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Heftarchiv – Leseproben

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[€ 9.00]  ISBN 978-3-943297-17-1

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Leseprobe aus Heft 3/2014

Hamblyn, Richard

Die Krakatau-Briefe Von Gerard Manley Hopkins


Im Winter 1883 fiel der Dichter Gerard Manley Hopkins in eine seiner periodischen Depressionen, »ein erbärmlicher Zustand von Schwäche und Schläfrigkeit, ich weiß nicht, wieso«, schrieb er, »immerzu müde und außerstande, zu irgendeinem Behufe zu lesen oder zu denken«. Zum Teil war es Langeweile: Hopkins hatte eine ungeschickte Stellung an einer katholischen Internatsschule in Lancashire, wo er zumeist damit beschäftigt war, seine Schüler durch Universitätsaufnahmeprüfungen zu bugsieren. Der Gedanke, daß er seine Zeit und seine Talente vergeudete, bedrückte ihn schwer bei den langen, grüblerischen Wanderungen, die er durch die »süße Landschaft« von Ribblesdale unternahm, »dein liebliches Tal«, wie er es in einem der wenigen Gedichte nannte, die er in diesem Winter zu schreiben vermochte. Er war fast vierzig Jahre alt und fühlte sich wie in einer Falle.

Das war seine geistige Verfassung, als die Krakatau-Sonnenuntergänge begannen. Die winzige Vulkaninsel Krakatau (auf halber Strecke zwischen Java und Sumatra) war Ende August 1883 Schauplatz einer spektakulären Eruption gewesen und hatte Milliarden Tonnen von Asche und Schutt in die irdische Hochatmosphäre geschleudert. Fast vierzigtausend Menschen starben durch die von der mächtigen Explosion ausgelösten riesigen Wellen: Der javanische Hafen Anjer wurde, zusammen mit Hunderten Küstenstädten und -dörfern, nahezu ausgelöscht. »Alles weg. Viele Tote«, meldete ein Telegramm aus Serang, und noch Wochen später wurden Leichen an Land geschwemmt. Derweil dehnte sich die Aschewolke zu einem opaken Band, das sich westwärts langsam um den Äquator wand und in den niederen Breiten denkwürdige Sonnenuntergänge und Abendröten bildete. Nach einigen Wochen verlagerte sich der stratosphärische Schleier von den Tropen zu den Polen, und Ende Oktober 1883 erlebte der größte Teil der Welt, einschließlich Britanniens, ein gespenstisches abendliches Gepränge, eine Folge der Zerstreuung eintretenden Lichtes durch mäandernden vulkanischen Dunst. Im November und Dezember entflammte der Himmel in giftig schillerndem Grün, Blau, Kupfer und Magenta, »mehr wie entzündetes Fleisch denn wie das klare Rot gewöhnlicher Sonnenuntergänge«, schrieb Hopkins. »Die Röte ist intensiv, und das fällt jedem auf; sie hat das Tageslicht verlängert und die Jahreszeit optisch verändert; sie überspült den ganzen Himmel, sie gilt fälschlich als Widerschein eines großen Feuers.«

Wie die meisten Beobachter hatte Hopkins keine Ahnung von den Ursachen dieses Phänomens, doch er wurde von dem täglichen atmosphärischen Gepränge immer stärker fasziniert und verfolgte dessen wechselnde Ausformungen während jenes unruhigen Winters. Ende Dezember übertrug er seine Beobachtungen in ein merkwürdiges 2000-Wörter-Manuskript und sandte es an das führende Wissenschaftsjournal »Nature«. Der im Januar 1884 veröffentlichte Text war ein Meisterwerk der Reportage, ein gesteigertes Prosagedicht, das literarisches Experimentieren mit enormer meteorologischer Exaktheit verband:

