Leseprobe aus Heft 1/2012
Yourcenar, Marguerite
Der Goldwechsler
In Museen für alte Kunst begegnet man zwischen rot gewandeten Prälaten und gepanzerten Kriegern oft dem Porträt eines bescheiden in dunkles Tuch gekleideten Mannes, dessen Gesicht faltig wie eine Geldbörse oder verwischt wie ein abgegriffenes Goldstück ist. Außer einer kleinen Waage lenkt nichts den Scharfsinn der Vorübergehenden auf ihn. In Allegorien symbolisiert die Waage Gerechtigkeit: es kommt vor, daß man ein Schwert in eine der Waagschalen werfen kann. Beim „Wägen der Seelen“ im Tympanon der Kathedralen schwankt sie an einem Diamantbalken zwischen mächtigen Engelshänden. Doch hier handelt es sich um die Waage eines Goldwechslers. Es geht nicht mehr darum, nur feine, aber unbestimmte Sachen ins Gleichgewicht zu bringen, Regungen, Absichten, Gefühle, sondern in Material und Form genau bestimmte und für Ohren und Augen deutliche Gegenstände, die mit Bronze, Kupfer oder Silber aufgewogen werden. Lediglich Kleidung oder Maltechnik könnten uns Auskunft über das Datum der Priester- oder Soldatenporträts geben, da ja alle menschlichen Gesellschaften seit jeher Gegner und Götter haben. Doch der Kaufmann, der sich in seinem Kontor malen läßt, mit dem Gesicht zum Kunden, den für ihn der Betrachter darstellt, bezeichnet exakt den Beginn einer neuen Zeit. Neben den großen roten Schmetterlingen der christlichen Seele und den goldbehelmten Insekten, Vertretern einer entwickelten, in dieser Weltgegend weitverbreiteten Spezies, ist das kleine kümmerliche Wesen reich an Möglichkeiten. Es gehört zu den Larven der Zukunft.
Ob im feudalen Europa, im alten Indien oder in einem australischen Kral, primitive Siedlungen wirken homogen, beständig und außerordentlich geschlossen. Sie sind lokale Phänomene. Eine Zivilisation, in der die schweren Elemente Tradition und Familie dominieren, grenzt sich eifersüchtig von ihren Nachbarn ab, die nicht minder traditionalistisch und genauso abgeschlossen sind. Diese Siedlungen haben nur lose Beziehungen zueinander, meistens in Form von Überfällen und Strafexpeditionen, ist doch Lösegelderpressung eine der ältesten Arten des Austausches. Doch der Krieg, ein Mittel der negativen Erkenntnis, hat nur das Ziel, den Feind zu vernichten oder zu assimilieren: Indem der Sieg die siegreiche Siedlung über die anderen erhebt, festigt er oft deren Orthodoxie. Als es Kämpfe nur zwischen direkten Nachbarn gab, endete die Feldmark eines Dorfes einen Pfeilschuß weit hinter der Umwehrungsmauer, sofern der Ort nicht über seltene Handelsbeziehungen verfügte. Die Welt von damals ähnelt mittelalterlichen Bildern, auf denen ein paar Kaufleute ihre Maultiere über Bergpfade in einer zum Hinterhalt oder zum Gebet gemachten Landschaft vor sich hertreiben und befestigte Weiler, die sich über Täler und Flußbiegungen beargwöhnen, miteinander verbinden. Der Handel nötigt den Menschen hinauszuziehen, nicht nur für kurze Streifzüge, sondern zu Reisen; er gibt Völkern Bedeutung, die noch zu weit weg sind, um schon als Feinde bekannt zu sein. Wenn ein Wortspiel erlaubt ist, um die Wörter zumindest einmal auf ihren Ursprung zurückzuführen, könnte man sagen: Aus rein praktischen Gründen, die nichts mit Brüderlichkeit zu tun haben, begegnet der Händler dem orthodoxen Ideal des Priesters oder des Soldaten, dieser Hüter der geschlossenen Stadt, als einer der ersten mit einer katholischen Weltsicht.
