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Heftarchiv – Leseproben

Leseprobe aus Heft 6/2010

Kienlechner, Sabina

»Unter dem Einfluß der bürgerlichen Ideologie«. Die »Aktionsgruppe Banat« in den Akten der Securitate


Die Verleihung des Nobelpreises 2009 an Herta Müller hat die Öffentlichkeit auf eine Gegend aufmerksam gemacht, von der bisher nur wenige etwas wußten: das rumänische Banat. Im Grenzgebiet zwischen Rumänien, Ungarn und Serbien gelegen, war dieser Raum seit dem 18. Jahrhundert von Deutschen besiedelt, hier war einst eine blühende bäuerliche Landschaft mit über einer viertel Million deutschsprachigen Einwohnern. Im zweiten Weltkrieg wurde diese Bevölkerung durch Deportation und Vertreibung stark reduziert, doch um 1950 herum lebten dort immer noch etwa 170000 Deutsche, es gab deutsche Schulen, deutsche Zeitungen, deutsche Theater, deutsche Verlage – und es gab eine rumäniendeutsche Literatur. In den siebziger und achtziger Jahren aber begannen die Banater Schwaben zu Zigtausenden auszuwandern, zumeist in die Bundesrepublik. Heute ist die Zahl der noch im Banat verbliebenen Deutschen verschwindend gering. Mit zu den Auswanderern gehörten die Schriftsteller; sie ließen sich im Westen nieder und verwandelten sich, so gut es ging, in bundesdeutsche Autoren. Die rumäniendeutsche Literatur schien nicht mehr zu existieren, um 1990 herum begann man, Nachrufe auf sie zu verfassen.
Auch die Tatsache, daß der Nobelpreis 2009 an eine rumäniendeutsche Autorin ging, hätte allein wohl nicht ausgereicht, das Phänomen wiederzubeleben. Doch im Hintergrund des Preises steht ein weit umfassenderes Ereignis, das die Geschichte dieser Literatur auf eine ebenso erschütternde wie erlösende Weise wieder aufscheinen läßt: die Öffnung der rumänischen Geheimdienstarchive. Bereits im Jahr 1999 war die CNSAS (Consiliul Nat¸ional pentru Studierea Arhivelor Securităt¸ii, eine Art rumänische Gauck-Behörde) gegründet worden, doch kam der Aufbau des Archivs nur schleppend und gegen diverse politische Widerstände in Gang. Im Jahr 2006 aber hieß es, die Übergabe der Akten an die CNSAS sei abgeschlossen. Etwa seit 2007 ist es für Betroffene, Journalisten und Forscher nicht mehr nur »theoretisch«, sondern tatsächlich möglich, Einsicht in die Akten zu nehmen. Angehörige des Instituts für südosteuropäische Forschung stießen im Frühjahr 2008 auf Akten, die der rumänische Geheimdienst über einigeMitglieder der »Aktionsgruppe Banat« angelegt hatte. Auch die übrigen Mitglieder sowie andere, ihnen nahestehende Schriftsteller begannen daraufhin, ihre Securitate-Akten anzufordern, und seitdem gelangen mehr und mehr Dossiers aus den Bukarester Archiven ans Tageslicht. Es scheint kaum einen rumäniendeutschen Schriftsteller zu geben, über den die Securitate nicht eine oder mehrere Akten geführt hat: Beobachtungsakten (dosar de problemă), Verfolgungsakten (dosar de urmărire informativă), Strafakten (dosar de urmărire penală) – und manchmal leider auch IM-Akten (dosar de ret¸ea). Den größten Raum nehmen die dosare de urmărire informativă (D.U.I.) ein, in denen die operativen Vorgänge zu den einzelnen Schriftstellern dokumentiert sind. Die Rubrik, der sie ungeachtet ihrer marxistischen Einstellung zugeordnet wurden, war: Deutsche Nationalisten und Faschisten. Die Frage, ob die Akten manipuliert wurden oder nicht, läßt sich nicht eindeutig beantworten. Es gibt Hinweise darauf, daß Passagen herausgenommen wurden. Das vorhandene Material ist jedoch so umfangreich, daß es in jedem Fall aussagekräftig bleibt. Anders als die DDR-Akten sind die Kopien der rumänischen Akten kaum geschwärzt, auch die Namen blieben stehen. Eine Liste mit den Klarnamen der Informanten aber wurde von der CNSAS bisher nicht geliefert.
Die Aktionsgruppe Banat entstand in den frühen siebziger Jahren. Mit ihr begann eine etwa fünfzehn Jahre dauernde Periode, während der es ein paar Rumäniendeutschen – nicht etwa allen – trotz ihrer isolierten und bedrohlichen Lage gelang, eine hochklassige, moderne, kritische Literatur hervorzubringen. Das Verdienst gebührt tatsächlich einigen wenigen – denn das Gros hätte lieber eine ganz andere Literatur gehabt. Die damals sehr jungen Schriftsteller der Aktionsgruppe befanden sich von Anfang an in einer doppelten Opposition: zum einen gegen ihre deutschen Landsleute, zum anderen gegen Ceauşescus