»Über dem Grün wiederum erschien ein rotes Leuchten, breiter und gröber; es war zart gesprenkelt, und in den Rippen oder Streben war es mehr rosig, in den Kanälen, wo das Blau des Himmels hindurchschien, war es malvenfarben. Darüber war ein schwaches Lila. Das Rot sah man zuerst 45 Grad über dem Horizont, und darin waren Speichen oder Strahlen auszumachen, die ein Zuschauer mit einer offenen Hand verglich. Um 16.43 hatte Rot das Grün verdrängt und, sich mit dem restlichen Orange vermischend, den Horizont erreicht. Unterdessen wurde der Osten, der eine Rosatönung hatte, tiefrot wie Sand; nach meiner Beobachtung war der Himmelsgrund im Osten grün oder ansonsten gelbbraun, und das Karminrot nur in den Wolken. Ein großes dunkles Wolkentuch, gerefft oder gefältelt, trieb während dieses prächtigen Schauspiels westwärts; sein Saum und die kleineren, über das helle Feld des Sonnenuntergangs ziehenden Wolkenkugeln erhaschten ein fahles Grün. Um 17.00 war das Rot im Westen schwächer, um 17.20 wurde es merklich rosiger und satter; aber es war nie ein reines Rosa. Eine leichte dunkle Rötung blieb um 17.30 oder später zurück. Während sich der Himmel auf diese Weise veränderte, glühte die Landschaft von Ribblesdale in düsterem Braun.«

Hopkins war ein begabter empirischer Beobachter mit einem fast forensischen Interesse am Entdecken schriftlicher Äquivalente für die Komplexität der Naturwelt. Dieses Interesse an der Sprache der Präzision teilten damals viele Wissenschaftler, denn die Wissenschaft war, wie die Poesie, ein von Natur aus deskriptives Unternehmen. Wer den Bericht der Royal Society über die Krakatau-Sonnenuntergänge liest, findet Passagen, die der poetischen Prosa von Hopkins nahekommen, der solche Sprache als »die gesteigerte und sich selbst nicht ähnliche Sprache von heute« charakterisierte, eine dynamische schriftliche Form, hervorragend zum Beschreiben der, wie er sagte, »inscape« geeignet, der eigentümlichen Einheit aller Naturerscheinungen, die jedem Ding in der Natur seine ureigene Schönheit und Einmaligkeit verleiht. Die Seinskraft, die diese dynamischen Identitäten zusammenhält, nennt er »instress«, jene grundlegende Energie, kraft derer ein Beobachter die inscape eines anderen Wesens erkennt. Diese postromantischen Vorstellungen bildeten eine Art persönliches poetisches Credo, eine logozentrische Naturtheologie, die im Werk des mittelalterlichen christlichen Philosophen Duns Scotus wurzelte.

Für Hopkins lagen inscape und instress im Zentrum seiner religiösen und poetischen Praxis, und sie waren zugleich wesentliche Mittel zum Verstehen der Naturwelt. Am 22. April 1871 zum Beispiel schreibt er in sein Tagebuch: »eine so herrliche Damaszierung am Himmel wie heute habe ich noch nie gefühlt. Das Blau war mit einfachem instress geladen, der Himmel oben, im Zenit, ernst und düster, darunter heller und lieblich.« Man beachte, daß er die Damaszierung sowohl fühlte als auch beobachtete, und man beachte seine kalibrierten Beschreibungen des gebänderten Himmelblaus, das höhere »ernst und düster«, das tiefere »heller und lieblich«. Seine Tagebücher sind voll von solchen poetischen Quantifizierungen, die er als Notizen für ein Quintett von Artikeln benutzte. Sie erschienen in »Nature« und handelten allesamt von meteorologischen Themen. Die ersten beiden, von November 1882 bzw. November 1883, sind Briefe über Antikrepuskularstrahlen (Wolkenschatten, die am Abendhimmel gegenüber der Sonne erscheinen), die anderen drei befassen sich mit den Krakatau-Sonnenuntergängen, die dem melancholischen Hopkins anscheinend eine dringend nötige Quelle der Ablenkung verschafften.

