Zagajewski, Adam
(1945 – 2021), polnischer Schriftsteller, Mitglied der Akademie der Künste. Auf deutsch erschienen zuletzt der Gedichtband »Asymmetrie« (2017) und der Essayband »Poesie für Anfänger« (2021). (Stand 3/2022)
Siehe auch SINN UND FORM:
- 6/1994 | Gedichte
- 5/1995 | Zwei Städte (I)
- 6/1995 | Zwei Städte (II)
- 4/1996 | Fluch und Segen der Historie
- 4/1996 | Gedichte
- 5/1997 | Ulica Dluga
- 3/1999 | Lektüre für schlechte Tage
- 6/1999 | Anmerkungen zum Hohen Stil
- 1/2000 | Renshi
- 5/2000 | Verteidigung der Leidenschaft
- 1/2002 | Gedichte
- 5/2002 | Wir machen Poesie aus dem, was wir sind
- 2/2003 | Polnisch schreiben
- 6/2003 | Józef Czapski - Meister meines Nichtwissens
- 5/2004 | Beginn des Erinnerns
- 4/2006 | In memoriam Henryk Bereska
- 4/2006 | Antennen im Regen
- 6/2006 | Französische Grammatik. Über E.M. Cioran
- 4/2008 | Fragmente eines nicht existierenden Tagebuchs
- 6/2008 | Gedichte
- 5/2009 | Märtyrer und Komödianten oder Wie war die Lyrik im 20. Jahrhundert?
- 6/2009 | Über die Treue. Imre Kertész' geduldige Arbeit am Mythos des Romans
- 2/2010 | Ein junger Klassiker. Über Sándor Márai
- 1/2011 | Unser Europa
- 5/2011 | Gedichte
- 6/2011 | Ich kann keine Erinnerung an Czeslaw Milosz schreiben
- 5/2012 | Die Dichtung hat das Theater verlassen
- 4/2013 | Leichte Übertreibung
- 4/2013 | Der Essay als Raum freien Denkens. Gespräch mit Basil Kerski und Sebastian Kleinschmidt
- 4/2014 | Geh durch diese Stadt in einer grauen Stunde. Gedichte
- 6/2014 | Aleksander Wats Erinnerungen, nach Jahren wiedergelesen
- 6/2015 | Romanlektüre in der Pension »Zuflucht«. Dankrede zum Heinrich-Mann-Preis
- 5/2016 | Alles andere ist leicht. Gedichte
- 2/2018 | Ein Tropenwald von Erinnerungen. Gedichte
- 1/2019 | Die Tür zum Labyrinth des Gedichts. Über Tomas Tranströmer
- 1/2021 | Über Joseph Brodsky, chaotisch
- 5/2021 | Eine Brosche aus Herculaneum. Gedichte
- 3/2022 | Demut und Geheimnis. Ein Gespräch mit Tadeusz Dąbrowski über polnische Dichtung, Bewunderung und Phantasie
Alles werde ich euch sowieso nicht erzählen. Schließlich komme ich aus der osteuropäischen Schule der Diskretion; wir sprechen nicht über (...)
LeseprobeZagajewski, Adam
Fragmente eines nicht existierenden Tagebuchs
Alles werde ich euch sowieso nicht erzählen. Schließlich komme ich aus der osteuropäischen Schule der Diskretion; wir sprechen nicht über Scheidungen und behalten unsere Depressionen für uns. Es passiert ja auch nichts. Das Leben fließt ruhig dahin, ringsum, vor dem Fenster, ein grauer, ungewöhnlich warmer Dezember. Ein paar Konzerte. Im Anwaltsklub in der Sławkowska-Straße gastierte eine ausgezeichnete junge Sängerin. Gestern dann ein sehr schönes Konzert mit Musik von Schostakowitsch (und dem ihm gewidmeten Streichquartett seines Biographen Krzysztof Meyer, »Au delà d'une absence«) - darunter die »Sieben Romanzen nach Worten von A. Blok für Sopran, Violine, Violoncello und Klavier« op. 127, die ich noch nicht kannte. Es spielten Studenten der Musikakademie, voller Enthusiasmus und technisch brillant. Das letzte Werk, eben diese Suite, hat M. und mich ungeheuer beeindruckt. Weil es ein Konzert zum hundertsten Geburtstag von Schostakowitsch war, herrschte eine besondere Atmosphäre. Die Studenten hatten Kerzen angezündet und nur wenige Spots eingeschaltet. Zudem spielten sie offensichtlich außergewöhnlich konzentriert. Das erlebt man oft bei sehr jungen, noch nicht durch Routine und Karriere verdorbenen Musikern, die begeistert, mit Leib und Seele bei der Sache sind.
Ein Gefühl der Freude fast jedes Mal, wenn ich auf dem Krakauer Markt stehe. Zu welcher Jahres- oder Tageszeit auch immer, ich bewundere die Majestät dieses Ortes, die seltsame kubistische Anordnung von Gebäuden, das Miteinander von Symmetrie und Asymmetrie, wie sich die italienische Leichtigkeit der Tuchhallen mit dem gotischen Ernst der Marienkirche verbindet, als seien es gigantische Bauklötze.
Eine Pressemeldung: Die Warschauer Nationalbibliothek hat mit staatlicher Hilfe für eine Million Dollar das Archiv Zbigniew Herberts erworben. Was in den USA eine Sache von Verhandlungen zwischen Bibliothek und Autor (oder seinen Erben) ist, war hier zunächst Gegenstand einer unerfreulichen öffentlichen Polemik - zuerst hatte sich die Beinecke Library in New York um Herberts Nachlaß bemüht, doch dann schlug eine Gruppe rechter Literaten Alarm und protestierte, wie mir schien nicht ganz aufrichtig, gegen »die Veräußerung des Erbes eines unserer großen Dichter an Ausländer«, bis sich letztlich die Rechtsregierung zum Erwerb bereit fand. Zbigniew Herbert, der freie Mensch und bedeutende Dichter, wurde zum Objekt eines politischen Gezänks.
In »Poetry« lese ich Michael Hofmann über Gottfried Benn. Zur gleichen Zeit veröffentlicht die Warschauer »Literatura na Świecie« eine umfangreiche Auswahl aus Benns Gedichten, Briefen und Skizzen - in einer dicken, ihm und Brecht gewidmeten Nummer. Beide starben 1956 und das eherne Gesetz der Jubiläen vereint sie fünfzig Jahre nach ihrem Tod - zwei Dichter, die davon abgesehen nichts miteinander verband. Benn spottete schon früh über die Anwendung der marxistischen Theorie auf die Literatur; mit dieser Haltung stand er im linken literarischen Berlin der Jahre vor Hitlers Machtergreifung allein auf weiter Flur, ein unbeugsamer Ästhet unter dogmatischen Menschheitsverbesserern ... Ab und an greife ich zu Benns Gedichten und fast immer elektrisieren sie mich ("Jena vor uns im lieblichen Tale ...«), genauso wie Passagen aus seinen Skizzen und fast alle Briefe an den Bremer Kaufmann Oelze. Diese Briefe sind ungeniert, mitunter etwas zynisch, manchmal blitzt ein Moment reiner Poesie auf. Benn, ein Kleinbürger durch und durch, der bescheiden wie ein Handwerker lebte (obgleich er Arzt war, Dermatologe, aber kein Modearzt, auch verdiente er nie viel), schätzte Oelze - den er idealisierte, verklärte und dessen gesellschaftliche Stellung er gewiß überbewertete - als Adressaten seiner Gedanken, Provokationen, Beobachtungen und Projekte.
Ich lese Karl Corinos dicke Musil-Biographie. Robert Musil, der Autor der »Verwirrungen des Zöglings Törless« und des »Mannes ohne Eigenschaften«, hielt zum Tode Rilkes eine wunderbare Rede - er war einer der ersten, die seine Größe erkannten. Corino schildert Musils tragikomischen Auftritt auf dem Pariser Kongreß zur Verteidigung der Kultur im Juni 1935. Er wußte nicht, daß es eine kommunistische Veranstaltung war und deshalb dort nur das Hitler-Regime, nicht aber die Sowjetunion kritisiert werden durfte. Musil verteidigte den Individualismus des Künstlers und warnte vor dem in einigen europäischen Ländern aufkommenden Kollektivismus. Er beharrte darauf, daß Kultur und Politik getrennte Bereiche seien; die Kultur sei ihrem Wesen nach hochempfindlich, unstet und unvorhersehbar, und selbst ein anständiges politisches System bringe nicht automatisch große Kunst hervor. Er wurde von jenen Teilnehmern ausgepfiffen, die keine durchdachte, ausgewogene Argumentation, sondern Propaganda erwartet hatten. Corino erwähnt auch die Armut, in der Musil lebte, und daß er in den dreißiger Jahren, als er für sich und seine Frau keine wirtschaftliche Perspektive sah, sogar an Selbstmord dachte. Musil wurde von Nazis und Kommunisten gleichermaßen attackiert - schon der Titel seines großen Romans, »Der Mann ohne Eigenschaften«, mußte sie gegen ihn aufbringen. Beide wollten schließlich einen neuen Menschentyp mit genau bestimmten Eigenschaften schaffen. Für die einen wie für die anderen war er ein Repräsentant der »untergehenden bürgerlichen Epoche«. (Man bedenke, daß diese Epoche keineswegs untergegangen ist - oder vielleicht untergegangen und wiederauferstanden.) Musil verbrachte seine letzten Jahre im Schweizer Exil, wo er noch bescheidener lebte als zuvor, in Armut und Isolation. Eine wichtige Figur war für ihn Thomas Mann, für den er eine, um es mit einem sehr deutschen Wort zu sagen, Haßliebe empfand. Mann hatte immer Erfolg, sogar das Exil war für ihn kein Unglück. Bekannte Musils berichten, daß er, sobald im Gespräch der Name »Mann« fiel, nervös zu zittern begann. Musil hat den »Zauberberg« perfekt charakterisiert: ein »Haifischmagen«. Damit meinte er, daß dieser große Roman unverdaute Stücke europäischer Denksysteme, Anschauungen etc. enthalte. Sein »Mann ohne Eigenschaften« basiert auf einem ganz anderen Prinzip: Hier sind alle Bezüge auf die politische und philosophische Realität mittelbar und mystisch, sie erscheinen als Anspielungen. Musil interessierte der »Möglichkeitsinn«, also das, was sich nur im Konjunktiv ereignet. Die Frage ist aber, ob - in diesem Punkt - nicht doch Mann recht hatte, der in den »Zauberberg« große Bruchstücke der geistigen Wirklichkeit Europas hineinrührte.