Im Mittelalter, in diesem wie eine Pyramide aufgebauten Europa, das beim Bearbeiter der Erdscholle beginnt und beim Träger der Erdkugel endet, hat Vermögen nur in seiner beständigsten Form eine soziale Bedeutung: als Land. Aus Notwendigkeit, später aus Tradition, ist die Existenz des Leibeigenen mit dem oft unveräußerlichen Boden verknüpft, so daß der Begriff des Eigentums sich für den Lehnsherrn mit dem der Amtsgewalt über eine Sippe vermischt und Besitzen für ihn gleichbedeutend mit Herrschen ist. Diese Bauern- und Kriegergesellschaften, für die Geldvermögen noch eine relativ nebensächliche Form von Macht ist, haben die Eigenart, daß sie den Kaufmann entweder nicht kennen oder ihn verachten. Weder als Kapital noch als Arbeit, beides vermischt sich übrigens, regiert Geld die Welt: Es ist kaum eine Kraft und noch keine Macht. Unsere theoretische Moral beruht auf der Verachtung des Goldes und von Taten, die dem Erwerbstrieb entspringen; sie trägt Spuren dieser Zeit, als Gold eine neue und subversive Form von Macht war, verglichen mit älteren Gewalten, die fester begründet, schwerer zu erlangen, doch leichter zu bewahren sind, Gewalten, die militärische und mystische Macht sind. Die gesamte ökonomische und ein Teil der menschlichen Geschichte lassen sich als das langsame Eindringen der Gold- in die Eisenzivilisationen zusammenfassen.
Wie Bettler, Söldner und Apostel ist der Kaufmann anfangs ein Reisender, was, als Reisen noch ein Abenteuer war, vor allem Abenteurer bedeutete. Da er täglich mehr Raum für die gemeinsame Zivilisation braucht, die seinen Markt vergrößert, und den Lebensstil, der ihn erneuert, ist er Kosmopolit und Neuerer zugleich; in die allseitig verschlossene Welt der antiken oder mittelalterlichen Stadt bringt er zwei beunruhigende Elemente, Fremdartigkeit und Neuheit. Weit mehr als der Soldat, der eine siegreiche Sprache oktroyieren, oder der Priester, der eine heilige Sprache bewahren will, wird er durch seinen Beruf zum großen Polyglotten, bis er eines fernen Tages, selbst zur Macht geworden, sich eine internationale Sprache für seine Zwecke schafft. Sein Handel, der begonnen wurde, um ein paar sehr einfache Bedürfnisse zu befriedigen, versucht nun weitere Bedürfnisse zu erzeugen, um sie dann zu erfüllen. Er ist der Mann der komplizierter werdenden Zivilisationen, in denen der Zwischenhändler immer wichtiger wird. In Zeiten, in denen das Meer sicherer als die Straße und der Hinterhalt mehr als der Sturm zu fürchten ist, wo Waren leichter in Schiffsbäuchen als auf den Rücken von Lasttieren zu transportieren sind, ist er vor allem Seefahrer. Die Geschichte des Handels in der Alten Welt und die der großen Seehäfen vermischen sich fast. Smyrna und Tyrus, Venedig und Gent, Brügge und Amsterdam, Amphibienstädte, gehören zu jenen Metropolen, die nicht nur aus religiösen oder strategischen, sondern auch aus kommerziellen Gründen entstehen und eher Emporium denn Akropolis sind. So wie die ersten Lebensformen sich angeblich an den Küsten herausbildeten, sind auch diese ersten Versuche zu einer ganz neuen Gesellschaft dem Meeresufer geschuldet.
