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Heftarchiv – Leseproben

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[€ 9.00]  ISBN 978-3-943297-05-8

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Leseprobe aus Heft 3/2012

Tophoven, Erika

»THE DOM IN NAUMBURG WAS STUPENDOUS»
Beckett 1937 in Mitteldeutschland


In meinen Kindertagen drang der Name Halle immer wieder an mein Ohr. Es war die Studienstadt meines Vaters und später meiner beiden älteren Schwestern. Ich selbst erinnere mich nur an den Bahnhof, wo ich als Zwölfjährige im Sommer 1943 einen Zug aus Hamburg vorbeifahren sah, vollgestopft mit Menschen, die dem Inferno des Großangriffs auf die Hansestadt entkommen waren.

Ich hätte mit Samuel Beckett im Verlauf unserer zahlreichen Zusammenkünfte in Paris zwischen 1957 und 1987 darüber sprechen können, aber von seinem Aufenthalt in Halle oder in den zwanzig anderen Städten, die er während seiner Deutschlandreise 1936/37 besuchte, war nie die Rede. Seine »German Diaries« wurden erst nach seinem Tod 1989 entdeckt. 2003 konnte ich die englische Originalfassung seiner Hamburger Aufzeichnungen transkribieren. Sie erschien in einer kleinen Auflage, graphisch gestaltet von Roswitha Quadflieg in der Raamin-Presse. Die Berliner Auszüge waren die Grundlage für mein 2005 beim Nicolai Verlag erschienenes Buch »Becketts Berlin«. Für das Folgende bilden Becketts Notizen über seine Aufenthalte in Halle, Weimar, Erfurt und Naumburg den Ausgangspunkt.

Halle

Der 23. Januar 1937 begann für Samuel Beckett in Halle an der Saale und endete in Weimar an der Ilm. Heinz Porep aus Halle, der für eine Nacht in derselben kleinen Pension wie Beckett in Berlin in der Budapester Straße 45 logierte, wo er offenbar Stammkunde war, hatte ihm zu dieser Unterbrechung seiner Rundreise geraten. Die beiden waren am letzten Abend von Becketts Berlin-Aufenthalt ins Gespräch gekommen, und es hatte sich schnell herausgestellt, daß dieser Bühnenbildner eine beeindruckende Persönlichkeit war. Met a grand stage decorator in love with Mexico, Traven & Darius Milhaud, schreibt Beckett am 25. Januar 1937 auf einer Ansichtskarte »Residenzschloß Weimar« an seinen Freund Thomas McGreevy in London. Man wüßte gern mehr über diesen Mann, der eine große Anziehungskraft auf Beckett ausübte, aber das wenige, was man über ihn in Erfahrung bringen kann, ist schon interessant genug. In love with Mexico: Ja, Porep war nach seinem Kunststudium in München und Weimar zu einer Mexikoreise aufgebrochen, wo er zufällig den sagenumwobenen Schriftsteller Bruno Traven kennenlernte und eine Zeitlang auf dessen Farm lebte. Traven wurde in Deutschland polizeilich verfolgt, wegen angeblicher Verbindungen zur Münchner Räterepublik. Er war nach Mexiko geflohen und, wie Porep feststellte, inzwischen voll und ganz mexikanisiert. Auch diesem gefiel die dortige Lebensweise, er sehnte sich danach zurück und erhielt sogar einen Filmauftrag der mexikanischen Regierung, den er jedoch wegen wiederholter Thrombose im Bein – eine schauderhafte Sache – nicht realisieren konnte. Freunde hatten ihn 1935 zur Rückkehr nach Deutschland überredet, weil er sich als Händel-Experte einen Namen gemacht hatte. In jenem Jahr fanden in Halle die ersten Händelfestspiele statt. Georg Friedrich Händel, 1685 in Halle geboren, ein Weltbürger, in Italien wie in England verehrt, ab 1727 englischer Staatsbürger und seit 1784 alljährlich mit den englischen Händel-Festen gefeiert, kam anläßlich seines 250.Geburtstags auch in seiner Heimatstadt zu Ehren.

Poreps Bekanntschaft mit Darius Milhaud geht vermutlich auf seine Zeit als Bühnenbildner in Baden-Baden zurück. Dort fand am 17. Juli 1927 ein Festival deutscher Kammermusik statt. Auf dem Programm stand die Uraufführung von Paul Hindemiths Kurzoper »Hin und zurück«, Dirigent Ernst Mehlich, Regie Walther Brügemann, Bühnenbild Heinz Porep. Am selben Abend kamen drei weitere Kurzopern zur Uraufführung »Die Entführung der Europa« von Darius Milhaud, Kurt Weills »Mahagonny-Songspiel« (mit Texten von Bertolt Brecht) und »Die Prinzessin auf der Erbse« von Ernst Toch.

Der vielseitig talentierte und welterfahrene Porep war offenbar eine charismatische Erscheinung. Am I altogether mislead or is he not altogether charming? notiert Beckett im Tagebuch. Porep kannte Maler, mit denen Beckett in Hamburg zusammengetroffen war, hatte enge Kontakte zu den Hallenser Kunstsammlern Marie und Felix Weise und machte Beckett auf die Expressionismus-Sammlung in der Staatlichen Galerie Moritzburg aufmerksam, die der ehemalige Museumsdirektor Max Sauerlandt von 1908 bis 1918 zusammengetragen hatte. Namen über Namen, die auf den jungen Deutschlandreisenden geradezu elektrisierend gewirkt haben müssen, hatte er doch kurz zuvor in Hamburg noch Sauerlandts Witwe kennengelernt. Beckett schildert seine Besuche bei ihr am 21. und 26. November 1936 in seinem Hamburger Tagebuch. In ihrer Wohnung sah er mehrere Bilder von Nolde, some lovely watercolours & etchings und Porträts der jüngsten Tochter, die während seines Besuchs im Nebenzimmer Klavier spielte: admirable pianistics from daughter in next room, Bach & Beethoven. Er erwähnt ferner 4 excellent S.-Rottluff Aquarellen, a lovely Kirchner Aquarell & a Ballmer.

Mit Porep gab es so viele Gemeinsamkeiten, daß Beckett sich spontan entschloß, das Gespräch mit ihm, der schon am nächsten Morgen in aller Frühe abgereist war, in Halle fortzusetzen und sich die Sammlung in der Moritzburg anzusehen. Es war die letzte Gelegenheit, denn der von den Nazis im Februar 1935 kommissarisch eingesetzte Museumsleiter Schiebel hatte gleich nach seinem Amtsantritt die Werke der »Verfallskunst« aus den Ausstellungsräumen entfernt und in einem abgeschlossenen Raum im Dachgeschoß untergebracht. Die »Schreckenskammer« diente Nazi-Funktionären zu Schulungszwecken. Wissenschaftlich interessierte Besucher mußten sich in einem vorgelegten Buch eintragen. Außerdem hatten sie zum Eintrittsgeld von 20 Pfennigen zusätzlich 20 Pfennige für die Besichtigung der nur bei künstlichem Licht gezeigten Bilder zu entrichten.
[…]

SINN UND FORM 3/2012, S. 348-364.