[...]
Aus dem Polnischen von Bernhard Hartmann
SINN UND FORM 4/2008, S.437-447, hier S. 437-439
Im Prado hängt ein Bild von Francisco de Zurbarán, das Christus am Kreuz zeigt; zu seinen Füßen stehen aber nicht die traditionellen Figuren der christlichen Ikonographie, sondern ein Maler mit Palette – gewiß ein Selbstporträt, wenngleich der Titel suggeriert, es handele sich um den Evangelisten Lukas. Das Gemälde erweitert das traditionelle Passionsmotiv um ein Bild des Künstlers, das unter anderem für die ästhetische Selbstreflexion steht. Zurbarán sagt uns auf diese Weise, daß die Relation zwischen dem Göttlichen, dem Schmerz und dessen Darstellung selbst für die größten Künstler ein Geheimnis bleibt – so kann man es wenigstens deuten, auch wenn der Maler sein Werk wohl eher, wie Kunsthistoriker meinen, als Lob der Malerei verstanden sehen wollte. (...)
LeseprobeZagajewski, Adam
Über die Treue. Imre Kertész’ geduldige Arbeit am Mythos des Romans
Im Prado hängt ein Bild von Francisco de Zurbarán, das Christus am Kreuz zeigt; zu seinen Füßen stehen aber nicht die traditionellen Figuren der christlichen Ikonographie, sondern ein Maler mit Palette – gewiß ein Selbstporträt, wenngleich der Titel suggeriert, es handele sich um den Evangelisten Lukas. Das Gemälde erweitert das traditionelle Passionsmotiv um ein Bild des Künstlers, das unter anderem für die ästhetische Selbstreflexion steht. Zurbarán sagt uns auf diese Weise, daß die Relation zwischen dem Göttlichen, dem Schmerz und dessen Darstellung selbst für die größten Künstler ein Geheimnis bleibt – so kann man es wenigstens deuten, auch wenn der Maler sein Werk wohl eher, wie Kunsthistoriker meinen, als Lob der Malerei verstanden sehen wollte. Es ist zutiefst anrührend, wie Zurbarán aus der Konvention ausbricht, ohne sie zu brechen, wie er dem Bild, einer meisterhaften und geradezu klassischen Kreuzigung, gleichsam ein Fragezeichen einschreibt.
Bei diesem bemerkenswerten Gemälde an Imre Kertész zu denken mag sonderbar erscheinen. Doch auch in seinem Werk begegnen sich zwei große Themen: das wohl größte uns bekannte Leid und das geduldige Nachdenken über die Möglichkeit und den Sinn, es zu beschreiben. Für Kertész ist das keine Frage des Gedächtnisses; die Erinnerung an manche Tage – zumal den ersten Tag im Lager – verblaßt nie, wie der »Roman eines Schicksalslosen« beweist. Ihn bewegt vielmehr die Frage, wie sich der Bericht aus Auschwitz und Buchenwald und das Nachdenken darüber in die Literatur und das Leben unserer Zeit überführen lassen. Seine Romane, vor allem der »Roman eines Schicksalslosen«, erzählen langsam und gewissenhaft, als richteten sie sich auch an künftige Generationen, die, der Spielereien der letzten Jahrzehnte überdrüssig, wieder einfachere Kost verlangen.
Kertész gehört zu den Autoren, die man durch ihre Essays besser, wenn nicht überhaupt erst versteht. Nicht, weil seine Romane schwierig wären und eines Kommentars bedürften, sondern weil sie im Gegenteil einfach zu sein scheinen und der an Nabokov und Borges geschulte Leser Komplizierungen und Spiegelungen sucht. In seinen Skizzen und Tagebüchern, etwa dem »Galeerentagebuch «, zeigt Kertész die gleiche Bescheidenheit und intellektuelle Redlichkeit wie in seinen Romanen. Das gilt auch für »Die exilierte Sprache«, eine Sammlung von Texten aus den Jahren 1990–2002: Reden bei Konferenzen, Tagebuchfragmente und Texte zu anderen Autoren, darunter ein vorzüglicher, höchst anregender Essay über den von ihm so bewunderten Sándor Márai.
»Die exilierte Sprache« beginnt mit »Budapest, Wien, Budapest«, einer ganz uneitlen Beschreibung seines ersten Wien-Besuchs. Kertész konstatiert die vielen kleinen Demütigungen, die den Osteuropäer erwarteten (und nicht selten noch heute erwarten), der es geschafft hatte, die magische, unseren kleinen Kontinent in zwei Hälften teilende Grenze zu überschreiten. Auch die folgenden Texte zeigen den Autor als stets bescheidenen Menschen. Kertész war zu seinem Glück und zum Glück für seine Weltsicht jahrelang kein Star; in der ungeschriebenen Hierarchie der ungarischen Literatur hatte er nur einen unbedeutenden Platz und war hauptsächlich als Übersetzer deutscher Literatur bekannt. So erzählt er – zur Freude des Lesers, denn bei einem inzwischen berühmten Autor liest sich das wie eine Fabel über den Lohn der Tugend, und das gefällt uns immer –, wie er in Budapest für einen westdeutschen Dramatiker dolmetschte und nicht aus seiner streng definierten Rolle fallen durfte (»Sie sollen nicht gratulieren, Sie sollen übersetzen.«).
Der Autor umkreist sein Hauptthema; mit der Zeit begreift er, daß sein Schicksal (ein verlorenes, wie es im polnischen Titel des »Romans eines Schicksalslosen « genannt wird), so lokal oder provinziell es in gewissem Sinne sein mag, der Reflexion und dem Schreiben eine Fülle von Stoff bietet, wenn man es in die mitteleuropäische Geschichte einbettet – eine Jugend in Auschwitz und Buchenwald, die Befreiung durch die US-Armee, Rettung, Heimkehr, kurze Begeisterung für den Kommunismus, arbeitsreiche graue Jahre in der Volksrepublik, dann das Ende des sowjetischen Sozialismus und die Leere der neuen Wirklichkeit. Auf originelle Weise bleibt er diesem verlorenen, nach und nach wiedergewonnenen Schicksal treu, er legt es frei wie ein Archäologe, der, sich selbst erforschend, am Fundament des eigenen Hauses gräbt.
Doch Kertész, der gerne Zitate einstreut, beruft sich auch auf Camus: »Und dabei habe ich noch nicht von der absurdesten Gestalt gesprochen: dem schöpferischen Menschen.« Obgleich er sich nicht allzu konkret für die Philosophie des Absurden interessiert, ist er nicht frei von Zweifeln, sein Tun scheint ihm zuweilen sogar absurd. Er zweifelt oft, doch es sind beinahe erlösende Zweifel, durch die er, auch wenn sie ihm das Schreiben noch schwerer machen und seinen Verleger schier zur Verzweiflung treiben, seine Aufgabe besser versteht. Kertész bleibt seinem Leben treu, dem Leben eines Juden, der »einst von den rechtmäßigen Behörden seines Landes – Ungarn – im Rahmen zwischenstaatlicher Vereinbarungen als versiegelte Warenlieferung an eine fremde Großmacht übersandt wurde zu dem ausdrücklichen Zweck seiner Ermordung«. Er bleibt seinem Leben treu, ohne dessen Gefangener zu werden. Er schreibt Essays, in denen er verwundert sein Schicksal, sein Schreiben und seine Obsessionen betrachtet und hinterfragt.
Indem er sich in Frage stellt, reagiert er auf einen Vorwurf, den er womöglich gar nicht kennt, was aber unwichtig ist, weil er nicht ihm, sondern allen Autoren gemacht wurde, die am eigenen Leibe erfahrenes historisches Unrecht literarisch verarbeiten. Der große W. B. Yeats hatte im »Oxford Book of Modern Verse«, einer Anthologie englischsprachiger Lyrik, die War Poets, darunter Wilfred Owen, einen der wichtigsten literarischen Zeugen des Ersten Weltkriegs, ausgelassen und wurde deshalb kritisiert. In seiner Erwiderung gebrauchte Yeats den von Matthew Arnolds geprägten Begriff des passive suffering. An Dorothy Wellesley schrieb er, Owens Gedichte verzeichneten, wie ein Seismograph, lediglich die Reaktion auf ein welthistorisches Ereignis und nicht den Kampf eines freien Menschen mit der Welt, einen Kampf, in dem auch der Mensch schuldig werden könne und in dem sich die Waagschalen bis zum Schluß höben und senkten.