Mit diesem Interesse stand er nicht allein; überall in der Welt reagierten Schriftsteller, Künstler und Wissenschaftler auf das Drama der vulkanischen Himmel. Die Dichter Algernon Swinburne, Robert Bridges und Alfred Tennyson (damals Poeta Laureatus) verfaßten überlange, von den außergewöhnlichen Dämmerungszuständen inspirierte anschauliche Strophen, auch wenn, wie der Historiker Richard Altick sagte, »die einzige gute Poesie, die aus diesen Himmelsschaustellungen hervorging, sich in Hopkins‘ Prosa findet«. Das ist eine gerechte Einschätzung, wenngleich ich selbst eine stille Vorliebe für Tennysons Blankvers-Annäherung an die Tonlagen der Viktorianischen Populärwissenschaft habe:

 

War die Glutasche eines glühenden Gipfels

So hoch geschleudert worden, daß sie überm Erdball lag?

Denn Tag für Tag, an manch blutrotem Abend …

Gleißte der grimm‘ge Sonnenuntergang …

 

Auch Bildende Künstler merkten, wie sie in ehrfürchtigem Wetteifern mit dem Himmel ihre Farbskalen erweiterten. Der Maler William Ashcroft zeichnete Abend für Abend Pastellskizzen vom Themseufer in Chelsea und konstatierte enttäuscht, er könne »bloß in einer gleichsam chromatischen Kurzschrift den Kern des Effekts festhalten, da so vieles von der Schönheit der Abendröte aus Konzentration besteht«. Über fünfhundert dieser stark getönten Pastellzeichnungen wurden im Science Museum ausgestellt, in dessen Magazinen sie noch heute liegen, wenig bekannt und selten gesehen.

In Oslo hingegen inspirierten die Sonnenuntergänge eines der bekanntesten Gemälde der Welt. Edward Munch ging eines Abends mit zwei Freunden auf der Straße spazieren, als die Sonne durch den Dunst unterging: »es war, als würde ein flammendes Schwert aus Blut das Himmelsgewölbe aufschlitzen«, erinnerte er sich; »der Himmel wurde blutrot – mit gleißenden Feuerzungen – die Hügel wurden blauschwarz – der Fjord dunkelte zu kaltem Blau – zwischen den gelben und roten Farben - dem grellen Blutrot – auf der Straße – und dem Geländer – wurden die Gesichter meiner Gefährten gelb-weiß – ich fühlte so etwas wie einen großen Schrei – und wirklich hörte ich einen großen Schrei.« Sein Bild »Der Schrei« (1893), von dem er mehrere Versionen malte, ist ein bleibendes (und oft plagiiertes) expressionistisches Meisterwerk, eine Vision leidvoller menschlicher Verlassenheit unter einem apokalyptischen Himmel, als »ein großer nicht endender Schrei durch die Natur«. Und wirklich war die letzte Eruption auf Krakatau am 27. August 1883 das lauteste je aufgezeichnete Geräusch; es pflanzte sich beinahe 5000 km weit fort und war auf fast einem Zehntel der Erde zu hören: wahrlich ein großer Schrei.

Was Hopkins betraf, so fiel die Publikation seines Krakatau-Essays mit dem willkommenen Angebot einer Klassik-Professur in Dublin zusammen. Im Februar 1884 verließ er Lancashire, erleichtert, entkommen zu sein. Doch das dauerte nicht lange. Heimwehkrank, einsam und überanstrengt, erlag Hopkins seiner wohl schwersten Depression; sein Elend zeigt sich in den »schrecklichen« Sonetten von 1885 ("Ich wache auf und fühle den Anbruch des Dunkels, nicht des Tages«). Im Juni 1889 starb er, vierundvierzigjährig, an Typhus; er wurde in einem anonymen Grab beigesetzt. Nur sein enger Freund Robert Bridges erkannte seine dichterische Größe, und die meisten seiner Werke wurden erst nach 1918 veröffentlicht. Bis auf eine Handvoll in unbekannten Zeitschriften abgedruckter unbedeutender Gedichte sind die fünf Artikel in »Nature« tatsächlich das einzige von Hopkins, das zu seinen Lebzeiten erschien.

Aus dem Englischen von Heide Lipecky

 

 

SINN UND FORM 3/2014, S. 375-378