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Heftarchiv – Leseproben

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[€ 9.00]  ISBN 978-3-943297-12-6

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Leseprobe aus Heft 3/2013

Frahm, Thomas

»Ein guter Mann, leider gehört er nicht zu uns«
Georgi Markovs Exilreportagen über Bulgarien


Am 15. Juni 1969 setzte sich Georgi Markov, erfolgreicher Autor von Romanen, Novellen, Erzählungen, Drehbüchern und Theaterstücken – nicht zu verwechseln mit dem russischen Romancier Georgi Mokejewitsch Markow –, nach der abgebrochenen Vorpremiere seiner Komödie »Ich war Er« ans Steuer seines BMW 1800 und verließ auf Anraten Stefan Tsanevs die bulgarische Hauptstadt Sofia in Richtung der jugoslawischen Grenze. Tsanev, selbst Dramatiker, war Mitglied des künstlerischen Beirats, der über Annahme oder Ablehnung des Stücks zu entscheiden hatte. Er befürchtete Schlimmes von den Genossen in der Kommission und empfahl seinem Freund, Bulgarien für eine Weile zu verlassen, bis sich die Aufregung gelegt hätte. Markov beschloß, die Gelegenheit für einen seit langem geplanten Besuch bei seinem jüngeren Bruder Nikola zu nutzen, dem er dank seiner Privilegien als Mitglied des Bulgarischen Schriftstellerverbands bei der Ausreise nach Italien hatte helfen können. Nun fuhr er also selbst in die Emigration. Er ahnte nicht, daß er seine Heimat nie wiedersehen würde. Und auch nicht, daß er mit seinen vierzig Jahren keine zehn Jahre mehr zu leben hatte.

Bei dem handverlesenen Publikum war die geschlossene Vorstellung im Satirischen Theater Sofia ein voller Erfolg gewesen. Doch so unbändig man im Parkett über die Dummheit und Kriecherei des Helden gelacht hatte, der sich wegen seiner beflissenen Parteitreue vor Säuberungen sicher wähnte, so unbändig war die Wut der Funktionäre auf den Rängen. Schließlich hatten sie die Aufführung gestoppt.

Für Georgi Markov war es nicht die erste Erfahrung dieser Art. Der wegen seines Gespürs für Themen der Zeit von den Sozialisten umworbene Autor war damit beauftragt worden, zum 25. Jahrestag der kommunistischen Machtergreifung mit zwei älteren, in Bulgarien berühmten Kollegen ein Stück zu schreiben, um die Rolle der bulgarischen Partisanen propagandistisch ins rechte Licht zu setzen. Die Machthaber versuchten damals mit allen Mitteln, der patriotisch gesinnten Bevölkerung klarzumachen, daß der »Sieg über den Faschismus« 1944 nicht durch den Einmarsch der Roten Armee erzwungen, sondern maßgeblich vom eigenen Volk erkämpft worden sei. Die Autoren erhielten sogar Zugang zu geheimen Parteiarchiven. Markovs Kollegen wurde die Sache bald zu heikel; sie traten von dem Auftrag zurück. Er selbst hingegen, der bodenständige Idealist, eingeschworen auf die Wahrheit, die erfahrungsgemäß immer vom Ideal abwich, ging ein halbes Jahr lang täglich ins Archiv und vertiefte sich in Vernehmungsprotokolle. Die Partisanen waren oft im Gefängnis gewesen und gefoltert worden, weil Bulgarien im Frühjahr 1941 Hitlers Dreimächtepakt beigetreten war und letztlich den Weisungen aus Berlin zu folgen hatte. Doch die Männer, deren Aussagen Markov zu lesen bekam, waren meist naive Habenichtse, Draufgänger, Abenteurer, Verbrecher. Was also tun, um nicht selbst den Kopf in die Schlinge zu legen?

Markov beschloß, sich jeder Deutung zu enthalten und sein Stück »Kommunisten « fast ganz aus Zitaten zu montieren, eine Technik, mit der er auch aus westlicher Sicht auf der Höhe der Zeit war. Doch den hohen Genossen gefiel das ganz und gar nicht, so daß sie das bereits inszenierte Stück vom Spielplan nahmen.