Nach Yeats’ strengem Maßstab müßte man wohl nahezu die ganze Literatur Mitteleuropas als lächerlich eindimensional abtun, als vielstimmige Klage in der Art eines gigantischen und lachhaften passive suffering-Oratoriums. Es fragt sich aber, ob die Auffassung des großen Iren heute noch gelten kann. Müßte man ihm nicht vielmehr einen verspäteten Brief schreiben, der so beginnen könnte:
»Lieber William Butler Yeats,
noch immer bewegt uns Ihr Vorwurf gegen den armen Wilfred Owen. Die Debatte ist inzwischen – verspätet wie alle literarischen Erscheinungen – in dem Teil Europas angekommen, den manche als Ost-, manche als Mitteleuropa bezeichnen. Wir kennen Ihre Meinung und wissen, Sie mögen keine Lyrik – heute würden Sie wohl von Literatur insgesamt sprechen –, die auf individuell erlittenes historisches Unrecht reagiert, keine Dichter, die in ihrer unschuldigen Seele die Schläge der brutalen Welt registrieren. Sie glaubten vermutlich nicht an die Unschuld der Dichterseele, sondern hielten den Menschen für frei und meinten, er müsse immer auch nach der eigenen Schuld fragen. Die Auseinandersetzung mit anderen, so sagten Sie, erzeuge Rhetorik, Lyrik entstehe in der Auseinandersetzung mit sich selbst.
Doch betrachten Sie die europäische Geschichte. Nach Ihrem Tod im Januar 1939 breitete sich das Böse, das auch Sie kannten und über das Sie in schönen Gedichten meditierten, weiter aus. Es blühte schon zu Ihren Lebzeiten; Sie konnten nicht alles wissen, haben vielleicht nicht jeden Tag Zeitung gelesen; manches haben Sie auch bagatellisiert … Nun aber erlangte das Böse, das Sie nicht als Inspiration für Gedichte, Romane oder Dramen akzeptierten, eine solche Macht, daß die Befolgung Ihres Postulats, die Dichtung müsse passives Leiden vermeiden, den Tod der Imagination und das Aussterben der schönen Literatur bedeutet hätte. Die Anthologien wären leer geblieben, die Regale in den Buchläden verödet…
Manche Autoren sind buchstäblich durch die Hölle gegangen, obwohl sie – es wird Ihnen schwerfallen, das zu glauben – unschuldig waren. Was hätten die wenigen, die überlebten, denn tun sollen? Sie mußten beschreiben, was sie erlebt hatten, ohne die Schuld an ihrem Leid bei sich zu suchen. Das wäre einer Lüge gleichgekommen. Sie konnten nicht Ihnen zuliebe diese Zeit aus dem Gedächtnis streichen und auf ein aktiveres Leiden warten. Sie waren zu passivem Leiden verurteilt …
Und sollten nicht gerade wir Christen – gewiß, Ihre Religiosität war fern jeder Dogmatik – Verständnis für das passive suffering haben? Was war Christi Tod am Kreuz denn anderes …«
So könnte der Anfang eines Briefs an W. B.Yeats aussehen, in dem noch manches zu sagen wäre. Unterzeichner wären »einige mitteleuropäische Schriftsteller «, keine Verbandsfunktionäre, sondern ausschließlich Privatpersonen, darunter fiktive. Kertész könnte dazu gehören. In seinen Werken spricht ein Mensch, der das Schlimmste durchgemacht hat, aber auch – als wäre ein Schriftsteller kein Mensch – ein humorvoller, gelassener Autor, der seine Privilegien und Grenzen kennt. Dieser Autor erinnert an den Maler auf Zurbaráns Gemälde, er steht oft unter dem Kreuz, mit mitfühlendem, unsicherem Blick und einer Palette, auf der ein großes Fragezeichen leuchtet. Nur ist die Palette des Schriftstellers komplexer und zumeist unsichtbar – sie wäre schwer zu malen. Sie enthält viele Farben und Wesenszüge, die bei jedem Romancier oder Dichter anders sind. Kertész ist undogmatisch; zum Mißfallen vieler, die über die Erinnerung an die Shoah wachen, malt er auch ein ungeschöntes Bild des kommunistischen Totalitarismus. Man müßte noch einmal an Yeats schreiben, denn indem Kertész seiner Themenliste die Tristesse und alltägliche Grausamkeit des Kommunismus hinzufügt, verlängert er sein Sündenregister um ein zweites passive suffering. Doch hätte er als aufmerksamer und ehrlicher Beobachter anders handeln können?
Kertész stellt sich diesem Problem mit Humor. Vor allem aber glaubt er an die Literatur. In »Liquidation« sagt die Hauptfigur: »Doch ich glaube an die Literatur. An nichts sonst, einzig und allein an die Literatur. Die Menschen leben wie die Würmer, aber sie schreiben wie die Götter. Einst war es ein bekanntes Geheimnis, heute ist es in Vergessenheit geraten: Die Welt besteht aus Scherben, die auseinanderfallen, sie ist ein dunkles, zusammenhangloses Chaos, allein vom Schreiben zusammengehalten. Daß du überhaupt eine Vorstellung von der Welt hast, daß du weißt, was alles in der Welt geschehen ist, ja, daß du überhaupt eine Welt hast: das alles hat das Schreiben für dich erschaffen und erschafft es ununterbrochen, es ist der unsichtbare Spinnenfaden, der unser aller Leben zusammenhält, der Logos.«
Kertész’ Glaube an die Literatur und an das, was die Griechen Logos nannten, ist wohl seine größte Stärke. Er bewahrt ihn davor, in die Zeugenrolle gedrängt zu werden. In der angelsächsischen Literaturkritik wird Autoren, die über ihre Totalitarismuserfahrungen schreiben, oft das Etikett witness angeheftet – gemäß der Logik des Gerichtsverfahrens, in dem die Zeugenaussage nur ein Baustein ist und das letzte Wort, die abschließende Analyse und Deutung dem Richter vorbehalten sind. Ein wahrer Dichter oder Romancier ist aber nie bloß Zeuge; wenn er an den Logos glaubt, ist er zugleich Ankläger, Verteidiger und Richter seiner Welt. Doch der Vergleich des Logos mit einem Spinnenfaden sagt noch mehr: Für Kertész bietet der Logos Struktur, Konstruktion und Rettung, er ist aber auch Bedrohung und Falle, etwas Klebriges und Gefährliches.
Kertész fasziniert als Autor, der seinen Zeugenbericht ständig ergänzt, als handele es sich – im künstlerischen, nicht im faktographischen Sinne – um etwas Unabschließbares, wie die Suche nach Wahrheit. Sein Hauptwerk, der »Roman eines Schicksalslosen«, ein erschütterndes und doch ganz einfaches Buch, wird von anderen Romanen und Essays umrahmt, die alle die große Frage nach der Würde und der Bedeutung des Wortes stellen. Kertész verwahrt sich gegen jede Abwertung der Literatur. Sein Werk ist voller Zweifel, ob man das Grauen überhaupt darstellen kann, doch anders als viele Literaturtheoretiker stellt er den Wert des Worts nicht in Frage. Gleichwohl – die Spinnenfaden- Metapher! – kennt er auch die Debatten über die Unzuverlässigkeit der Sprache.
Er arbeitet am Mythos des Romans, des großen läuternden Romans; »Fiasko« und »Liquidation« handeln weniger von Menschenschicksalen als vom Schicksal des Romans, das heißt von dem einen fundamentalen, notwendigen Roman, den er schreiben wollte und auch schrieb – und von dem er weiter träumte, an dem er weiter arbeitete, obwohl er schon veröffentlicht war. Kertész’ Denken kreist um die Verteidigung des Logos; aber er ist kein abstrakt analysierender Philosoph, er ringt mit sich, mit dem Material seines Lebens und seiner Erinnerung.
Wenn man die Möglichkeiten betrachtet, die Autoren in unserem Teil Europas haben, dann markieren Imre Kertész und Emil Cioran – diese Verbindung liegt näher als die zu Zurbarán – die beiden Pole. Der Aphoristiker und Essayist Cioran – ein hochintelligenter, sprachmächtiger Autor, dem wir uns mit Sympathie, Bewunderung und Neugier, manchmal aber auch kritisch und sogar widerwillig zuwenden – wollte vermittels des Schreibens, der (französischen) Sprache seinem Leben entfliehen oder zumindest Abstand zu ihm gewinnen. Kertész hingegen, weniger raffiniert und weniger an Paradoxen interessiert, entscheidet sich für die Treue; er bleibt seinem Leben treu, bleibt sich treu als ungarischer Jude und Mensch, der Buchenwald und den Kommunismus überlebt hat, der viel gelesen und nachgedacht hat und der es nie besonders eilig hatte. Er verfügt über kein spektakuläres Material, überrascht den Leser nicht mit neuen Schreibweisen, und »Kaddisch für ein ungeborenes Kind« steht vielleicht zu sehr unter dem stilistischen Einfluß von Thomas Bernhard. Kertész dramatisiert sein Schicksal nicht oder jedenfalls nur so weit, wie es die Literatur verlangt (auch Schweigen kann dramatisch sein). Seine Bücher zeugen von bewundernswerter Beharrlichkeit beim Suchen und Bearbeiten dessen, was ihm aufgegeben wurde. Wir spüren, daß wir es mit einem zutiefst aufrichtigen Autor zu tun haben, der sich vor allem für das interessiert, was ist. Und der das Nachdenken über den Wert des Wortes wie einen Schirm über sein Schreiben spannt.
Aus dem Polnischen von Bernhard Hartmann
SINN UND FORM 6/2009, S. 751-756
Vor nicht allzu langer Zeit waren viele Europäer bereit, für ihr Land, für Frankreich, Deutschland oder auch Polen, zu sterben. Für Europa (...)
