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Heftarchiv – Leseproben

Leseprobe aus Heft 4/2008

Dollerup, Cay

Der dänische Hintergrund in Shakespeares »Hamlet»


Gleich hinter dem dunklen, gewundenen Tunnel, durch den der Besucher in den Hof von Schloß Kronborg in Elsinore (Helsingør) gelangt, sieht man links eine Gedenktafel in der Mauer mit einem Reliefporträt William Shakespeares (1564-1616) und der Inschrift: »Die Legende berichtet von einem Königssohn, AMLETH, der vor der Zeit der Wikinger in Jütland lebte. Im Mittelalter schrieb Saxo die Erzählung nieder. In der Renaissance griff Shakespeare Hamlets Lebensgeschichte auf und siedelte sie in diesem Schloß an. Dadurch hat er dem Dänenprinzen immerwährenden Ruhm gesichert und den Namen Elsinore in der ganzen Welt bekannt gemacht.«
Tatsächlich ist Hamlet dank Shakespeares Tragödie bis auf den heutigen Tag einer der berühmtesten Dänen der Welt. In Wahrheit wissen wir jedoch kaum mit Sicherheit, ob er überhaupt unter gewöhnlichen Sterblichen gelebt hat. Die Hamlet-Sage mag wesentlich älter sein, aber die erste bekannte Fassung, auf der Shakespeares Stück beruht, schrieb um 1200 der dänische Mönch und Schriftgelehrte Saxo Grammaticus (ca. 1150-1220). Auf Anregung Bischof Absalons, der 1167 Kopenhagen gründete, verfaßte Saxo die Geschichte der Dänen ("Gesta Danorum«), wie sie sich nach den (überwiegend mündlichen) Quellen darstellte, und eine der Erzählungen darin war die über Amlethus.
Bei Saxo lautet sie: Der neugekürte König Roricus von Dänemark besiegt die rebellischen Slawen, und zur gleichen Zeit betraut er die Brüder Horwendillus und Fengo mit der Verteidigung Jütlands. In der Hoffnung, Ruhm zu erringen, wird Horwendillus Freibeuter, und im Zweikampf tötet er den mißgünstigen König Collerus von Norwegen. Vor diesem Duell hatten sie einander feierlich gelobt, der Sieger werde dem Unterlegenen ein Heldenbegräbnis ausrichten. Drei Jahre lang bleibt Horwendillus fort. Er unternimmt zahlreiche Raubzüge, kehrt nach Dänemark zurück und macht Roricus einen Teil seiner reichen Beute zum Geschenk. Dann heiratet er Roricus‹ Tochter Gerutha, die ihm einen Sohn, Amlethus, gebiert. Neidisch auf Horwendillus‹ Erfolg, ermordet ihn sein Bruder Fengo und heiratet die Witwe. Amlethus kann die Versuche seines Onkels, ihn als Usurpator töten zu lassen, nur dadurch vereiteln, daß er Wahnsinn vortäuscht: Wenn Fengo und seine Gefolgsleute hinterhältige Fragen ersinnen und ihm Fallen stellen, antwortet er offenbar verwirrt und benimmt sich sonderbar. Nachdem Amlethus einen Freund Fengos getötet hat, der, im Stroh versteckt, ein vertrauliches Gespräch zwischen Amlethus und seiner Mutter belauschen wollte, schickt Fengo seinen Stiefsohn mit zwei Begleitern nach England, versehen mit einem Brief, in dem der englische König ersucht wird, Amlethus zu töten. Unterwegs tauscht Amlethus den Brief gegen einen anderen aus, dem zufolge die Begleiter zu töten seien und er die Tochter des Königs heiraten solle. Diese Bitten werden erfüllt, und Amlethus bleibt ein Jahr in England, wo er wiederholt seine erstaunliche Intelligenz erweist, so, als er durch bloßes In-die-Augen-Schauen feststellt, daß der König der uneheliche Sohn eines Sklaven ist, denn er habe Sklavenaugen. Zur Entschädigung für seine beiden Begleiter bekommt er Gold, das er in mehreren Hohlstäben versteckt, dann kehrt er nach Jütland zurück, gerade rechtzeitig, um seiner eigenen, von Gerutha inszenierten Beerdigung beizuwohnen. Nachdem er Fengos Gefolgsleute betrunken hat machen lassen, setzt Amlethus die Festhalle in Brand, so daß sie in den Flammen umkommen. Dann begibt er sich in Fengos Gemach, tauscht sein unbrauchbares Schwert gegen Fengos aus und bringt den Mörder seines Vaters um.
Am nächsten Tag schildert Amlethus in einer aufwieglerischen Haßtirade dem dänischen Volk Fengos Verbrechen. Er wird zum König ausgerufen und kehrt alsbald zu seinem Schwiegervater zurück. Unglücklicherweise hatten der englischen König und Fengo einander versprochen, sich gegenseitig zu rächen. Aber die Bemühungen des Königs, sein Versprechen einzulösen, scheitern, denn die schottische Königin Hermuthruda, eine Amazone, die nach dem Plan des englischen Königs Amlethus töten sollte, verliebt sich in den Dänen und heiratet ihn (Saxos Amlethus hat also zwei Gemahlinnen). Der König von England fällt später in offener Feldschlacht. Schließlich kehrt Amlethus nach Dänemark zurück, wo Roricus verstorben ist. Sein Nachfolger, Vigletus, entzweit sich mit Amlethus und tötet ihn. Vor der Entscheidungsschlacht hatte Amlethus‹ Frau ihm ewige Liebe geschworen, aber danach zeigt sie ihre völlige Treulosigkeit, indem sie Vigletus heiratet. Man sieht sofort, daß Saxos Erzählung in mehrere Teile zerfällt. Nur der erste Teil, die Geschichte von dem jungen Prinzen, der Irrsinn vortäuscht und zu Recht den Mord an seinem Vater rächt, ist für die Erörterung von Shakespeares »Hamlet« von Bedeutung.