Betrachten wir auf der mittelalterlichen Landkarte diese nicht nur territorialen, sondern auch kapitalistischen Organisationen: die Kaufmannsrepubliken. Vor den Aktiengesellschaften GB und USA existierten schon die Aktiengesellschaften Venedig, Amsterdam und Lissabon-Ostindien. Gering an Zahl, mit einer Art geographischem Monopol versehen, an den Rändern Europas verstreut, zwischen auf Ackerbau und Krieg gegründeten Staatswesen eingekeilt, ging es ihnen weniger um das prekäre Gleichgewicht untereinander, das später Europas Monarchien erstrebten und heute seine Nationalstaaten herstellen wollen, als vielmehr darum, dem gewaltigen Druck der Nachbarreiche standzuhalten. Ihre Dauer bestimmten eher physische als politische Gründe: Der Niedergang des in feindlicher Symbiose mit Byzanz lebenden Venedig beginnt mit dem Zusammenbruch des griechischen Orients, so wie der Niedergang einer Insektenkolonie mit dem Absterben des Baums beginnt, von dem sie sich ernährt und den sie mit ausgehöhlt hat. Damit die Suprematie von Venedig auf Lissabon und von Lissabon auf Amsterdam überging, mußte die Achse der Straßen verlagert werden. Diese kleinen, von den Wechselfällen des Finanzwesens ständig neugruppierten und gleichsam vom Meer umwehten Patrizierwelten waren heroische Entwürfe der modernen Welt, Modelle der künftigen Kolonialmächte. Nach außen orientiert, auf Vermögen statt auf Kraft bedacht, entdeckten sie als erste, daß Vermögen eine Kraft ist. Mehr als andere in jenes riesige Unbekannte verwickelt, das die Griechen barbarisch und die Christen ungläubig nannten, zeigten sie beim Spiel der Ideen eine Toleranz, die sie bei ihren Handelsgesetzen und Gewerbegerichten nicht an den Tag gelegt hätten. Sie waren die ersten, die Ideen wie Tauschmittel veranschlagten, ebenso gewichtig wie Kupfer oder Gold, öfter wie Kupfer, unterschiedlich benannt und mit dem Bild weiser Männer geprägt. Noch nie hatte sich Gold als so formbar erwiesen wie in diesen kleinen, aber erfinderischen und klugen Staaten, welche die Welt zum Leben brauchten. In gewissem Maße, aber ganz anders als in den Legenden, sind das Venedig der Dandolo, das Florenz der Medici und das Augsburg der Fugger Vorausbildungen des Goldenen Zeitalters.
Man hat die Renaissance so oft durch ihre Künstler und Philologen erklärt, daß es gut wäre, sie auch einmal durch ihre Bankiers und Kaufleute zu erklären. Holbeins Goldwechsler ist der Schlaue in der Welt des 16. Jahrhunderts. Da kniet er noch aufrichtig vor Gott wie ein Stifter, erwartet von Glaubenswundern, was Leute wie er heute von wissenschaftlichen Entdeckungen erwarten: Wohlstand. Doch der Goldgrund der Kirchengemälde hat sich für ihn zu Schildtalern, Livres tournois und Rosennobeln verdichtet. Als Propaganda exportiert, gibt der Glaube dem Kaufmann in den neuen Ländern den Missionar zum Gehilfen. Im Mittelalter machte Venedig aus den Kreuzzügen ein frommes Werk und ein gutes Geschäft, eine Quelle für den Ablaß und einen Ausrüstungsvertrag, nicht viel anders als der Ritter, der sich davon das Seelenheil und eine Baronie versprach. In Amsterdam ist der Kaufmann dann Stütze und Nutznießer der Reformation zugleich. Der Glaube erzeugt demographische Strömungen, die diesem Seefahrer nützlich sind. Als Wucherer hat er sich an der Verarmung der Feudalherren infolge langer Lehenskriege bereichert; als Bankier rechnet er darauf, mit der Ausdehnung der Welt zu expandieren. Seine Töchter verheiratet er gut: eine Welser wird mit Österreich und zwei Medici werden mit Frankreich vermählt. Er besitzt das einstige Privileg von Freiherren und Heerführern: er macht Könige; auf deutschen Reichstagen fabriziert sein Gold Kaiser. Er hält es mit der Ordnung, für den Katholizismus gegen den Kommunismus der Lollarden, für den Protestantismus des Staates gegen den hussitischen Kommunismus. Kosmopolitischer und seßhafter geworden, zieht er nicht mehr mit den Ballen auf der Schulter über die Straßen; er schickt seine Botschafter. Er hat Flotten und hofft auf Armeen. Die kleinen Republiken verschwinden, Schalen, die sein Wachsen beschützten. Das 16. Jahrhundert verzeichnet den ersten Versuch zu einem ökumenischen Weltideal sowie die Anstrengungen des Geldmannes, der nicht mehr nur eine Kraft sein will und sich bemüht und es auch schafft, eine Macht zu werden.
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SINN UND FORM 1/2012, S. 9-18