LeseprobeZagajewski, Adam
Unser Europa
Vor nicht allzu langer Zeit waren viele Europäer bereit, für ihr Land, für Frankreich, Deutschland oder auch Polen, zu sterben. Für Europa möchte heute wohl niemand sein Leben geben. Ist Europa also nur eine Fiktion? Wenn ja, dann eine verlockende. Nicht so real wie Gott, der Tod, das Schöne, wie Italien und Rom, das Christentum, Gut und Böse, Liebe und Sehnsucht, aber realer als der Sozialismus, als Vollbeschäftigung, klassenlose Gesellschaft und internationale Solidarität, realer auch als visionäre Politiker oder altruistische Künstler.
Hugo von Hofmannsthal, der österreichische Rimbaud, der lieber ein österreichischer Goethe gewesen wäre, schrieb nach dem Zusammenbruch der Habsburger Monarchie an Carl Jakob Burckhardt: »Meine Heimat habe ich behalten, aber Vaterland habe ich keins mehr, als Europa.« Der Ungar Sándor Márai hingegen schrieb in seinem Tagebuch, er lebe in den USA, weil er nur hier die Hoffnung habe, ein ungarischer Schriftsteller bleiben zu können. Czesław Miłosz gab einem seiner Bücher den bezeichnenden Titel »Rodzinna Europa« (Heimatliches Europa); doch im englischen ("Native Realm«), französischen ("L'autre Europe«) und deutschen Titel ("West- und östliches Gelände«) fehlt der Hinweis auf Europa als Heimat. Und Zbigniew Herberts Essayband »Ein Barbar in einem Garten« ist eine Hymne auf Europa, eine Liebeserklärung an die europäische Kunst, die er in den Städten Italiens, in der Höhle von Lascaux, in gotischen Kathedralen und in den Meisterwerken der Malerei bewunderte. Was bedeutete ihnen allen Europa?
Hofmannsthal war wohl der letzte europäische Autor, der in seiner Jugend den Anspruch hatte, die Fülle des Lebens mit den traditionellen Mitteln zu erfassen. Später zitierte er Novalis: »Nach verlorenen Kriegen soll man Lustspiele schreiben!« Er verklärte die Donaumonarchie zu einem Hort des Liberalismus, wo die Traditionen des spanischen Hofes mit seinen Malern und Dichtern – Velázquez und Goya, Calderon und Cervantes – auf starke germanische Strömungen trafen und durch italienisches Genie und slawische »tiefe Halbtöne« bereichert wurden. Daß aus dem majestätischen Kaiserreich ein nationalistischer Kleinstaat wurde, war für Hofmannsthal eine Katastrophe. Seine einzige Hoffnung war der Gedanke an ein übernationales Europa.
Heute würde er sicher wohlwollend und ein wenig neidisch auf uns Europäer blicken, aber vielleicht wäre er auch enttäuscht. Jetzt haben wir diesen übernationalen Raum, wo die Nationalismen weitgehend gezügelt sind, und diskutieren allenfalls, wie er besser zu nutzen sei. Haben sich damit die hochfliegenden Träume unserer Vorfahren erfüllt? Haben wir Kraft und Glanz der europäischen Tradition bewahrt? Was hielte Hofmannsthal von den Wortgefechten in Brüssel und Straßburg? Würde er seine Vision von Europa wiedererkennen? Wäre er zu Recht enttäuscht? Und was könnten wir ihm sagen? Daß dies eben die Kluft zwischen Utopie und Wirklichkeit ist? Müßten wir ihn in die traurigen oder goldenen zwanziger Jahre, in seine Bibliothek zurückschicken? Oder müßten wir zugeben, ja, so ist es, wir müssen Europa immer wieder neu denken und schaffen, damit es nicht bloß eine Freihandelszone ist.
Als Zbigniew Herbert Ende der fünfziger Jahre aus dem Schmutz und dem Grau seines von den Nazis zerstörten und von stalinistischen Architekten hastig wiederaufgebauten Landes herauskam, freute er sich, daß es Siena noch gab und die Gemälde Piero della Francescas Bilderstürmerei und Kriegsbrände überstanden hatten. Zu dem wenigen Guten, das sich über den sowjetischen Kommunismus sagen läßt, gehört, daß er durch seine Mittelmäßigkeit und Brutalität große Sehnsucht nach den Schätzen der europäischen Kultur weckte. Herbert schreibt aber auch über die grausame Verfolgung der Albigenser. Die Freude über die Schönheit Europas macht ihn nicht blind für die europäischen Dämonen.
Doch zurück zu Márai, dem Emigranten, Schriftsteller und Reisenden. Seine Aussage, nur in Amerika ein ungarischer Autor bleiben zu können, ist ein paradoxes Kompliment für Europa: Sie bezeugt seine Kraft und seine unerschütterliche Identität, die mit der gewissermaßen ungefestigten amerikanischen Kultur nicht zu vergleichen sind. Offenbar konnte er in Amerika die Erinnerung an seine Kindheit in Kaschau (heute Košice in der Slowakei) und an die ungarische Lyrik besser bewahren als in Frankreich, Italien oder England, und sich in Kalifornien oder New Jersey dem Reiz kleiner Provinzstädte leichter entziehen. Das lag womöglich am provisorischen Charakter der amerikanischen Städte, deren Holzhäuser man jederzeit per Lastwagen umsiedeln kann (sie ziehen dann wie traurige Schoner über die Autobahnen). Wäre Márai Dozent an einem College gewesen, hätte ihm die dort im Vergleich zu Europa viel größere Offenheit und Gastfreundlichkeit ebenfalls geholfen, ein ungarischer Autor zu bleiben.
Für Leszek Kołakowski unterscheidet sich Europa nicht nur durch sein kulturelles Erbe von anderen Kontinenten, sondern auch durch seine Fähigkeit zu Kritik und Selbstkritik, zu der es Schriftsteller und Philosophen, Natur- und Geisteswissenschaftler geradezu anhält. Europa sei fähig, schlecht über sich zu reden (manchmal sogar zu schlecht), und könne deshalb seine Untaten und Verbrechen bis zu einem gewissen Grad durch geistige Offenheit ausgleichen. Dabei wisse es womöglich gar nicht, wie sehr es von den inneren Spannungen des Christentums profitiere, denn gerade das Bemühen, radikale theologische Positionen miteinander in Einklang zu bringen, sei ein wertvolles Modell für das Austarieren widerstreitender gesellschaftlicher Interessen.
Czesław Miłosz schrieb sein autobiographisches »West- und Östliches Gelände« in den fünfziger Jahren in Paris, wo er übrigens als Renegat und Verräter an der Sache des Proletariats galt. Wie Hofmannsthal brauchte er einen Raum ohne Chauvinismus und Staatsterror, und wie Johannes Paul II., wenngleich auf anderer Ebene, arbeitete er sein Leben lang darauf hin, daß Ost- oder Mittelosteuropa als integraler Bestandteil der europäischen Kultur wahrgenommen würde und nicht als wildes, von tristen Flüssen durchzogenes Ödland, ubi leones.
Für Márai war Schreiben mehr als das Erschaffen schöner Literatur, es bedeutete auch das Streben nach Wahrheit. In der Emigration, in Italien, Frankreich, der Schweiz und den USA, überall dachte er an einen aus der Mode gekommenen Begriff: Europa (wenn er in Mode war, galt er nicht für unseren Teil des Kontinents). In seinen »Tagebüchern« gibt es eine Eintragung aus der Kriegszeit, die wie eine Geschichte Europas in Kurzform anmutet: »Der Europäer pflegte über lange Zeit in ruhigem Vertrauen zu sagen: ›Mein Gott'. Später, in plötzlicher Aufwallung, sagte er ernst und drohend: ›Meine Religion'. Noch später begann er aufgeregt nachzuplappern: ›Mein Vaterland, meine Nation'. Inzwischen grölt er mit blutunterlaufenen Augen in wirrem Gestammel: ›Meine Rasse'. Damit hat er aufgehört, Europäer zu sein.« An anderer Stelle rühmt er Europas Größe und bedauert, daß es nicht existiere. Auch das ist Márai; aber denken wir manchmal nicht ebenso?
Es kostet nicht viel, den europäischen Geist zu beschwören, Europas Vergangenheit, seine alten Mauern und malerischen Ruinen zu besingen. Was für eine Freude ist etwa ein Besuch in Benedetto Croces Archiv in der Altstadt von Neapel. In den hellen Räumen voller Bücher schwebt noch die Aura eines großen europäischen Denkers.
Die moralische Bilanz unseres kleinen, intelligenten Kontinents ist nicht annähernd so positiv: Ursprungsort von Faschismus, Nazismus, Kommunismus, Kolonialismus, der Shoah. Der europäische Geist hat nicht nur Gutes hervorgebracht. Zu den Verbrechen und Verfehlungen gehört auch die oft verschwiegene Gleichgültigkeit des Westens gegenüber dem sowjetisch beherrschten Osteuropa. Daß die Westeuropäer nicht sehen wollten, was dort geschah, wäre noch zu verstehen, weil es ja menschlich ist. Viel schlimmer ist, daß trotz Orwell nicht wenige hochgelehrte Akademiker von ihren behaglichen Wohnungen in Paris oder London aus den Leuten in Budapest, Warschau und Prag erklärten, warum das sowjetische System trotz aller zeitweiligen Schwierigkeiten (aus unerfindlichen Gründen gab es ständig zeitweilige Schwierigkeiten) der westlichen Demokratie überlegen war. Während eines Besuchs in Warschau wollte Sartre seinen verbitterten Gesprächspartnern doch tatsächlich einreden, dass der Sowjetkommunismus eine bessere Zukunft verheiße. Als Stephen Spender bei einem Vortrag Ende der fünfziger Jahre in Warschau polnische Intellektuelle fragte: »Sind unter Ihnen Kommunisten?«, erwiderten diese nach kurzem Zögern: »Sie kommen zu spät, Sir.« Die Liste der westeuropäischen Intellektuellen und Künstler, die sich einer solchen Leichtgläubigkeit und Ignoranz schuldig machten, ist lang und bekannt; sogar der Theologe Karl Barth gehörte dazu (zur Politik hat Gott anscheinend nichts gesagt).
