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Heftarchiv – Leseproben

Leseprobe aus Heft 2/2010

Matt, Peter von

Die Tumulte der Wissenschaft und die Ruhe der Bibliotheken


Faust, der bekannte Doktor, hat etwas gegen die Bücher. Karl Moor, der bekannte Räuber, hat etwas gegen die Tinte. Zwar wurde diese doppelte Abneigung sorgsam mit Tinte festgehalten und in Büchern gedruckt, aber das hinderte die beiden leidenschaftlichen Kulturrevolutionäre nicht an ihrer Verwerfung alles beschriebenen Papiers. Es teilt den schlechten Ruf von Tinte und Buch. Wie die Tinte als kalter Gegensatz zum heißen Blut gehandelt wird, so gilt das Papier als Gegensatz zu allem Lebendigen, »papieren« ist im Deutschen ein Schimpfwort. Als wäre es nicht die spirituellste Materie überhaupt. In seiner Privatbibliothek berserkert Faust wie ein Verdammter gegen die hohen Bücherwände, die Papierrollen, die Pergamente, und er atmet erst auf, als er das Fläschchen mit dem braunen Gift erblickt. Durch den Selbstmord will er den Büchern endlich entkommen.

In Fausts Suizid, der nur durch einen Zufall verhindert wird, ist insgeheim auch die Parallelaktion versteckt, die Vernichtung der Bücher. Statt sich zu töten, könnte er auch das ganze bedruckte und gebundene Papier verbrennen. Denn Faust bestreitet unumwunden den Nutzen aller Bücher. Um das Elend seiner Lage zu verdeutlichen, in der das bedruckte Papier ihm den Zugang zur göttlichen Mitte der Welt versperrt, vergleicht er sich mit einem Wurm, der im Staube kriecht und jederzeit zertreten werden kann:

 

Den Göttern gleich’ ich nicht! zu tief ist es gefühlt;

Dem Wurme gleich’ ich, der den Staub durchwühlt,

Den, wie er sich im Staube nährend lebt,

Des Wandrers Tritt vernichtet und begräbt. (V. 652–655)

 

Das ist eine recht konventionelle Rhetorik, die wütende Selbsterniedrigung eines narzißtisch Gekränkten. Aber anschließend wird die Metapher von Faust realisiert. Er blickt die Bücherwände hoch und erkennt: Das ist tatsächlich Staub, alles ist nur Staub; ich lebe nicht metaphorisch darin, sondern leibhaftig:

 

Ist es nicht Staub, was diese hohe Wand

Aus hundert Fächern mir verenget?

Der Trödel, der mit tausendfachem Tand

In dieser Mottenwelt mich dränget? (V. 656–659)

 

Das ist die Verdammung des Papiers als des Nichtigen schlechthin und damit auch die Verdammung alles dessen, was darauf mit Druckerschwärze festgehalten wird. Faust beschimpft den in seinen Augen niedrigsten Stoff der Welt, und was darin lebt, der Wurm, ist das kläglichste aller Lebewesen. Diese radikalste Entwertung der Bibliothek durch einen Universitätsprofessor wird abschließend auch inhaltlich auf den Punkt gebracht:

 

Hier soll ich finden, was mir fehlt?

Soll ich vielleicht in tausend Büchern lesen,

Daß überall die Menschen sich gequält,

Daß hie und da ein Glücklicher gewesen? – (V. 660–663)

 

Der Moment ist dramatisch. Da wird eine einzige Erkenntnis der Summe des Wissens gegenübergestellt, das in einer Bibliothek enthalten sein kann. Nur auf diese Erkenntnis kommt es an, und für sie braucht es die Bücher nicht. Zu wissen gilt allein, daß die Menschen sich immer selbst und gegenseitig quälen und das Glück ein Zufall ist. Wer sich dessen bewußt ist, weiß genug, um richtig handeln zu können; wem das nicht klar ist, dem nützen die schwersten Folianten nichts.

Diese pauschale Verwerfung des Weltwissens hat Tradition. Die Religionen neigen dazu, die Gläubigen aller Schattierungen. Der erste Korintherbrief vollzieht den Akt in aller Schärfe, indem er die Dialektik von Torheit und Weisheit entwickelt. Die Weisheit dieser Welt ist Torheit vor Gott, die Torheit dieser Welt ist Weisheit vor Gott. Dieser mörderischen Alternative gegenüber verflüchtigen sich Philosophie und Wissenschaft wie ein Rauch. Der Heilige Paulus wörtlich: »Wo bleibt da ein Weiser? Wo ein Schriftgelehrter? Wo ein Wortführer dieser Weltzeit? Hat Gott nicht die Weisheit der Welt zur Torheit gemacht?« (1. Korinther 1,20) Und der Apostel hätte ohne weiteres anfügen können: »Wo bleiben da die Bibliotheken?«

Daß dieser Gedanke für die streng Gläubigen schon immer in der Luft lag, bezeugt die Anekdote über den Untergang der Bibliothek von Alexandria. Dort waren das gesamte Wissen und die ganze Literatur der Antike versammelt. Ihre Vernichtung beschäftigt die Menschheit bis auf den heutigen Tag, so sehr, daß die tatsächlichen historischen Ereignisse hinter den vielen bunten Überlieferungen gar nicht mehr zu erkennen sind. Im berühmtesten dieser Berichte wird erzählt, daß der Kalif Umar im Jahre 642 gesagt habe: »Wenn in diesen Büchern das gleiche steht wie im Koran, dann braucht es sie nicht, und wenn darin etwas anderes steht als im Koran, dann braucht es sie erst recht nicht.« Daraufhin wurden die Gebäude abgefackelt. Der Bericht ist eine Erfindung des Mittelalters. Aber es ist eine gute Geschichte, denn sie belegt die Vorstellung, daß alles Wissen des Logos belanglos sei gegenüber einem einzigen Wort des Mythos. Diese Vorstellung wird nie ganz von unserem Planeten verschwinden. Hinter den vielen Phantasien von einer absoluten Bibliothek steckt sie ebenso wie hinter den Vorstellungen von deren Ruin. In der legendären »Bibliothek von Babel«, die Jorge Luis Borges 1941 beschrieben hat und die alle überhaupt möglichen Kombinationen von 23 Buchstaben und zwei Satzzeichen enthält, in Büchern von je 110 Seiten, fällt das Phantasma der totalen Bibliothek sogar zusammen mit dem Phantasma ihrer Vernichtung. Denn in diesem Ozean von Büchern wären die sinnvollen und für einen Leser zugänglichen Werke unter den abstrusen Kombinationen gar nicht aufzufinden – obwohl alle sinnvollen Bücher, die die Menschheit hervorzubringen überhaupt im Stande ist, also auch alles zukünftige Wissen, in der Bibliothek von Babel irgendwo vorhanden sein müßten. Die Summe der Erkenntnis ist offenbar nur um den Preis ihrer Zerstörung zu haben.

[…]

 

SINN UND FORM 2/2010, S. 160-168