Leseprobe aus Heft 2/2013
Lange, I. M.
MEIN FREUND WALTER BENJAMIN
Vorbemerkung
Immer wieder tauchen unbekannte Quellen zu Walter Benjamin auf. In den letzten zehn Jahren gehörten Briefe aus der Promotionszeit in Bern dazu, eine Postkarte an Ernst Bloch, Aufzeichnungen zum Spracherwerb seines Sohnes Stefan, ein umfangreiches Konvolut mit Notizen, Exzerpten und Briefentwürfen aus dem Pariser Exil, die unter Zeitungsausschnitten im Moskauer Sonderarchiv verborgen waren, und manches mehr. Die meisten Entdeckungen verdanken sich der Arbeit an der neuen kritischen Gesamtausgabe und werden dort auch zugänglich gemacht, was nicht heißt, daß ihr Erkenntniswert sich in Philologischem erschöpfte. Im jüngst erschienenen Band »Kritiken und Rezensionen« finden sich mehr als zweihundert Seiten bislang ungedruckter Entwürfe und Fassungen von Besprechungen. Die Dokumentation der Kontexte befreit Benjamins Rezensententätigkeit vom Vorurteil der Brotarbeit und macht sie als eines der Zentren seines Werks begreifbar. Die bevorstehende Edition des Werkkomplexes »Berliner Chronik"/"Berliner Kindheit« rückt die Gedächtnisarbeit, die Benjamin mit seinen Kindheitserinnerungen verfolgte, in ein völlig neues Licht, weil erstmals die Konstruktion des Ganzen zu sehen ist.
Neue Zeugnisse zur Biographie des Schriftstellers sind indes nicht gerade zu erwarten. Es scheint, als sei das, was Freunde und Zeitgenossen über Benjamin erzählen wollten, von diesen selbst publiziert oder mittlerweile annähernd lückenlos aus Nachlässen zutage gefördert worden. Mit beträchtlichem Gewinn: die Erinnerungen an Benjamin halten sein Bild lebendig. Allen voran Gershom Scholems »Geschichte einer Freundschaft « (1975), die große, aus der Sicht des Jerusalemer Freundes geschriebene Biographie, dazu in den sechziger Jahren für den Rundfunk aufgenommene Erzählungen von Ernst Bloch, Theodor W.Adorno, Max Rychner und Jean Selz, ferner Berichte und Erinnerungen von Asja Lacis, Hannah Arendt, Bernard von Brentano, Charlotte Wolff, Gisèle Freund, Adrienne Monnier, Max Aron, Hans Sahl und Lisa Fittko, um nur die wichtigsten zu nennen.
Es mag verblüffen, daß mit dem Text von I.M. Lange Unbekanntes jetzt von einem DDR-Literaturkritiker kommt, einem Mann, der sich gegenseitiger Wertschätzung, ja Freundschaft mit Benjamin rühmt, obwohl sein Name im Benjamin-Zusammenhang bisher nur eine Randnotiz war. Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Erinnerten sind jedoch rasch zu zerstreuen. Lange weiß aus erster Hand zu erzählen. Sein Blick auf Benjamin ist ungeachtet seiner politischen Borniertheit direkt und unverfälscht.