Und auch das jämmerliche Zögern und Nichteingreifen während der Kriege im ehemaligen Jugoslawien ist nicht vergessen; in Sarajevo, Srebrenica und anderswo hat Europa sich nicht mit Ruhm bedeckt, obwohl die europäische Rhetorik blühte und es zahlreiche Europa-Konferenzen gab. Wie können wir sicher sein, daß sich diese Passivität bei ähnlichen Tragödien nicht wiederholt? Manchmal hat es den Anschein, als wären die Europäer eine Literatengemeinschaft: Sie lieben das Wort, aber wie steht es mit der Tat?
[…]
Aus dem Polnischen von Bernhard Hartmann
SINN UND FORM 1/2011, S. 5-10
BASIL KERSKI: Gedicht und Essay sind in der polnischen Literatur diejenigen Gattungen, die am deutlichsten mit eigener Stimme sprechen. Hier (...)
LeseprobeZagajewski, Adam
Der Essay als Raum freien Denkens.
Gespräch mit Basil Kerski und Sebastian Kleinschmidt
BASIL KERSKI: Gedicht und Essay sind in der polnischen Literatur diejenigen Gattungen, die am deutlichsten mit eigener Stimme sprechen. Hier fanden die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts ihren besonderen polnischen und zugleich universellen Ausdruck. Ein Meister beider Gattungen ist Adam Zagajewski. Sebastian Kleinschmidt fördert sie in der von ihm geleiteten Zeitschrift Sinn und Form in eindrucksvoller Weise. Gedichte und Essays aus Polen waren in den letzten beiden Jahrzehnten – vor allem dank der Übersetzungen Henryk Bereskas und Bernhard Hartmanns – in der Berliner Akademie-Zeitschrift sehr präsent. Für Zagajewski ist Sinn und Form neben dem Münchner Hanser Verlag inzwischen zur literarischen Heimat in Deutschland geworden. Herr Kleinschmidt, wo und wann sind Sie Adam Zagajewski das erste Mal begegnet?
SEBASTIAN KLEINSCHMIDT: Das muß Anfang der neunziger Jahre im Literarischen Colloquium am Wannsee gewesen sein.
KERSKI: Kannten Sie damals schon das Werk von Zagajewski?
KLEINSCHMIDT: Nein, leider nicht. Es war eine Zufallsbegegnung, aber sie mündete schon bald in eine fruchtbare Zusammenarbeit. 1994 erschienen Adams erste Gedichte in Sinn und Form und 1995, verteilt auf zwei Hefte, der umfangreiche Essay »Zwei Städte«, ein poetisch-philosophischer Versuch über die polnische Erfahrung von Heimatverlust. Nicht immer weckt ja die Begegnung mit einem Autor die sofortige Neugier auf sein Werk. In meinem Elternhaus verkehrten viele Schriftsteller, ich habe sie schon als Kind kennengelernt, und in einigen Fällen führte das sogar dazu, daß ich ihre Bücher bis heute nicht gelesen habe. Meine Begegnung mit Adam hat sofort mein geistiges Interesse an seinen Sachen geweckt.
KERSKI: Haben Sie bei Ihrer ersten Begegnung gespürt, daß Sie einer Generation angehören? Hat das zu einem Gefühl der Nähe geführt?
KLEINSCHMIDT: Wir sind vom Alter her nur drei Jahre auseinander, das fällt nicht allzu sehr ins Gewicht. Doch zunächst wurden mir eher die Unterschiede deutlich. Adam ist eben ein polnischer Intellektueller, und die polnischen Intellektuellen waren den DDR-Intellektuellen in mancher Hinsicht eine Epoche voraus. So gesehen schien mir Adam doch einer anderen Generation anzugehören.
KERSKI: Herr Zagajewski, wie haben Sie die erste Begegnung mit Sebastian Kleinschmidt erlebt? Sie, ein damals in Paris lebender, kosmopolitischer polnischer Dichter, und er, ein neugieriger Ostdeutscher, der gerade seine ersten Erfahrungen mit der freien Welt gesammelt hatte?
ADAM ZAGAJEWSKI: In Sebastian Kleinschmidt bin ich zum erstenmal jemandem aus der DDR begegnet, der gegenüber Phänomenen, die dort nicht präsent waren, eine besondere Neugier hatte. Diese edle Neugier spiegelt sich in Sinn und Form wider. Die Quelle unserer Freundschaft war nicht das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Generation. Das Gemeinsame war das Interesse an Religion und Theologie, das aber nichts mit konventioneller Religiosität zu tun hatte. Beide hielten wir ein wenig Abstand zum Zeitgeist, beide waren wir ein wenig abseits der Mode.
KERSKI: Als mir Mitte der neunziger Jahre Sinn und Form in die Hände fiel, war ich angenehm überrascht vom starken mitteleuropäischen Profil der Zeitschrift: ein Periodikum auf der Suche nach verschütteten literarischen und philosophischen Traditionen in Europa, eine Redaktion, die in alle Himmelsrichtungen schaute, nicht nur zu den westlichen Kulturmetropolen. Die Aufgeschlossenheit gegenüber den östlichen Nachbarn war eine in der damaligen deutschen Kulturlandschaft eher selten anzutreffende Haltung. Herr Kleinschmidt, wie ist es nach 1989 – gegen den damaligen Trend in Ostdeutschland – zu dieser erstaunlichen Präsenz der mittel- und osteuropäischen Literatur in Sinn und Form gekommen?
KLEINSCHMIDT: Sinn und Form ist von 1949 bis 1989 philosophisch ganz auf den ja nicht nur unehrenhaften Pfaden der sozialistischen Idee und einer marxistisch verstandenen Kultur gewandelt, freilich mit größerer innerer Freiheit, mehr Phantasie, weniger Engstirnigkeit als vergleichbare Zeitschriften in der DDR. Zum offiziellen Vokabular wurde zwar Abstand gehalten, die geistige Zugehörigkeit zum kommunistischen Gedankenkreis aber nicht in Frage gestellt. Nach Jahren einer schleichenden Erosion erlebten wir dann 1989 quasi über Nacht und mit reißender Schnelle die institutionelle Implosion des ganzen staatssozialistischen Begriffsgebäudes. Das Besondere daran war: Hier begann eine Revolution einmal nicht mit der Illusion, sondern mit der Desillusion. Als die Illusion auf dem Tiefpunkt und die Desillusion auf dem Höhepunkt war, brach der Status quo in sich zusammen. Das Scheitern der Utopie, die Niederlage der Idee setzten eine gewaltige Erfahrung frei, übrigens eine Erfahrung, die uns einen gewissen Vorsprung vor den westdeutschen Generationsgenossen eintrug, denn die hatten das alles nicht am eigenen Leibe erlebt. Auf einmal stand die Erfahrungsfülle des Ostens gegen die Erfahrungsarmut des Westens. Das veränderte nicht nur unser Denken und unsere Sprache. Wir mußten uns gänzlich neu orientieren. Einen Mentor, der uns den rechten Weg gewiesen und das Ziel gesteckt hätte, gab es nicht. So gerieten wir in eine Art philosophische Unruhe, in eine schöpferische Verfassung. Und wer in schöpferischer Verfassung ist, hat ein untrügliches Gefühl dafür, wo der Geist weht und wo nicht. Also fingen wir an zu suchen, aber es war keineswegs so, daß wir wußten, wonach wir suchten. Erst als wir fündig geworden waren, wurde uns klar, was wir gesucht hatten. Das aber, was wir fanden, war nicht das, was im Westen gerade Erkenntniskonsens war.
KERSKI: Ich frage nach Sinn und Form, um jenen Geist einzufangen, der meiner Ansicht nach auch für das essayistische Werk von Adam Zagajewski und Sebastian Kleinschmidt prägend ist. Was die Attraktivität der Zeitschrift nach 1989 ausmacht, ist ja nicht nur das sichere Gespür für herausragende Autoren und Denker, sondern auch die im Westen verschollene Neugier auf das Metaphysische und Theologische, also eine Haltung, die in den neunziger Jahren in der alten Bundesrepublik unter Intellektuellen eher verpönt war. Metaphysik, religiöse Fragen, das scheint mir eine wichtige Verbindungslinie zwischen Ihnen beiden zu sein.
KLEINSCHMIDT: Ich komme aus einem evangelischen Pfarrhaus und habe die religiöse Sphäre schon als Kind kennengelernt. Mein Vater war Domprediger in Schwerin, Linkslutheraner und bekennender Sozialist. Durch ihn konnte ich erfahren, wie bestimmte Dinge, die für die meisten getrennt waren, doch zusammengehörten. Wer von Berufs wegen mit Sinnfragen konfrontiert wird – und als Chefredakteur einer Zeitschrift, die Sinn und Form heißt, wird man damit konfrontiert –, der kann der Theologie nicht aus dem Weg gehen, denn ohne Theologie kommt man hier nicht voran, wie immer man auch zu ihr stehen mag. Man kann sogar in ein produktives Verhältnis zur Theologie gelangen, wenn man gänzlich unreligiös ist – was ich von mir gar nicht sagen würde.