 

Saxos Geschichte der Dänen war in lateinischer Sprache geschrieben und nur als Manuskript im Umlauf, ehe sie 1514 in Paris gedruckt wurde. Das Buch galt bald als Standardquelle für die dänische Geschichte, und die Historiker machten ausgiebig von ihm Gebrauch. In seiner Geschichte der nordischen Länder gab der Diplomat Albert Kranz (ca. 1450-1517) die Amlethus-Erzählung in verkürzter Form wieder. Auch sein Bericht ist in Latein verfaßt; er erschien 1548. Der nächste, der den Text verwendete, war der Moralist und Schriftsteller François de Belleforest, der 1576 eine französische Fassung in seinen »Histoires tragiques« veröffentlichte.
Oft wird vermutet, die Engländer seien durch Belleforests Werk mit der dänischen Legende bekannt geworden. Jedoch ist aus der Zeit vor 1608 keine englische Übersetzung erhalten, und diese Ausgabe ist durch Shakespeares Stück beeinflußt. Der dänische Prinz tötet den Lauscher, indem er sein Schwert »durch die Tapete« stößt - was aus Shakespeares Stück stammen muß, weil es bei Saxo nicht vorkommt. Shakespeares »Hamlet« war nicht das erste englische Schauspiel, das auf der Geschichte von Hamlet fußte: Zwischen 1589 und 1594 spielte man in London ein Stück über einen Hamlet, den ein Geist zur Rache drängt. Man nimmt an, daß Thomas Kyd es verfaßt hat, der Autor eines populären Rachedramas, »The Spanish Tragedy«. Aber sein Stück ist nicht erhalten geblieben, deshalb wissen wir nicht, ob es sich auf die französische Version von Amleth oder auf die lateinische von Amlethus stützte. Nach sorgfältiger Prüfung der Belege erscheint es plausibler, daß sich die englischen Stücke (einschließlich Shakespeares) eher von Saxo als von Belleforest herleiten.
Shakespeare schrieb seine »Tragicall Historie of Hamlet, Prince of Denmark« vermutlich um 1601. Sie erschien 1603 in einer verhunzten Fassung (Q1= der Schlechte Quartband). 1605 kam es in einer neuen Ausgabe heraus, »Newly imprinted and enlarged to almost as much againe as it was, according to the true and perfect Coppie« (neu gedruckt und gemäß der echten und vollständigen Vorlage zu fast doppeltem Umfang erweitert) (Q2 = der Gute Quartband), und der Wortlaut läßt vermuten, daß Shakespeare an der Beschaffung des Manuskripts beteiligt war. Die letzte von der Forschung berücksichtigte Ausgabe findet sich in der Folio-Ausgabe (1623), die Shakespeares Kollegen nach seinem Tod veröffentlichten. Zwischen dem Guten Quartband und der Folio-Ausgabe gibt es etliche Unterschiede, die Gegenstand gelehrter Debatten sind. Für die Erörterung der Beziehung zwischen Kronborg und Dänemark oder der Rezeption dänischer Eigenarten in Shakespeares »Hamlet« sind sie jedoch unwesentlich.
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Aus dem Englischen von Ana Maria und Hans Brock


SINN UND FORM 4/2008, S. 501-503