Johann (Hans) Friedrich Lange, der sich Johann Melchior Lange, I.M. Lange, kurz: I.M.L., nannte, wurde 1891, ein Jahr vor Benjamin, in Berlin geboren. Sein Vater war Goldschmied und handelte mit Immobilien; »man gehörte zum mittleren Bürgertum«, beschrieb der Sohn seine Herkunft, die ihm offenbar Freiheiten gab. I.M. Lange brach die Schule ab und begann eine Ausbildung: zunächst an der Königlichen Bauschule in Dresden, sodann als Volontär einer Potsdamer Buchhandlung, schließlich als Verlagskaufmann. Er machte 1911 in Wismar die Bekanntschaft von Georg Heym und 1914 die von Franz Pfemfert, der 1916 in seiner Zeitschrift »Aktion« unter dem Pseudonym HALA ein expressionistisches Gedicht des mittlerweile im Kriegsdienst stehenden und als Feldbuchhändler eingesetzten Lange publizierte. Bis in die frühen zwanziger Jahre hatte er engeren Kontakt zu Carl Zuckmayer, der in seinen Lebenserinnerungen »Als wär’s ein Stück von mir« erzählte, daß Lange »ganz in der Geisteshaltung der russischen Vorkriegs-Anarchisten« lebte. Ihren Schriften war Lange 1914 in der Königlichen Bibliothek, Unter den Linden, begegnet, wo er in der Musikabteilung volontierte. Zuckmayer hatte Lange als Verkäufer in einer Feldbuchhandlung kennengelernt und war durch ihn auf Bakunin, Alexander Herzen, Kropotkin und Stirner aufmerksam geworden. In dem verschmuddelten Lädchen des hageren Buchhändlers hätten neben vaterländischen Romanen »sämtliche revolutionär gestimmte Broschüren und Zeitschriften dieser Tage« gelegen. Unter den Versen des Freundes gab es Zuckmayer zufolge »manche von merkwürdiger Schönheit«. Lange lebte längere Zeit in Heidelberg und Westfalen, später wieder in Berlin, er arbeitete als Antiquar und Bibliothekar. 1927 erschien sein Gedichtband »Frank und Sebastian«. Zwei Jahre später trat Lange in die KPD ein. Er lehrte am Bauhaus in Dessau und in der Marxistischen Arbeiterschule (MASCH), schrieb unter dem Kürzel iml für die »Rote Fahne« und war Lektor und Korrektor bei Publikationen der Münzenberg-Verlage. In Dessau lernte er 1930 die Bauhausschülerin Annemarie Wimmer kennen, das Paar heiratete 1938; Annemarie Lange schrieb später vielfach aufgelegte kulturhistorische Berlin-Bücher. Während des Krieges war I.M. Lange als Hilfsbibliothekar und Hilfsarbeiter tätig. In der DDR machte er spät noch Karriere im Verlag Volk und Wissen, wo er politisch für die gesamte Schulbuchproduktion verantwortlich war, in der SED-Parteihochschule und am Zentralinstitut für Bibliothekswesen. Er promovierte noch als Sechzigjähriger mit einer Arbeit über die gesellschaftlichen Beziehungen in Fontanes Romanen, gab eine Dokumentation zeitgenössischer Quellen zur Revolution von 1848 heraus, die erste Fontane-Ausgabe bei Aufbau, Bücher von Heine, Hauff und Alexis, er verfaßte Monographien und Kommentare zu Leibniz, Fallada und Thomas Mann, Aufsätze und Rezensionen. 1970 wurde er zum Professor ernannt. I.M. Lange starb 1972 in Berlin.
Den hier erstmals veröffentlichten Auszug aus Langes Memoiren und die Daten zur Biographie des Verfassers stellte Hartmut Pätzke zur Verfügung, dem an dieser Stelle herzlich für den Hinweis auf den teilweise handgeschriebenen Text sowie dessen Transkription und Kollation gedankt sei. Das Manuskript entstand in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre, Korrekturvermerke verweisen auf das Jahr 1963. Es umfaßt 500 Seiten und liegt heute in Langes Nachlaß, den die Handschriftenabteilung der Berliner Staatsbibliothek aufbewahrt. Lediglich ein Auszug, der Erinnerungen an die Novemberrevolution enthielt, war 1958 in der »Neuen Deutschen Literatur« veröffentlicht worden. Lange war enttäuscht, daß sein Lebensbericht offenbar nicht auf das von ihm erhoffte Interesse stieß. Der für unseren Abdruck gewählte Titel geht auf einen hier nicht gedruckten Satz aus Langes Manuskript zurück, wo es heißt: »ich denke an meinen lieben Freund Walter Benjamin, der in diesem Bericht erst später auftreten wird«. An einer anderen Stelle spricht er von Freunden, die ihn in Heidelberg besuchten, und schreibt, Benjamin sei ihm immer der »werteste« gewesen.
Die Bekanntschaft begann in den frühen zwanziger Jahren, als Benjamin in Heidelberg lebte, Baudelaire übersetzte und eine Zeitschrift mit dem Titel »Angelus novus« herausgeben wollte. Nach Langes Angaben gab es auch in Berlin in den späten zwanziger und vermutlich in den frühen dreißiger Jahren noch Begegnungen. Der einzige unmittelbare Niederschlag der Begegnung bei Benjamin ist dessen Nachfrage in einem Brief an seinen Verleger Richard Weißbach vom 4. September 1923: »Von Lange höre ich nichts. Wissen Sie etwas von ihm?« 1928 besprach Lange Benjamins bei Rowohlt erschienene Bücher »Einbahnstraße« und »Ursprung des deutschen Trauerspiels « in der »Weltbühne«. Die »Einbahnstraße« rühmte er als »Hauptverkehrsader neuern Denkens«, das Buch begründe eine Essayistik, »die in kürzester Weise den Extrakt ihres Stoffes lückenlos darbietet«.