ZAGAJEWSKI: Für mich sind Sinn und Form und Sebastian Kleinschmidt nicht so leicht voneinander zu trennen. Sinn und Form ist für mich ein Haus, in dem ich zwar nicht wohne, aber es ist eins der wenigen Häuser in der Welt, die ich kenne. Es gibt heute – vielleicht besonders in Deutschland, aber nicht nur in Deutschland – falsche Trennungen. Auf der einen Seite hat man das sogenannte fortschrittliche Lager und die linksliberale Meinung, mit ihrer ironischen Literatur, die überhaupt kein metaphysisches Interesse hat; und auf der anderen Seite stehen die sogenannten Rechten. Man weiß nie, was ›diese Rechten‹ denken. Sind sie nun getarnte Faschisten oder nicht? Das ist natürlich eine grobe Vereinfachung, aber sie spiegelt doch die Klischees gut wider. Sinn und Form repräsentiert meiner Ansicht nach einen Denkstil, der diese falsche Trennung zwischen dem linken, liberalen, ironischen und nicht-metaphysischen Denken auf der einen Seite und dem religiösen, metaphysischen und politisch ›verdächtigen‹ Denken auf der anderen Seite aufhebt. Sie repräsentiert quasi die Mitte. Das ist großartig. Ich sehe hier ein Denken, das auf der Suche ist, das den Geheimnissen der Welt nachgeht, das zu keiner festen Form geronnen ist, das gewillt ist, klischeehafte Vorstellungen von geistigen Haltungen, geistiger Reizbarkeit abzuschaffen.
KERSKI: Herr Kleinschmidt, eine wichtige Inspirationsquelle für Sie ist das Werk von Hans-Georg Gadamer. Eine der ersten Reisen nach dem Mauerfall führte Sie 1990 zu Gadamer nach Heidelberg. Ihr Gespräch mit ihm erschien 1991 in Sinn und Form. Kann man dieses Gespräch als programmatisch für die Aufbruchszeit Ihrer Zeitschrift nach der deutschen Vereinigung betrachten?
KLEINSCHMIDT: Adam sprach von der Mitte, um den geistigen Standort von Sinn und Form zu lokalisieren. Gadamer verkörpert für mich den Denktypus der offenen Mitte und des unkonventionellen Mittlers. Er ist ein Beispiel dafür, daß die Dialektik der mesotes, wie Aristoteles das nannte, nicht nur politisch vernünftiger, sondern auch geistig interessanter ist als die Extreme links und rechts davon. Immer gilt das nicht, aber in Gadamers Fall gilt es. In der Begegnung mit diesem außerordentlichen Mann habe ich oft genug erlebt, daß die Mitte, will sie anregend, fruchtbar und ausgleichend sein, die Berührung mit abweichenden, gegensätzlichen, ja gefährlichen Gedanken nicht scheuen darf. Dazu braucht es Souveränität, Toleranz, innere Freiheit, Liberalität und, wie an ihm zu sehen, philosophische Gelassenheit. Wenn dann auch noch Humor dazukommt, kann eigentlich nichts passieren. Sobald ich Gadamer lese, erfahre ich das Paradox der Zentrierung: mein Denken kommt in Bewegung, und ich selbst komme zur Ruhe. Ich werde in meine eigene Mitte gestoßen oder, besser, gelockt.
KERSKI: Ihre Faszination für Gadamer haben Sie in ihrem Essay »Gegenüberglück « beschrieben. Unter diesem Titel ist 2008 auch eine Sammlung Ihrer Essays und Gespräche bei Matthes & Seitz Berlin erschienen. Den Gadamer-Beitrag kann man nicht nur als Annäherung an die hermeneutische Philosophie, sondern auch an die Gattung des Essays lesen. Sie charakterisieren Gadamers Verstehenslehre als eine Philosophie der Aufmerksamkeit, des Zuhörens, der Neugier auf anderes, des wechselseitigen Lernens im Gespräch. Gadamers unvergleichliche Art, Gespräche zu führen, sein Verknüpfen von Erzählen, Reflektieren, Anspielen und Vertiefen, von Ernst und Ironie, beschreiben Sie voller Bewunderung. Alle diese Elemente könnte man auch als schöne und unerläßliche Bestandteile einer Kunst des Essays ansehen.
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SINN UND FORM 4/2013, S. 508-518
Die erste Ausgabe von »Mój Wiek« (Mein Jahrhundert) erschien 1977 in London, genau zehn Jahre nach dem Tod des Autors (die deutsche Fassung aus (...)
LeseprobeZagajewski, Adam
Aleksander Wats Erinnerungen, nach Jahren wiedergelesen
Die erste Ausgabe von »Mój Wiek« (Mein Jahrhundert) erschien 1977 in London, genau zehn Jahre nach dem Tod des Autors (die deutsche Fassung aus dem Jahr 2000 trägt den Titel »Jenseits von Wahrheit und Lüge. Mein Jahrhundert. Gesprochene Erinnerungen 1926–1945«). Wats Freunde im Exil waren sicher verärgert, weil sich die Veröffentlichung so lange hinzog, aber für die Leser in Polen war es ein besonderer, gleichsam sorgfältig gewählter Moment – im Land entstand gerade die Massenopposition, die damals noch elitär, das heißt auf Bildung ausgerichtet und dem Lesen zugeneigt war. Die Bewegung brachte Hunderte, wenn nicht Tausende Leser hervor, die sehnsüchtig auf ein neues ernsthaftes Wort zur dunklen Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts warteten. Wats Buch war eine Sensation; zugänglich nur in einer kleinen Anzahl von Exemplaren (bis es im Samisdat in weniger eleganter, aber zugänglicherer Form erschien), wurde es von Hand zu Hand weitergereicht, nachts verschlungen, eilig und in angespannter Konzentration; in unterschiedlichen Städten bildeten sich Schlangen von Menschen, die auf das Buch warteten und darüber diskutierten … Neben den Erinnerungen Nadeschda Mandelstams, die mit »Jahrhundert der Wölfe« gleichsam den Tod Ossip Mandelstams rächen wollte, neben Alexander Solschenizyns »Archipel Gulag« und Gustaw Herling-Grudzińskis »Welt ohne Erbarmen« war Wats Buch unverzichtbar für jeden, der Aufklärung suchte, der sich von den sowjetischen Lügen befreien wollte. In Polen formierte sich die Oppositionsbewegung, doch die Sowjetunion war unter der Führung des senilen und verblödeten Leonid Breschnew, der sich in seinen letzten Regierungsjahren wie eine große, unbeholfene und mit buschigen Augenbrauen geschmückte Puppe bewegte, noch immer der Schrecken der westlichen Welt (und die Hoffnung der unverbesserlichen und unbelesenen Kommunisten Lateinamerikas).
So viele Jahre später kann man durchaus fragen, ob das Buch dem Fluß der Zeit standgehalten hat – ob es, wie ein großer Teil der umfangreichen Literatur über die Sowjetunion, in den hinteren Regalen unter einer barmherzigen Schicht von Staub verschwunden oder als ein den üblichen Rahmen professioneller politologischer Abhandlungen sprengendes Werk lebendig geblieben ist. Die Antwort ist leicht: Ja, das Buch lebt, es atmet, es hat den Zeitenwandel, den Untergang des Kommunismus, das Aufkommen neuer Bedrohungen und Paradigmen bestens überstanden. Dafür spricht sein internationaler Erfolg: Es ist für zahlreiche Leser zum Standardwerk geworden, und sein Autor gilt als einer der wichtigsten Augenzeugen und Chronisten des schrecklichen zwanzigsten Jahrhunderts. Mit der Zeit – dieser Prozeß wird sich wohl in Zukunft fortsetzen – ändert sich freilich die Rezeptionsperspektive: Man liest »Mein Jahrhundert« immer weniger als unmittelbares, erschütterndes Zeugnis der Tragödie des Stalinismus oder der idealistischen, reinen (und naiven) Kommunisten, sondern zunehmend als außergewöhnlichen poetisch-philosophischen Traktat, als einzigartiges romantisch-ironisches Epos, in dem das Thema natürlich nicht an Bedeutung verliert, aber der Akzent sich langsam von »Jahrhundert« auf »mein« verschiebt, von Stalin auf Wat, von der Beschreibung sowjetischer Gefängnisse auf die intellektuelle Entwicklung des Autors. Die ersten Leser mögen vor allem die Informationen über das sowjetische System aufgesogen haben, die Beschreibung des Gulags aus der Innenperspektive, spätere Leser dagegen lauschen wohl eher Wats individueller Stimme, sie bewundern seine brillante Intelligenz, seine Beobachtungsgabe – vielleicht mögen sie sogar seine Manierismen, seine Erinnerungsticks, die exzentrischen gelehrten Exkurse und die Eigenheiten seines Denkens und Sprechens. Und wenn ich mich nicht irre, tut Wats Buch diese Akzentverschiebung gut – vom »Dokument« zum Epos, vom Zeugnis zur Literatur.