Ohne den Prager Frühling, an dessen Niederschlagung im August 1968 sich Bulgarien mit der Entsendung von Wachtruppen beteiligt hatte, wäre man vielleicht weniger empfindlich gewesen. Doch der Aufstand der Tschechen und Slowaken unter Dubček war allen noch im Gedächtnis, und in den oberen Etagen der Macht regierte die Angst. Das Beben in Prag hatte in den Satellitenstaaten der Sowjetunion unerwartet starke Druckwellen ausgelöst, auch im angeblich moskauhörigen Bulgarien. Der Westen pflegte die Shivkov-Regierung mit der Bevölkerung gleichzusetzen, doch davon konnte, wie sich seit der Öffnung der Staatsarchive 2007 gezeigt hat, keine Rede sein. Auch in Bulgarien gab es aufmüpfige Intellektuelle und Bürger mit Zivilcourage, die die Kommunisten daran erinnerten, daß sie mit der Unterzeichnung des Pariser Friedensvertrags am 10. Februar 1947 auch die Menschenrechte anerkannt hatten, und der Führung mit regimekritischen Aktionen das Leben schwermachten. Die im Gefolge der Entstalinisierung gelockerten Zügel wurden wieder angezogen, die Zensur verschärft, die Staatssicherheit, vor allem die Politische Polizei, massiv aufgerüstet. Eine Komödie über die Unterdrückungsmechanismen der Partei konnte man nun wirklich nicht gebrauchen.

Rückblickend ist man erstaunt, wie viele »Fehlversuche« man Markov durchgehen ließ, ehe Shivkov geseufzt haben soll: »Ein guter Mann, leider gehört er nicht zu uns.« Man kann sagen, daß sein ganzer Erfolg auf einem Mißverständnis beruhte. Gegen den Kommunismus an sich hatte er nichts, wohl aber dagegen, wie diese Idee von einer machtgierigen Clique instrumentalisiert und zur eigenen Bereicherung benutzt wurde. Markov war nicht auf herkömmlichem Wege Schriftsteller geworden, sondern hatte nach dem Abitur Chemie studiert und anschließend als Chemieingenieur gearbeitet. Seine Entscheidung für die Literatur hatte aber wohl nicht nur mit seinem Interesse an den Künsten zu tun, sondern auch mit der 1948 diagnostizierten Tuberkulose, einer Armutsfolgeerkrankung, die im erst von der Wehrmacht, dann von der Roten Armee heimgesuchten und schließlich von Reparationen gebeutelten Bulgarien grassierte. Markovs Odyssee durch Sanatorien dauerte mit Unterbrechungen fünfzehn Jahre; viel Zeit nicht nur zum Lesen und zu ersten Schreibversuchen, sondern auch, um von anderen Kranken unzählige Geschichten zu hören und ihre Liebe zum Leben und zur Wahrheit kennenzulernen. 1958 wurde er, der mittlerweile Berufsschullehrer am Keramischen Polytechnikum war, mit 29 frühpensioniert. Seither legte Markov eine geradezu beängstigende literarische und publizistische Produktivität an den Tag.

Schon sein erster Roman »Das Dach« (1959) über den Ausbau des später in Stomana umbenannten Metallurgiekombinats Lenin in Pernik westlich von Sofia behandelte die Kluft zwischen Propaganda und Wirklichkeit. Markov schilderte nicht die heroischen Leistungen eines Volkes, das für den Sozialismus über sich hinauswuchs, sondern den (tatsächlich geschehenen) Einsturz des unsachgemäß erbauten Dachs der neuen Produktionshalle. In der Volksrepublik Bulgarien bestimmten nämlich nicht Fachleute, was und wie gebaut wurde, sondern Parteileute, die die jeweilige Parteilinie notfalls auch gegen jede produktionsökonomische Vernunft durchsetzten. Markovs Roman wurde kurz vor der Auslieferung zurückgezogen und eingestampft. Erst 2007 gab ihn der Siela-Verlag in Sofia neu heraus.

Wie groß der Bedarf an politisch glaubwürdigen Schriftstellern war und wie sehr insbesondere Todor Shivkov bereit war, sie zu hofieren, zeigte sich daran, daß Markovs nächster Roman »Männer« vom Bulgarischen Schriftstellerverband 1962 zum »Roman des Jahres« gekürt wurde. Zudem erhielt er für seine Schilderung dreier Männer, die vom Wehrdienst zurückkehren und sich mit gesellschaftlichen Unzulänglichkeiten und Zwängen herumschlagen, die Vollmitgliedschaft im Verband, während andere selbst auf den sogenannten Kandidatenstatus oft jahrelang warten mußten. Markov hatte zeigen wollen, wie fatal sich die von den Parteikommunisten geweckte Doppelmoral auswirkte, weil sich keiner mehr für seine Arbeit verantwortlich fühlte; die Partei aber fand in dem Roman den Beweis, daß nicht das System den Menschen verderbe, sondern der Mensch noch nicht reif für das System sei! Mit anderen Worten: Mißstände waren für sie nicht strukturell, sondern individuell bedingt und rechtfertigten daher die Mittel, welche die Partei zur Erziehung des neuen, sozialistischen Menschen für angezeigt hielt.