Langes Erinnerungen sind nicht ohne Irrtümer chronologischer und sachlicher Natur: So hat Benjamin erst während des Ersten Weltkrieges Zugang zur Heidelberger Intelligenz gefunden. Der frühe Hölderlin-Aufsatz ist nicht in einer der Jugendschriften vor dem Krieg gedruckt worden. Benjamin publizierte in der Zeitschrift »Der Anfang«, die nicht von Ernst Joël geleitet wurde, nicht aber in dessen »Aufbruch«. Benjamin und Scholem studierten nicht in Zürich, sondern in Bern. Nicht Jonas Fränkel, sondern Richard Herbertz war Benjamins Doktorvater, seine Dissertation widmete sich nicht dem »Problem«, sondern dem »Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik«, als Habilitationsschrift reichte er selbstverständlich nicht nur die Einleitung seiner Studie »Ursprung des deutschen Trauerspiels« ein, der Moskau-Aufsatz erschien in Bubers Zeitschrift »Die Kreatur«, nicht in der »Sammlung« usw. Es würde zu weit führen, hier weitere Fehler zu korrigieren. All das ist für Lange nicht entscheidend gewesen. Er verfaßte seine Memoiren aus dem Gedächtnis, war sich bei der Namensschreibung und bei manchem Detail nicht sicher und hielt es auch nicht für nötig, sich darüber Gewißheit zu verschaffen – etwa durch Anfrage bei Gershom Scholem, der, als Lange sich an ihn erinnerte, in Jerusalem lebte.
Es kann uns auch nicht um Langes eigenwillige, teils aberwitzige Wertungen gehen – etwa die literarhistorische, Benjamin sei einer der Propagandisten des Expressionismus, oder die charakterliche, Benjamin sei ein »vor lauter Schüchternheit leicht boshaft werdender Mensch« gewesen. Achtet man jedoch auf unbekannte Sachinformationen und Nebentöne, wird man diese Abschnitte aus Langes Memoiren nicht ohne Gewinn lesen. Wie es Benjamin gelang, vom Kriegsdienst befreit zu werden, ist in zahlreichen, teils einander widersprechenden Anekdoten überliefert. In den ersten Augusttagen 1914 will er sich – »keinen Funken Kriegsbegeisterung im Herzen« – mit Freunden aus der Jugendbewegung freiwillig gestellt haben, um unter Gleichgesinnten bleiben zu können. Nach dem Tod seines Freundes Fritz Heinle suchte Benjamin phantasiereich nach Auswegen. Ihm, Bloch, Scholem und vielen anderen half die Flucht in die Schweiz, und dennoch hatte Benjamin immer wieder vor den Musterungsbehörden zu erscheinen. Scholem wußte, daß es Benjamin gelungen war, sich als »Zitterer« zu präsentieren, und so wurde er vom Militärdienst freigestellt. Diese Version berührt sich mit den erst kürzlich zugänglich gewordenen Erinnerungen von Rudolph E.Morris, einem Kommilitonen, der Benjamin vor einer Musterung getroffen und von ihm erfahren haben will, daß er so viel starken Kaffee getrunken hätte, daß die Einberufungsbehörde ihn wegen erhöhter Herzfrequenz zurückgestellt habe. Langes Version kennen wir von Scholem, dem Benjamins Ehefrau Dora anvertraut hatte, daß sie durch Hypnose ischiasähnliche Symptome bei ihm hervorrufen konnte, wobei erst Langes Bericht deutlich macht, daß die Ischiassymptome, über die Benjamin noch monatelang klagte, nicht simuliert waren.