Ich habe es kurz nach seinem Erscheinen gelesen. Es machte einen ungeheueren Eindruck auf mich. Es schien mir geradezu, als sei es für mich, für Leute wie mich geschrieben worden. In der zweiten Hälfte der siebziger Jahre gehörte ich zu den neuen Lesern, die Informationen über die jüngste Geschichte suchten, aber ich war zugleich ein junger Dichter, der gegen den Kommunismus, gegen das totalitäre Herrschaftssystem rebellierte und seine Revolte in Gedichten ausdrücken wollte. Ich rebellierte, fragte mich aber gleichzeitig, wie man gegen den Totalitarismus kämpfen konnte, wenn man kein Gesellschaftsaktivist war, keine politischen Ambitionen hatte, wenn man Dichtung, Musik und die Momente seliger Einsamkeit weit mehr liebte als Parteiversammlungen, selbst wenn es sich um eine Gruppierung edler Oppositioneller handelte. (Obwohl ich gestehen muß, daß einige Treffen der Fliegenden Universität, bei denen Schriftsteller und Professoren zusammenkamen, darunter Wisława Szymborska, Kornel Filipowicz, Jan Józef Szczepański und Jacek Woźniakowski, überaus interessant waren …) Ich schrieb offen politische, kritische Gedichte, aber ich spürte, das war nicht der eigentlich künstlerische Weg, die Poesie war anderswo, in Bereichen höherer Komplexität, in der Fähigkeit, die Vielheit der Welt anders als durch die moralische Verurteilung des ideologischen Gegners zu erfassen. Ähnliche Gedanken finden sich in Zbigniew Herberts schönem Gedicht »An Ryszard Krynicki – Ein Brief«:
auf die mageren schultern luden wir uns die sache der öffentlichkeit
den kampf mit der tyrannei der lüge leidensberichte
doch unsere gegner – gib’s zu – waren erbärmlich klein
lohnte es sich die heilige sprache zum lallen zu mindern
von der tribüne herab zum schwarzen abschaum der presse
Wat half mir, Antworten auf diese Fragen zu finden; er diktierte ja Czesław Miłosz sein Buch aus der Position eines nicht mehr jungen, von Krankheit geplagten Menschen – dabei läßt das Buch weder Müdigkeit noch Krankheit erkennen, es ist vielmehr ein Fest der Konversation, bisweilen spürt man darin die Freude am Denken –, vor allem aber aus einer Position der Weisheit, die er den Erfahrungen und Irrtümern seines schweren und intensiven Lebens verdankte. Wenn er etwa von der Notwendigkeit sprach, »sich vom Gegner loszureißen«, wenn er sagte, die intellektuelle oder künstlerische Auseinandersetzung mit dem Totalitarismus müsse Distanz wahren, sie dürfe nicht zum Aufbegehren, zur unmittelbaren Konfrontation, zur »Auseinandersetzung mit dem Kommunismus« werden, sondern müsse auf das »Leben und Sein auf einer völlig anderen geistigen Ebene« abzielen, auf tiefe, die rein politischen Emotionen transzendierende Erlebnisse, so war das etwas Großartiges, etwas Wunderbares, das meinen – und sicher nicht nur meinen – künstlerischen Weg entscheidend beeinflußte, vielleicht nicht sofort, nicht von einer Woche auf die andere, aber bestimmt in den folgenden Jahren.
Absolut vital ist auch, was Wat, der als junger Mann der absurden Ästhetik des Dadaismus frönte und den kurz der Futurismus in seinen Bann schlug, über jene Einsicht sagt, die in sowjetischer Haft für ihn zum Wendepunkt wurde: Daß man die Sprache nicht aus frivolen ästhetischen Motiven deformieren darf, sondern sie achten und verteidigen muß, damit sie uns hilft, unsere Erfahrungen in schwierigen Zeiten zu artikulieren. Eingesperrt in eine Zelle in der Lubjanka, die gleichsam sein »Zauberberg« wurde, wandte sich Wat gegen die Idole seiner Jugend, gegen Marinettis »Parole in libertá«. Zu Miłosz sagte er, es gehe weniger darum, »den Sinn eines jeden Wortes als vielmehr das Gewicht eines jeden Wortes zu entdecken«. Das ist eine immer noch aktuelle Kritik an den Frivolitäten der bis heute vorherrschenden literarischen und philosophischen Kultur, die sich in der Relativierung des Begriffs der Wahrheit auslebt. Wat war nicht nur ein »Zeitzeuge« unter Hunderten anderer, die ihre – mitunter zutiefst ergreifenden und eminent wichtigen – Erinnerungen aus der Zeit des Hitlerismus und des Kommunismus aufschrieben, er war mehr, er war auch Denker und Kritiker, er nutzte die Zeit nach dem Gefängnis, um seine Erlebnisse zu durchdenken, er suchte in jeder Lektüre (und er las viel) eine Antwort auf grundlegende Fragen; deshalb konnte er andere inspirieren. Die sowjetischen Gefängniswärter ahnten nicht, wen man ihnen anvertraut hatte …
»Mein Jahrhundert« ist auch deshalb lebendig geblieben, weil es nie als historisches Werk, als Synthese des Wissens über den Kommunismus gedacht war (wenngleich Wat gelegentlich von einer solchen summaträumte); natürlich ist der Kommunismus ein Thema, aber mehr in der Art, wie es für Jonathan Swift die Länder sind, die sein Protagonist in »Gullivers Reisen« besucht. Wat schreibt über sich, über seine Erfahrungen, sein Leben und »sein Jahrhundert«. Er selbst war ein barocker Mensch (wie auch seine Lyrik barock ist), um so intensiver empfand er die Seltsamkeit und das Grauen des zwanzigsten Jahrhunderts. Von niemandem läßt sich sagen, er sei »für das zwanzigste Jahrhundert geboren« (das wäre eine Beleidigung), am wenigsten aber wohl von Aleksander Wat … Er, der gern erwähnte, daß zu seinen Vorfahren der berühmte Rabbiner Raschi aus Troyes (1040–1105) gehörte, einer der wichtigsten Talmud-Deuter des Mittelalters, war eher in früheren Zeitaltern als in Stalins Epoche heimisch. Ist es aber nicht so, daß gerade Reisende, die sich in der Zeit, über die sie schreiben, nicht zurechtfinden, sie am klarsten sehen, weil sie die meisten ihrer Vorurteile nicht teilen? Hier könnte man widersprechen: Das sei Unsinn, der junge Wat sei doch geradezu aufgegangen in den Vorurteilen seiner Zeit, und auch im mittleren Alter sei er alles andere als nonkonformistisch gewesen! Das stimmt, aber der späte Wat, der Wat, den wir weitaus besser kennen, den wir lesen und bewundern, war ganz anders, er hatte die Kinderkrankheiten des Geistes überwunden, und diese Metamorphose deckt sich mit der Zeit seiner Wanderung durch den Archipel Gulag.
Wats Memoiren sind launisch. Es geht dem Autor eindeutig nicht um einen dokumentarischen Bericht über seine Gefängnisjahre, vielmehr will er eine gewisse »Merkwürdigkeit des Daseins« im zwanzigsten Jahrhundert festhalten und dem Leser vermitteln. Er rät dazu, sich vom Feind loszureißen, und folgt auch selbst dieser Maxime: Selbst sein Erzählen »reißt sich vom Feind los«. So lesen wir etwa von der sprachwissenschaftlichen Marotte des Schriftstellers Jewgenij Dunajewskij, eines Zellengenossen in der Lubjanka, die ein mehr auf eine Reportage eingestellter Schreiber wohl übergangen hätte, um sich auf Vordergründiges zu konzentrieren. Wir lesen einen nachträglich eingefügten Abschnitt über Machiavelli (nicht der ganze Text basiert auf Tonbandaufzeichnungen, Wat hat später Ergänzungen vorgenommen), der eigentlich unnötig und auch weniger geistreich ist als andere Kapitel des Buches, wir finden einen kurzen Abschnitt über einen Zuckerwürfel, einen anderen über sowjetische und nichtsowjetische Gesichter sowie zahlreiche Anmerkungen zur Dichtkunst. Das große Paradox von »Mein Jahrhundert« liegt aber darin, daß selbst diese Einschübe, deren Vorhandensein man als Kompositionsschwäche des Buches ansehen könnte, ihm zum Vorteil gereichen; die mäandernden Windungen der Erzählung tragen nämlich wesentlich zur Entstehung eines originellen, plauderhaften, sarmatischen, barocken, kühnen, radikal subjektiven und in nichts an die Linearität ordentlicher politologischer Arbeiten erinnernden Ganzen bei.
Beim erneuten Lesen von Wats Buch bin ich immer wieder auf so originelle und geradezu idiomatische, die Grenzen der politischen Berichterstattung weit überschreitende Bemerkungen gestoßen, daß mir ein Vergleich mit fachwissenschaftlichen Arbeiten einfach sinnlos vorkommt. Beginnen wir mit Wats Verhältnis zum Kommunismus: Einerseits war er in den zwanziger Jahren von ihm infiziert, hatte ihn und alle organisatorischen und mentalen Geheimnisse von der Pike auf gelernt, er kannte den Typus des intellektuellen Funktionärs und auch den des ungebildeten, fanatischen, oft rechtschaffenen und uneigennützigen Mitglieds der Bewegung. Andererseits entwickelte er eine so distanzierte, so ironische Einstellung zum System, daß er sich darin wie ein unfehlbarer Entomologe bewegen konnte, der nicht vergaß, daß er einst selbst ein Insekt war (in diesem Sinne wäre Aleksander Wat das ideale spiegelbildliche Gegenstück zu Gregor Samsa, dem unglücklichen Protagonisten von Kafkas »Verwandlung«). Wenn er etwa anmerkt, welch große Bedeutung der Gesang – im Chor oder solo – im russischen Kommunismus hatte und daß die einfachen Leute, die Durchschnittsrussen, ständig Lieder summten und sangen (oftmals wirklich schöne, bewegende Lieder, weitaus schöner als das System, das sie besingen sollten), und wenn er sagt, er selbst sei für den Reiz dieser allgegenwärtigen Sangeskunst nicht unempfänglich gewesen, dann wissen wir: So etwas konnte nur ein innerlich freier Mensch bemerken, ein Dichter, der für alle erdenklichen Facetten des menschlichen Daseins offen ist, ein im höchsten Maße unorthodoxer Beobachter.
