentaur, und zugleich der Humus für Szentkuthys spätere Arbeit. Der Text läßt sich keinem spezifischen Genre zuordnen, am ehesten trifft auf ihn vielleicht der Begriff Literatur in Blanchots umfassendem Sinn zu. Blanchot definiert Literatur als etwas, das die Unterscheidungen und Begrenzungen eines jeden Genres zunichte macht, indem es eine einzigartige, hybride Form schafft. In Deszö Barótis Besprechung aus dem Erscheinungsjahr heißt es, das Buch bestehe aus »unkonventionellen Passagen im Zeitungsstil, die sich zu kurzen Essays ausweiten, aus Plänen für Romane, poetischen Meditationen im Stil freier Verse und paradoxen Aphorismen«. »Die Hauptmotive (soweit man das in aller Knappheit sagen kann) sind Natur, Liebe, Erotik, Sex. All dies ist jedoch durch die unverhohlene, vibrierende Präsenz eines Schriftstellers getönt, der ständig auf der Suche nach sich selbst ist und mit immer neuen verführerischen, stimulierenden Überraschungen aufwartet.« Das paßt zu Szentkuthys grandiosem, wenngleich quijotischem Vorhaben, so etwas wie einen »Catalogus rerum« zu erstellen, »ein Verzeichnis der realen Dinge und Phänomene, einen Katalog all dessen, was es auf der Welt gibt«. Die Absurdität des Plans reizt zum Lachen – sogar Szentkuthy selbst –, denn er hat etwas vom Totalitätsanspruch der Enzyklopädisten, wenn nicht gar vom eigentlichen Ziel der Aufklärung, der Erlangung absoluten Wissens. Nichtsdestoweniger war die Erfassung der »ungenannten unzähligen Phänomene auf der Welt« für Szentkuthy »ein wahrhaft edles faustisches Ziel«. Dazu gehörte das Katalogisieren »aller zugänglichen Naturphänomene, aller Himmel und Höllen der Liebe, der ganzen Welt der Geschichte, und zu guter Letzt eine universale Übersicht über die Mythologien (die universale Schau) bis hin zur christlichen Mythologie«. András Nagy glaubt, Szentkuthys Catalogus rerum orientiere sich eher an den Arbeiten mittelalterlicher Mönche und am Denken der Kirchenväter und Scholastiker als an den Enzyklopädieenthusiasten der Aufklärung ("Masks behind Masks: A Portrait of Miklós Szentkuthy«, Berlin Review of Books, 25. März 2013). Was Szentkuthys Ziel von dem der Enzyklopädisten unterscheidet, ist, daß es ihm nur ums Katalogisieren geht und nicht um den prometheischen Versuch, die Natur dienstbar zu machen und zu beherrschen; dazu kommen seine Heiterkeit sowie die Einsicht, daß das faustische Ziel niemals zu erreichen sei. Aber wissen wir wirklich, wie nahe er dem Ziel kam oder wie weit er es verfehlte? Glaubte er wirklich, daß es nicht zu erreichen sei, oder war das falsche Bescheidenheit, die öffentliche Maske des Narren, der in Wirklichkeit alles daransetzt, es zu erreichen? Wir sollten bedenken, daß Szentkuthy – wie Casanova – von Schauspielern abstammte; wie der Erzähler der »Marginalien zu Casanova« konnte er sagen: »Das Grundprinzip des Lebens ist theatralisch; keine Lügen, nur Masken, Mimik… Realität und Theater: ein und dasselbe.« Die Passage schließt mit dem Ausruf, es gebe ein Alpha und Omega, ohne das nichts sei: »Schauspieler, Schauspieler, Schauspieler« (§1). Mehr noch, indem Szentkuthy in »Frivolitäten und Bekenntnisse« gesteht, er habe kein geringeres Ziel, als der Dante des zwanzigsten Jahrhunderts zu werden, geht er nichts anderes als einen Pakt mit dem Teufel ein, mit dem es ihm todernst ist.

Was, so fragt man sich vielleicht, inspiriert jemanden zu einem so befremdlichen Buch wie »Auf zur einzigen Metapher"? Es sind so unterschiedliche Quellen wie Paracelsus, Spengler und die Wiener Psychologie, die Szentkuthy leiten und zu seinen Abenteuern verlocken. Es enthält aber auch ein kämpferisches Element, denn das Werk ist eine Antwort auf die Kritiken gegen »Prae«, den Roman, der das literarische Establishment Ungarns so fassungslos gemacht hatte, daß sein Autor als »bücherwurmartiger Homunkulus« bezeichnet wurde, »als gräßliches Monster, das immer und überall nur auf Naturwissenschaft, Philosophie und Mathematik stieß«. Wo, so glaubt man manche Kritiker lamentieren zu hören, bleibe er denn da als Mensch? Szentkuthy schrieb »Auf zur einzigen Metapher", um gegen dieses Bild eines monströsen Lusus naturae anzugehen und sein Menschsein unter Beweis zu stellen, wobei der Titel Bogen, Entwicklung und Kreisbewegungen des Buches andeutet – vom manischen Katalogisieren aller Dinge auf der Welt bis hin zur einen und einzigen Metapher, die sich herauskristallisiert und alles enthält. Hier stand Paracelsus Pate: »Wie Paracelsus den menschlichen Körper, Sterne und Mineralien auf einen gemeinsamen Nenner brachte oder die moderne Physik manchmal dazu tendiert, alle materiellen Phänomene der Welt auf einen Nenner zu bringen (Materialität ist in Wirklichkeit eine Eigenschaft der Energie, Energie ist in Wirklichkeit eine Eigenschaft des Raumes …), wollte ich eine Art Zusammenfassung von Kunst, Theologie, Liebe, Leben, Tod, Alltag, Mythologie, Spiel, Tragödie, Wiege, Grab, Spaß, eine Offenbarung. Aufzählen heißt nicht Schwafeln: bei mir sind das echte ‚Gegensätze’.« ("Frivolitäten und Bekenntnisse«)