Lange kannte Benjamins Arbeiten: nicht nur die zur Zeit des Umgangs mit ihm zugänglichen wie die Dissertation, den Essay »Goethes Wahlverwandtschaften«, die Bücher »Einbahnstraße« und »Ursprung des deutschen Trauerspiels«, die Aufsätze in der »Literarischen Welt«, sondern auch spätere. Prominentes Beispiel sind die Thesen »Über den Begriff der Geschichte«, auf die Lange mit dem Satz hinweist, Benjamin habe Paul Klees »Angelus novus« sogar eine eigene Abhandlung gewidmet (mit dem Titel »Kriegszug« meint Lange Klees Tuschezeichnung »Die Vorführung des Wunders« von 1916, die Benjamin 1920 von Dora zum Geburtstag geschenkt bekommen hatte). Offenbar war Langes Begegnung mit Benjamin so intensiv gewesen, daß er sich noch nach Jahren an diesen Büchermenschen genau erinnern konnte, an seine Denk- und Schreibweise, seine Art, Gedichte zu sprechen, seine Erfahrungen in Moskau. Manchem ist nachzugehen – etwa der Erwähnung von Alfred Seidel und Karl Hildebrand Silomon, deren Namen im Umkreis Benjamins unbekannt sind, oder dem Hinweis auf die frühe Lektüre der Marx-Schrift »Zur Judenfrage«; sie ist wahrscheinlich, weil 1923 ein Auszug in der »Roten Fahne« für Diskussionen gesorgt hatte (in den Passagenaufzeichnungen zitiert Benjamin die Schrift nach der ersten Marx-Engels-Gesamtausgabe von 1927). Aus dem Abstand von fast vier Jahrzehnten betonte Lange jedoch das Trennende und Fremde. Näher an den Geist Benjamins heranzutreten verbot das ideologische Rüstzeug, das Lange sich auf seinem Weg durch die kommunistischen Institutionen erworben hatte. Er beschreibt Benjamin als einen am Rande der Gesellschaft stehenden Einzelgänger, als einen, der, wie es in einer hier nicht abgedruckten Passage heißt, zu den Kindern gehörte, bei denen der Aufenthalt in einem Landerziehungsheim ein »Trauma der Hochempfindlichkeit« hervorgerufen habe. Seine alte Bewunderung für den Freund gestand Lange nur unter Zögern ein, weil Benjamin in den fünfziger und frühen sechziger Jahren im Umkreis der DDR-Volksbildung kein unverdächtiger Gewährsmann war. So kommt es zu einer ambivalenten Haltung: Lange, der von Benjamin ohne Frage beeindruckt war, hält ihn jetzt auf Distanz. Man hat den Eindruck, der Memoirenschreiber müsse seiner eben erst eingestandenen Bewunderung unverzüglich Einhalt gebieten.
Dafür eignet sich am besten der Gestus des Tadels: Benjamin merkte nicht, »worauf es hinauslief«, er verstand kaum, »was da in Wahrheit vorging«, Menschen wie dieser würden »vor unserer Zeit nicht ganz bestehen«, sie könnten, »was wir wollen, gar nicht begreifen«. Das ist schon etwas heftiger als die in Nachworten zu sogenannten bürgerlichen Texten üblichen Beschwörungsformeln, mit denen Lange Benjamin ebenfalls bedachte: »Er blieb immer ein bürgerlicher Intellektueller, der sich kaum der klassenmäßigen Beschränktheit seines Denkens bewußt war, vielleicht auch, weil er mit dem, was er gelernt und sich erarbeitet hatte, einfach nicht weiter kommen konnte.« Zu Zurechtweisungen dieser Art paßt eine Rüge von Heinrich Mann, der 1934 Benjamins Essay »Der Autor als Produzent« als Ausdruck der »Patzigkeit der kommunistischen Literaten« empfand. Das mag gegenüber Benjamin ungerechtfertigt gewesen sein, für Lange hätte es gestimmt.
Bezeichnend ist ein Fauxpas am Ende des Textes. Lange führt den Bruch der Freundschaft mit Benjamin auf eine Zeit zurück, »in der es sich zu entscheiden galt«. Vielleicht meinte er damit gar nicht die Frage, ob man 1933 in Deutschland bleiben oder ins Exil gehen sollte, auch wenn der anschließende Satz genau das nahelegt: »Und das folgte dann auch bald, Benjamin ging nach Paris.« Beklemmend wird es da, wo Lange dem von den Nazis in den Freitod getriebenen jüdischen Intellektuellen nachsagt, Menschen wie Benjamin würden »höchstens ›zu Besuch‹ einmal bei uns einkehren und niemals ganz seßhaft werden können: einfach, weil ihnen die Möglichkeit, seßhaft zu werden, längst abhanden gekommen ist«. Das war in einem makabren Sinne wahr, Benjamins Besuch würde fortan ausbleiben. Und es mildert die Sache nur wenig, daß Lange derlei wohl eher gedankenlos notierte und dabei zugleich großmütig einräumte, solche Menschen würden »uns niemals feindlich gegenüberstehen«.
Erdmut Wizisla
SINN UND FORM 2/2013, S. 175-179