Diktatur. Die beiden feindlichen Bereiche waren keineswegs sauber voneinander getrennt; und auch die jungen Schriftsteller selbst agierten nicht fehlerlos. Am Ende hatten sie gegen ihre Landsleute einen triumphalen Sieg errungen, während Ceauşescus Diktatur sie auf eine vernichtende Weise geschlagen hatte. Fast alle Gruppenmitglieder sahen sich gezwungen, schon Jahre vor dem Umsturz Rumänien zu verlassen. Nicht alle haben die Repressalien des Regimes überlebt. Nur wenige schafften es, weiterhin zu schreiben. Alle aber haben jahrzehntelang mit biographischen Unklarheiten und Widersprüchen, auch mit Mißtrauen und gegenseitigen Verdächtigungen leben müssen, die erst durch das Auftauchen der Akten ausgeräumt werden konnten. Die Aktenauszüge, die im folgenden wiedergegeben werden, sind aus dem Rumänischen übersetzt; sie können nicht mehr als einen ersten Eindruck vermitteln. Noch liegen bei weitem nicht alle Akten vor, noch sind keineswegs alle Spitzel enttarnt. Die Rekonstruktion der Geschichte hat gerade erst begonnen.
Als sich die Aktionsgruppe Banat 1972 bildete, waren ihre Mitglieder kaum zwanzig Jahre alt. Zum engeren Kreis gehörten: Albert Bohn, Rolf Bossert, Werner Kremm, Johann Lippet, Gerhard Ortinau, Anton Sterbling, William Totok, Richard Wagner und Ernest Wichner, wobei Richard Wagner die Rolle eines Primus inter pares innehatte. Sie trafen sich an der Universität von Temeswar, wo sie Germanistik studieren wollten. Sie kamen aus den Dörfern der Banater Ebene, von den Höfen und Ländereien, die ihren Vorvätern einst gehörten, jedoch im Zuge der kommunistischen Enteignung verstaatlicht worden waren. Die bäuerliche Banater Minderheit hielt, wenngleich nun in jeder Hinsicht »grundlos«, unerschütterlich an ihrer Mentalität und den landsmannschaftlichen Traditionen, Kirchweihfesten, Heimatliedern, Trachten, Blaskapellen fest. Die Banater hatten es geschafft, über zwei Jahrhunderte hinweg alle »fremden« Einflüsse von sich fernzuhalten und durch und durch »deutsch« zu bleiben. Der Groll über Deportation, Enteignung und Demütigung, die ihnen nach dem Krieg von seiten der Russen widerfahren waren, half ihnen, ihre eigene Nazivergangenheit und den Dienst in der Waffen-SS, der die männlichen Banater in großer Zahl angehört hatten, zu verdrängen. Statt dessen pflegten sie mit Hingabe die Sekundärtugenden Ordnung, Sauberkeit, Pflichtgefühl, was dazu führte, daß sie sich den Rumänen, die ihrer Meinung nach diese Tugenden nicht besaßen, haushoch überlegen fühlten. Nur leider reichte ihr Überlegenheitsgefühl nicht aus, um sich auch gegen die rumänische Diktatur aufzulehnen. »Im Dorf waren alle vor dem Staat geduckt«, schreibt Herta Müller, »aber untereinander und gegen sich selbst kontrollwütig bis zur Selbstzerstörung.«
Die jungen Autoren lehnten sich auf gegen diese Welt; sie weigerten sich, in ihren Texten das Schicksal der deutschen Minderheit zu besingen und den donauschwäbischen Volksgeist zu preisen, wie es die Dichter der vorangegangenen Generationen getan hatten und noch immer taten. Sie wollten eine ganz andere, innovative Literatur schreiben: ebenfalls eine deutsche Literatur, doch eine, die modern war, zeitgemäß, und die mit der des Westens konkurrieren konnte. Sie waren die erste Generation, die im real existierenden Sozialismus aufgewachsen war, und wie ihre westlichen Altersgenossen glaubten sie an Marx und Marcuse, Brecht und Berlinguer, Janis Joplin und Che Guevara und an die Verwirklichung eines Sozialismus mit menschlichem Antlitz. Im Gegensatz zu ihren westlichen Altersgenossen freilich lebten sie in einem Land, in dem der Sozialismus bereits verwirklicht war, er hatte nur leider kein »menschliches Antlitz«. Doch auch darin schien sich eine Annäherung anzubahnen zwischen Ost und West. Seit Ceauşescu sich 1968 anläßlich des Prager Frühlings gegen die Sowjets gewendet und einen Freundschaftspakt mit Dubček unterzeichnet hatte, konnte man meinen, Rumänien befinde sich auf dem Weg zu einer dauerhaften Liberalisierung. Der Westen blickte voller Sympathien auf Bukarest. Es herrschte Tauwetter; die schlimme stalinistische Zeit schien vorüber.
