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Heftarchiv – Leseproben

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Printausgabe vergriffen

Leseprobe aus Heft 4/2007

Girard, René

GESPRÄCH MIT WOLFGANG PALAVER


WOLFGANG PALAVER: Das Verhältnis von Monotheismus und Gewalt interessiert viele Menschen. Aber bevor wir auf dieses Phänomen unserer Zeit näher eingehen, möchte ich Sie fragen, wie Sie in Ihrer mimetischen Theorie zwischen Heidentum und biblischem Monotheismus unterscheiden.

RENÉ GIRARD: Das ist gar nicht so einfach, weil es dabei wesentlich auf die Interpretation des Sündenbock-Phänomens ankommt, das für archaische Religionen genauso wichtig ist wie für das Christentum. In heidnischen oder archaischen Religionen, die im Grunde nahezu identisch sind, und natürlich im Polytheismus, wird es vom Standpunkt des Mobs interpretiert. Wird das Phänomen hingegen zutreffend als Gewalt, als nicht zu rechtfertigende Gewalt des Mobs gegen einen unschuldigen Sündenbock interpretiert, befinden wir uns in der Sphäre des Christentums, in der Sphäre der Bibel. Für mich gibt es nur einen Monotheismus, den jüdischen, der im Christentum und im Islam wiederkehrt. Ich denke nicht, daß man noch einen zweiten Monotheismus entdecken wird, und auch nicht, daß er eine »Entdeckung« ist. In gewisser Weise sind alle Sündenbock-Religionen verirrte Ahnungen von Monotheismus, das Unvermögen, den einen, einzigen Gott zu erreichen, das unweigerlich zu einer Vielzahl von Göttern der Gewalt führt. Doch obwohl diese Götter der Gewalt das extreme Gegenteil des Gottes des Friedens darstellen, stehen sie ihm auch positiv gegenüber, was doch recht seltsam ist.

PALAVER: Hatten Sie das im Sinn, als Sie in Ihrem Beitrag zur Festschrift für Raymund Schwager von der paradoxen Einheit aller Religionen sprachen?

GIRARD: Ja, es gibt eine paradoxe Einheit aller Religionen, das kann man sagen, auch wenn es nicht ungefährlich ist – und ich sage es auch nur im kleinen Kreis. Die mimetische Theorie will alle Formen der Religion erklären, eben weil sie alle vom wahren Monotheismus abhängen, der durch die endgültige Lösung des Sündenbock-Rätsels vollendet wurde: durch die Passion Christi.

PALAVER: Vielleicht finden wir in dieser Richtung einen Ansatz, der uns hilft, eine wichtige Einsicht aus der frühen Phase Ihrer Theorie zu präzisieren, wo Sie mit einer relativ strengen Unterscheidung zwischen Heidentum und biblischer Religion operieren. Beim Lesen Ihres Werkes, hatte ich den Eindruck, Sie meinten bereits damals, daß sich sogar jene Religionen nach Frieden sehnen, die dem Sündenbock-Mechanismus sehr nahestehen und auf Menschenopfer beruhen.

GIRARD: Ganz gewiß. Und dadurch ermöglichen sie die Menschheit. Ohne sie würde sich die Menschheit selbst auslöschen, sobald sie eine bestimmte Stufe des mimetischen Konflikts überschreitet. Der größte Fehler der Religionstheorie der Aufklärung, auf der unsere heutigen Wissenschaften beruhen, besteht darin, in der Religion zuallererst eine intellektuelle Erklärung der Welt zu sehen. So meinte Auguste Comte, daß es drei Stufen der Welterklärung gebe. Die erste sei die Religion, völliger Unsinn. Die zweite, die Philosophie, sei nicht ganz so unsinnig, und die dritte, im 19. Jahrhundert, sei die Wissenschaft, vollkommenes Wissen. Das ist eine völlig falsche Auffassung von Religion.  Die archaischen Religionen haben mit Göttern wenig zu tun, aber sehr viel mit zwei Dingen: mit Opfern und mit Verboten. Beide sind unerläßlich für das Überleben der Menschheit, und dieser Überlebenswert sozusagen rechtfertigt zeitweilige Kompromisse mit der Gewalt. Wenn Sie sich die Geschichte der Religion anschauen, sehen Sie, daß es keine endgültigen Siege gibt, sondern daß alle Religionen in gewisser Weise Siege über die Gewalttätigkeit sind. Die Opferungen sind immer weniger grausam, und auch der Kulturtypus, den sie hervorbringen, ist nicht mehr so brutal wie früher, was sich mit dem Geschehen im Mittelalter vergleichen läßt, als das Christentum die Religion an sich verkörperte. Man sollte sie also keinesfalls als negativ einstufen, aber sie auch nicht gar zu eilig definieren wollen. Mit Hegel wird man hier nicht weit kommen, weil seine Dialektik die Gewalt in der Geschichte letztlich positiv interpretiert, womit ich nicht einverstanden bin. Vom christlichen Standpunkt betrachtet, gibt es die Sünde durch die ganze Geschichte hindurch, man denke nur an den Begriff der Erbsünde. Wenn Gewalt also eine Erklärung für die Erbsünde ist, dann ist sie Teil der Offenbarung.