Indem Szentkuthy sich das paracelsische Ethos – zu seinen Bedingungen – zu eigen macht, kommt er mit seinen Aufzählungen nicht nur Gegensätzen, sondern auch Affinitäten und Analogien auf die Spur: den vibrierenden Entsprechungen, die das Gefüge bzw. die Strukturen offenbaren, die dem Universum zugrunde liegen. Dies ist – und Szentkuthy gesteht, daß er hier mit Absicht ein religiöses Wort verwendet – eine Offenbarung. Was, so fragt der unermüdlich Suchende, ist das allen Dingen Zugrundeliegende? Welches ist der gemeinsame Nenner, der die menschlichen Organe, eine chemische Substanz und weit entfernte Sternennebel verbindet? Wie haben derart ungleiche Dinge miteinander zu tun? Szentkuthys Listen sind nicht bloß Listen, sondern werden sub specie aeternitatis zusammengetragen; wenn er Kataloge erstellt, begibt er sich nicht in die Niederungen einer Einkaufsliste. Sein Katalogisieren ist eher merkurisch, chemisch, indem er mathematische Formeln literarisch transponiert. In diesem paracelsischen Ethos ist die Methodologie seines Buches enthalten, obwohl das Wort für einen clownesken, possenreißenden, ikonoklastischen Autor wie Szentkuthy eigentlich zu theoretisch klingt. Wie Paracelsus glaubt er, Wissen sei Erfahrung. Wenn die hohen Schulen so viele Esel hervorbrächten, müsse ein Arzt eben alte Weiber, Zigeuner, Schwarzkünstler, umherziehendes Volk, Räuber und andere Gesetzlose aufsuchen und bei ihnen in die Schule gehen.

Zum einen ist das Werk also ein Catalogus rerum, zum anderen eine Confessio, und das führt uns zur Wiener Psychologie und zur Praxis der Psychoanalyse. Szentkuthy wurde erwachsen, während die Geburt der modernen Psychologie mit all ihren Kämpfen und ihrer Apotheose in vollem Gange war. Als er »Auf zur einzigen Metapher« schrieb, waren die Hauptwerke von Freud, Jung und Adler fast alle schon erschienen. Jedenfalls beginnt Szentkuthys Leben als Schriftsteller, als der ganze Kontinent sich im Zuge politischer Umbrüche und der intensiven Erforschung der Psyche in Gärung befindet. Als – freilich höchst unorthodoxer – Katholik hatte der Ritus der Beichte für ihn große Bedeutung, durch das leidenschaftliche Studium der Werke Freuds, Jungs und Adlers wurde der Akt des Analysierens bzw. der unbarmherzigen Selbstprüfung noch intensiviert. Wenngleich deren Terminologie in seinem Werk keine offensichtlichen Spuren hinterlassen hat und sich darin keine offenkundig psychologischen Darstellungen finden, ist ihr Einfluß – von Szentkuthy auf seine Weise umgesetzt – durchaus bemerkbar, vor allem in seiner obsessiven, beharrlichen und verbissenen Beschäftigung mit ‚der Frage’. Denn eines der auffälligsten Merkmale von »Auf zur einzigen Metapher« ist die Analyse. »Mein Bestreben«, erklärte er, zielt auf »ein Welt-Bild [világkép], das es mir erlaubt, die letzten Fragen des Lebens zu bündeln (wie stilisierte Bilder, die man auf alten Wappen sieht – einen Löwen, den Mond, Sterne, ein Schachbrett, einen Arm mit einer Keule, Hügel und ein Wasserlauf, et cetera –, so viele schöne Dinge haben auf so kleinem Raum Platz…) Letzte Fragen ist ein guter Ausdruck, weil in dieser unserer Welt alles Frage bleibt, zumindest für den prüfenden Verstand. Folglich (…) ist es weitaus nützlicher, Fragen zu katalogisieren, die an die Grundlagen der Welt rühren, als vorschnelle Antworten und Lösungen anzubieten.« (Frivolitäten und Bekenntnisse, Kapitel VIII)

Keine Antworten, keine Lösungen, sondern ein Katalog von Fragen, obwohl selbst das nicht wörtlich zu verstehen ist: Man wird in diesem Buch keine Liste im üblichen Sinn finden. An »Auf zur einzigen Metapher« ist nichts pedantisch: Es besteht aus Aphorismen und essais, und Szentkuthy ist so aufrichtig (und unterhaltsam) wie Rousseau. Alles, was ihm in die Hände, zu Ohren, vor Augen kommt oder seine Haut berührt, wird sorgfältig und gewissenhaft analysiert, denn er versucht, soweit es in seiner Macht steht, »den Dingen mit derselben Leidenschaft auf den Grund zu gehen wie der Wiener Arzt«. Und so behält die Frage die Oberhand: in einem Denken in Bewegung, in der Eleganz eines Gedankens. Szentkuthy tanzt.

[…]

 

Aus dem Englischen von Dora Fischer-Barnicol

 

SINN UND FORM 5/2014, S. 607-621, hier S. 615-618