Die jungen Schriftsteller setzten sich zusammen und formulierten ein Programm. Sie nahmen darin ästhetisch vorweg, worauf sie politisch hinarbeiten wollten: daß Ost und West eines Tages, vielleicht schon bald, dasselbe meinen könnten, wenn sie »Sozialismus« sagten. Sie gingen mit gutem Beispiel voran und vertraten mitten im Osten einen westlichen Marxismus. Sie bekannten sich zu Brecht und nahmen sich vor, ein »neues Realitätsbewußtsein« zu schaffen, »falsche Denkschemata« zu überwinden, kritisch zu sein, zu provozieren und »auf der Grenze zu gehen«. Ein Journalist, der über sie berichtete, gab ihnen den Namen »Aktionsgruppe Banat«, ein Begriff, der den Freunden wegen des Verwirrungspotentials, das er enthielt, gefiel.
Sie wußten, daß es in Rumänien auch im schönsten »Tauwetter« höchst riskant war, eine Gruppe, gar eine Gruppe mit politischen Ambitionen zu organisieren; aber eben darin wollten sie ihrer Zeit vorauseilen. Ihr vages Vorbild war die Wiener Gruppe, die in den fünfziger Jahren in Österreich mit Gemeinschaftslesungen, Textmontagen und surrealistischen Sketches die Öffentlichkeit provoziert hatte. Ähnliches im realsozialistischen Rumänien des Jahres 1972 zu veranstalten, war so tollkühn wie der Flug des Ikarus. Aber sie ließen sich durch nichts und niemanden davon abhalten. »Man hat die Freiheit, die man sich nimmt, dachten wir«, schrieb Richard Wagner Jahre später. »Was für unsere Umgebung unerhört war, war für uns nicht einmal ein Wagnis. Wir traten mit einem Ton der Selbstverständlichkeit auf, der sogar den Behörden die Sprache verschlug. Für eine Weile jedenfalls. Für eine Weile, in der sie uns argwöhnisch beobachteten.«
Die literarische Produktion der Gruppe erreichte erstaunlich schnell ein professionelles Niveau. Man schrieb Lyrik und kurze Prosa, witzige, vertrackte, skurrile Texte, verwandte die unterschiedlichsten Stile und Techniken und war doch unverkennbar. Die Gruppe wurde rasch über die Grenzen von Temeswar hinaus bekannt, bis hin ins ferne Bukarest, denn sie war einzig in ihrer Art. Entscheidend war, daß es in den deutschsprachigen Zeitungen Rumäniens Redakteure gab, die mit ihr sympathisierten und ihre Erzeugnisse druckten. Insbesondere galt dies für die Zeitschrift »Neue Literatur« (NL), die monatlich in Bukarest erschien. Die NL war ebenso erstaunlich wie das gesamte Phänomen der jungen rumäniendeutschen Dichtung, deren Motor sie war: eigentlich unterstand sie dem offiziellen rumänischen Schriftstellerverband, war aber längst »unterwandert« von kritischen und kundigen Redakteuren, meist selber Schriftstellern, die es irgendwie fertigbrachten, die »Ringmauern« der Zensur zu durchbrechen. Sie publizierten nicht nur die neue, kritische Literatur aus Siebenbürgen, dem Banat und Bukarest, sie veröffentlichten auch Werke aus der DDR, die dort nicht erscheinen durften.
Nach ihren Debüts auf den Schülerseiten des Lokalblatts »Neue Banater Zeitung«, die ihnen der Chefredakteur Nikolaus Berwanger einräumte, landeten die jungen Schriftsteller bald bei der NL. Sie stießen dort auf den Redakteur und Literaturkritiker Gerhardt Csejka, der sie nicht nur veröffentlichte und unterstützte, sondern im wahrsten Sinn des Wortes ihr Schicksalsgefährte wurde. Von ihm und (am Anfang) auch von dem Schriftsteller Paul Schuster bekamen sie entscheidende Tips und Orientierungshilfen, um sich mit der im Westen erscheinenden Literatur vertraut zu machen. Sie beschafften sie sich auf allen nur erdenklichen Wegen, sie lasen soviel sie konnten, bald kannten sie mehr Bücher, als die germanistische Fakultät ihnen zu bieten hatte, und sie gaben ihre Kenntnisse weiter an jene, die selbst noch nicht schrieben oder gerade erst damit begonnen hatten. Herta Müller, die erst einige Jahre später mit ihren Arbeiten an die Öffentlichkeit trat, sagte: »Ich glaube, ich wurde eigentlich ausgebildet von der Aktionsgruppe, und nicht etwa an der Universität.«

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SINN UND FORM 6/2010, S. 746-769