PALAVER: Diese friedliche Seite der heidnischen Religionen möchte ich betonen, da es uns im Gegensatz zu David Hume schwerfällt, sie zuzugeben, ohne das Faktum verdrängen, daß sie dazu der Menschenopfer bedurften. Hume, einer der ersten modernen Kritiker des Monotheismus, hat deutlich gesagt, daß es im Heidentum trotz der grausamen Riten den Geist der Toleranz gibt. In Ihrem Beitrag zu dem Band »Violent Origins« schreiben Sie, Haß und Feindschaft in heidnischen Gesellschaften seien nicht so grausam wie die derzeitigen Formen absoluter Feindschaft. Nehmen wir etwa den Begriff der Feindschaft während der beiden Weltkriege, und vergleichen wir ihn mit den verschiedenen Arten von Feindschaft in Stammesgesellschaften.

GIRARD: Ich bin mir nicht sicher, ob über die absolute Intensität – psychisch, metaphysisch und so weiter – viel zu sagen ist. Über die Waffen sicher etliches, denn sie sind die Werkzeuge des menschlichen Zorns. Es ist nicht zu übersehen, daß sie im Laufe der Geschichte immer wirkungsvoller geworden sind. Und das meinte Clausewitz, als er sagte, das militärische Potential werde immer größer, so daß es den Anschein habe, als seien alle Kriege nur ein einziger Krieg. Aber er hat das nicht in einem apokalyptischen Kontext gesehen. Denn es bestand seinerzeit keine unmittelbare Gefahr für das Überleben des Planeten; und wegen der Atombombe machte er sich auch keine Sorgen. Von Raymond Aron gibt es ein zweibändiges Werk über Clausewitz, durch das ich auf ihn aufmerksam geworden bin. Der erste Band, »Das europäische Zeitalter«, ist historisch gesehen der echte Clausewitz. Der zweite, »Das planetarische Zeitalter«, handelt von Clausewitz im Atomzeitalter. Da Aron optimistisch ist, zeugt das ganze Buch von seinem seltsamen Bemühen, sich einzureden, die nukleare Abschreckung habe Erfolg und es gebe keinen Grund zur Sorge. Deshalb werde die »Steigerung bis zum äußersten«, die sich fortsetzt und verschlimmert, die Welt nicht zerstören, denn die Menschen seien vernünftig genug, um den Atomkrieg zu vermeiden. Eigentlich beantwortet Aron immerzu ein Argument, das er vor Angst gar nicht auszusprechen wagt. Also das Buch ist schon faszinierend. Ich würde gern ein Buch über Clausewitz und Aron schreiben, um Arons Rationalismus und Optimismus zu zeigen: daß er nämlich eine These attackiert, die bei ihm gar nicht richtig vorkommt. Aber die doch vorhanden ist, denn sonst wäre sein Buch belanglos. Und man möchte Aron fragen: Warum machen Sie sich denn Sorgen? Ja, irgendwie ist das ein ganz anrührendes Buch.

PALAVER: Sie sind nicht so optimistisch?