Was die Mitgliedschaft im Bulgarischen Schriftstellerverband bedeutete, kann man sich heute kaum mehr vorstellen; es ging erheblich über das in den Verbänden der sozialistischen Bruderländer Übliche hinaus. Zu den Privilegien gehörte die Möglichkeit, einen Reisepaß zu erwerben, wodurch es Markov überhaupt erst möglich wurde, Bulgarien 1969 zu verlassen. Zudem wurde dem Autor eine Festanstellung als Redakteur garantiert. Markov erhielt eine Halbtagsstelle beim Verlag Narodna Mladezh (Volksjugend), die aber wie eine Vollzeitstelle bezahlt wurde. Für Buchprojekte konnte man eine halbjährige, durch ein Stipendium zusätzlich geförderte Auszeit beantragen und sich in die Ferienheime des Schriftstellerverbandes in den Bergen oder am Schwarzen Meer zurückziehen, wo man für eher symbolische Beiträge in Vollpension lebte. In Sofia wurde Verbandsmitgliedern selbst während der größten Wohnungsnot (infolge der Bombardierung durch die Alliierten 1944 und des starken Zuzugs vom Land) eine standesgemäße Wohnung zugeteilt. Ein Privat-Pkw, auf den Normalbürger oft mehr als zehn Jahre warten mußten, sofern sie das Geld zusammensparen konnten, war kein Problem, und im Verbandsrestaurant gab es Dinge zu essen und zu trinken, von denen das Proletariat bestenfalls träumen konnte. Die Finanzierung des Verbands erfolgte nicht nur durch staatliche Zuwendungen, sondern auch dadurch, daß vom Ladenpreis jedes in Bulgarien verkauften Buches zwei Prozent abgezogen wurden, ganz gleich, ob dieses von einem bulgarischen oder von einem ausländischen Autor, einem Verbandsmitglied oder einem »freien« Schriftsteller stammte.

Doch das vielleicht größte Privileg bestand darin, daß der Beitritt selbst als Universitätsabschluß gewertet wurde, so daß man sich für höhere Aufgaben in der staatlichen Verwaltung bewerben oder Universitätsdozent werden konnte. Der Bulgarische Schriftstellerverband war also keine gewerkschaftsähnliche Interessenvereinigung wie der deutsche VS und auch kein einfacher Berufsverband, sondern ein unmittelbar dem Politbüro unterstellter staatlicher Arbeitgeber mit Behördenstatus, vergleichbar mit einer Fakultät an einer staatlichen Hochschule oder einem Ministerium.

Markovs Freude am Erfolg, an Begegnungen mit Vertretern des Zentralkomitees, des Politbüros, mit Stasi-Mitarbeitern und anderen einflußreichen Vertretern der Nomenklatura ist schlecht zu verstehen, wenn man sein früheres Leben nicht berücksichtigt, das alles andere als den Aufstieg in die höchsten Kreise verhieß. Geboren wurde Georgi Ivanov Markov am 1. März 1929 in Knyazhevo, einem kleinen Vorort (heute Stadtteil) von Sofia, der sich an das Witoscha- und das Ljulingebirge schmiegt. Sein Vater war Feldwebel, ein strenger und unnachsichtiger Patriarch. Sein Vetter Ljuben Markov erzählte dem bulgarischen Filmemacher und Produzenten Alexander Donev 2011 eine Anekdote aus der Kindheit des Autors: »Georgi hatte schon als Kind einen starken Hang zu Büchern. Ich kann davon erzählen, wie sein Vater eines Morgens um fünf aufstand und Georgi in der Küche beim Lesen ertappte. Aber wie: Die Glühbirnen waren damals schwach, und so hatte Georgi einen Stuhl auf den Tisch gestellt, um gleich unter der Lampe zu sein. Er hatte die ganze Nacht nicht im Bett gelegen. Sein Vater fragte: ›Warum lebst und schläfst du nicht wie normale Leute?‹ Dann nahm er Georgis sämtliche Bücher und warf sie in den Ofen!«

Doch Vorwürfe oder gar Spuren eines Traumas sucht man in den erhaltenen Briefen Markovs an die Eltern vergeblich. Er beugte sich dem Wunsch des Vaters, er möge einen praxisnahen Beruf erlernen, und wäre vielleicht auch dabeigeblieben, hätte die Tuberkulose ihn nicht aus der Bahn geworfen.

[...]

 

 

SINN UND FORM 3/2013, S. 406-410