GIRARD: Apokalyptische Erwartungen muß es geben. Die kann man nicht einfach abtun, indem man sagt, die Vernunft siegt. Wieso sollten wir eigentlich in diesem Punkt auf die Vernunft vertrauen? Das ist doch seltsam. Es ist einfach der Wunsch, das jüdisch-christliche Denken endgültig zu vertreiben. Aber den gibt es in den verschiedensten Formen, bei Aron in einer ziemlich sanften Form, die, würde ich sagen, weniger anstößig ist als das derzeitige Verdammen des Monotheismus durch Leute, die nicht einmal an Gott glauben, außer um ihn für ihre eigene Gewalttätigkeit verantwortlich zu machen. Das ist eine Karikatur des Schlimmsten, was es in der Geschichte der Religion je gab. Unsere Zeit ist von einer noch nie dagewesenen hirnlosen Arroganz; wir machen das Göttliche zum Sündenbock, einzig und allein, um es zu verunglimpfen. PALAVER: Betrachten wir einmal die eindrucksvollen Psalmen, um die Ähnlichkeiten und Verschiedenheiten der heidnischen Religionen mit dem Beginn des biblischen Erbes zu erklären. Die Psalmen sind in mancher Hinsicht ganz außerordentlich und wohl der erste Beleg für die Einzigartigkeit der biblischen Offenbarung.

GIRARD: Die Psalmen offenbaren das Geschehen. Wie wir von Raymund Schwager wissen, gibt es in 100 der 150 Psalmen einen von Feinden umringten Erzähler. Er wird zum Sündenbock gemacht und darf, zum erstenmal in der Geschichte, gegen sein Schicksal toben. Eine völlige Umkehrung des Mythos, so wie später in den Evangelien. Und das Opfer beklagt den drohenden Lynchmord. Wir erfahren nicht, warum gelyncht wird. Aber das ist auch nicht nötig, weil die Menschen ihre Opfer zu lynchen pflegen. Die Psalmen sind die ersten Texte, in dem das Opfer und nicht der Mob zu Wort kommt. Jetzt redet das Opfer über den Mob, während bislang der Mob sich weigerte, über das Opfer zu reden, und behauptete, da draußen sei ein Gott, den wir fänden oder der uns fände und den wir anbeten müssen.

PALAVER: Sie sagen, schon die ersten biblischen Texte seien, verglichen mit den Texten der Griechen, blutiger, grausamer und von ganz unverhüllter Gewalt. Deshalb ist das biblische Erbe für viele ein Erbe der Gewalt. Sie haben die Psalmen einmal mit einem umgedrehten Fell verglichen.

GIRARD: Mit einer Tierhaut. Gesäubert und bearbeitet ist sie wunderschön, glänzend, großartig. Aber wenn man sie gleich nach dem Abziehen wie einen Handschuh umdreht, ist überall Blut. Ja, die Mythen sind wie ein Fell, daher werden sie gehegt und gepflegt. Der heutige Leser findet die Psalmen abstoßend, weil er noch die blutige Haut des Opfers sieht. Erst kürzlich habe ich diesen Vergleich auch auf die Evangelien übertragen und es möglichst spektakulär zu formulieren versucht. Leider haben die Christen die grundlegende Übereinstimmung von Mythos und Evangelien, die die Anthropologen entdeckt haben, immer zurückgewiesen. Obwohl die Anthropologen zum Teil recht haben. Es ist dieselbe Geschichte, dieselbe Struktur: eine Gemeinschaft gerät in Aufruhr, die Menschen rotten sich zusammen und erschlagen den Missetäter, Ödipus. Danach geht es ihnen wieder gut. In den Evangelien ist es ähnlich, nur schlimmer, weil der Tod des Sündenbocks den Frieden nicht wiederherstellt. Jemanden umzubringen überzeugt nicht mehr wirklich. Die Evangelien, wie die biblischen Texte, zeigen uns die Unschuld des Opfers. Die Mythen hingegen sind schön, weil die Gewalt, die sich zumeist gegen das Opfer richtet, fast völlig verhüllt ist. Daher bringen sie nur den Standpunkt des Mobs zum Ausdruck, und wir akzeptieren ihn und glauben an das grandiose, klassische griechische Universum, denn um eben das handelt es sich; das rein mythologische Universum, das die Gewalt auf das Opfer projiziert und uns ein gutes Gefühl gibt.

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SINN UND FORM 4/2007, S. 454-463, hier S. 454-457