Unorthodox und sogar stark eklektisch: Sowohl in seiner Lyrik als auch in der Prosa zeigt sich Wats Abneigung gegen klare ideologische oder religiöse Entscheidungen. Er war Jude durch Abstammung, aus Sympathie und bis zu einem gewissen Maße auch aufgrund seiner Bildung, er war stolz, daß der große Raschi zu seinen Urahnen zählen mochte, aber er war auch ein polnischer Katholik, der seinem streng katholischen Kindermädchen verbunden blieb; er war Futurist und schätzte zugleich die europäische Kunsttradition, er übersetzte Tolstoi und Dostojewski, las Philosophen, Mystiker und reaktionäre Autoren des neunzehnten Jahrhunderts, kannte die alte Malerei. Wat verspürte nicht das Bedürfnis zu selektieren; als habe die Erfahrung des Kommunismus mit seiner Basis strenger Selektion, strenger Elimination, unaufhörlicher neurasthenischer Suche nach dem rechten Glauben und Verachtung für alle von der Partei verworfenen Ideen ihn eine dem Kommunismus konträre Weisheit gelehrt: Nicht die Ismen sind wichtig (Brodsky scherzte – auf englisch – gern, jeder »ism« werde schnell zum »wasm«), sondern der freie Blick durch die vielen Fenster, die sich zur Welt auftun. Die verschiedenen Traditionen waren für ihn Bestandteile eines Ganzen, und die Einheit dieses Ganzen wurde durch die Persönlichkeit des Schriftstellers gewährleistet, nicht umgekehrt! Wat sagt überdies, eines der Hauptziele des Kommunismus habe in der Zerstörung des inneren Menschen bestanden – und im demonstrativen Eklektizismus seines Denkens manifestiert sich dieser innere Mensch, der sich nicht selbst reduziert, sondern die eigenen Widersprüche duldet.
Wat war ein besonderer Reisender: Er bereiste das kommunistische Rußland während des Zweiten Weltkriegs ganz anders als etwa der berühmte Marquis de Custine im neunzehnten Jahrhundert das Zarenreich. Offen gesagt reiste er kaum, eigentlich nur von Gefängnis zu Gefängnis (der Marquis hatte die zaristischen Gefängnisse nicht kennengelernt, er bewegte sich meist von einem Salon zum anderen); er glich einem Forscher, der sein Labor nicht verläßt und nur Materialproben der Außenwelt entgegennimmt. Er liefert wunderbare Beschreibungen von Menschen, die in sowjetischen Gefängnissen einsaßen, in der berüchtigten Lubjanka oder in Saratow. In der Lubjanka, aber auch in Saratow – wo er selbst unter dem Gefängnispersonal einige barmherzige Menschen fand – verbrachte Wat ein paar Monate in relativer Ruhe; Rußland (oder auch Polen – damals gab es viele Polen im Archipel Gulag) kam zu ihm in die Zelle, und er, gleichsam ein unbeweglicher Zuschauer in einer sehr speziellen Variante der Platonschen Höhle, betrachtete das anthropologische Panorama der großen Katastrophe und ließ Jahre später mit Hilfe seines außergewöhnlichen Gedächtnisses Dialoge und Situationen wieder aufleben. Einige der Häftlinge, denen er dort begegnete, machten auf den Autor großen Eindruck – etwa der russische Kommunist Mischa Tajz, dessen innere Freiheit und dessen Mut Wat bewunderte. Für uns Nachgeborene ist es überraschend, daß sich im Bauch des stalinistischen Wals, in den Zellen der makabren Lubjanka ein derart intensives Leben abspielte, ein Leben, das sich in Gesprächen, Freundschaften und Lektüren manifestierte, in dem man von anderen beeinflußt werden, lernen, sogar innerlich wachsen und kurze Momente der Ekstase erleben konnte, wie Wat, als er auf dem Gefängnisdach Bach hörte. Dabei sollte der Leser nicht vergessen, daß nur wenige Insassen die Haft überlebten, die gewaltige Mehrheit wurde vom Sowjetsystem zermalmt. Als Stalin nach Hitlers Angriff auf die UdSSR die Gründung einer polnischen, hauptsächlich aus begnadigten Gulag-Häftlingen zusammengesetzten Armee erlaubte, waren Polen für einige Monate privilegiert.
Im Lichte von Platons Höhlengleichnis wirkt Aleksander Wat tatsächlich wie ein Philosoph, wie jemand, der entschlossen ist, trotz allem nicht aufzugeben, er selbst zu bleiben, zu lesen, zu denken. Wir staunen über den Reichtum der Gefängnisbibliothek, die Wat eifrig nutzte – unter anderem las er in sowjetischer Haft Augustinus und Solowjow.
Sind Wats Erinnerungen absolut wahrheitsgetreu? Sicher nicht, sicher bewirkten die Jahre der Reflexion nach Kriegsende und die »Abenteuer« in der Sowjetunion (als Krankenhäuser an die Stelle der Gefängnisse traten), daß sein Verstand die Erinnerungen bearbeitete, formte, vielleicht auch ein wenig zurechtbog. Dennoch kann der Leser von »Mein Jahrhundert« gewiß sein, es mit einem zwar barocken, phänomenal ausschweifenden, aber keineswegs erfundenen Buch zu tun zu haben. Wat bekennt sich sogar zu seinen Schwächen – das ist immer schwer, psychologisch fast unmöglich –, etwa wenn er über die Verhöre spricht, denen er unterzogen wurde: »Vielleicht habe ich zuviel geredet.«
Nicht alle polnischen Leser waren von Wats Buch begeistert. Kritik kam vor allem von seinen Altersgenossen. Man warf ihm vor, er habe die Ereignisse, an denen er beteiligt war, nicht immer glaubwürdig dargestellt. Das betrifft vor allem die Schilderung und Wertung der »Lemberger Provokation«, mit der Wats Weg durch Haft und Verbannung begann. Umstritten ist auch seine Darstellung von Kazimierz Wiącek, dem Polnischen Gesandten in Alma-Ata (sie findet sich im Schlußteil des Buches). Überdies erregt Wats Buch schon lange den Unwillen konservativer Milieus, die den Autor für eine moralisch fragwürdige Gestalt halten, weil er in seiner Lemberger Zeit mit den sowjetischen Behörden kollaborierte (worüber er freilich selbst ausführlich spricht). Einer der führenden Intellektuellen des polnischen Exils, der in der Nähe von Paris lebende Jerzy Giedroyc (1906–2000), Herausgeber der Zeitschrift »Kultura« und Chef des gleichnamigen Verlags, ein Mann, der sein Unternehmen mehr als fünfzig Jahre mit eiserner Hand leitete – und auf diese Weise eine immens wichtige Alternative zu den der Zensur unterliegenden Institutionen in Polen schuf, ein Forum für viele im Exil lebende Autoren, darunter Czesław Miłosz und Witold Gombrowicz, Zbigniew Herbert und Józef Wittlin –, entdeckte in Wats Buch problematische »Ungenauigkeiten« und nahm es nicht in sein Programm auf. Aus diesem Grund erschien »Mein Jahrhundert« schließlich in London und nicht in Paris, wenngleich dort, zwischen den Büchern von Miłosz und Herling-Grudziński, sein natürlicher Platz gewesen wäre. Miłosz hält in seiner Rezension von Giedroycs Autobiographie diese »Ungenauigkeiten« für weniger ausschlaggebend als den persönlichen Konflikt zwischen Wat und Giedroyc, der auch nach Wats Tod bestehen blieb.
Ich erwähne diese Vorwürfe, um zu zeigen, vor welchem Hintergrund »Mein Jahrhundert« gelesen werden kann. Politische oder gar »parteiische« Kritik kann dem Buch nichts anhaben. Aleksander Wat machte keinen Hehl aus seiner kommunistischen Vergangenheit; er litt an ihr und sah in der politischen Schuld sogar die Ursache seiner schlimmen Krankheit. Es ist gut möglich, daß er in seinen Erinnerungen jemandem Unrecht tat. Und doch zeugen die politischen Angriffe gegen ihn – übrigens nicht nur in diesem Fall – meist von völliger Blindheit für die literarische – und menschliche – Qualität des Werks. Seltsamerweise kommt diese Art von politischer Rache meist von wenig (oder gar nicht) talentierten Autoren, die ihre Kräfte gleichwohl auch in der Literatur statt bloß in der politischen Publizistik ausleben wollen … Aleksander Wat fliegt in seinen Gedichten und in »Mein Jahrhundert« zu hoch, als daß sein Ruf Schaden nehmen könnte; die Flugabwehrgeschütze seiner Gegner reichen nicht an ihn heran.
Wenn man sich aber überlegt, was für Wat in den Gesprächen mit Miłosz auf dem Spiel stand, erkennt man die Brisanz der Sache. Wir dürfen nicht vergessen, daß er starb, ohne zu wissen, ob »Mein Jahrhundert« je das Licht der Welt erblicken würde; die Tonbänder waren noch nicht transkribiert, das Buch existierte noch nicht. Er mußte fürchten und fürchtete bestimmt, er werde nichts von der Art hinterlassen, was man mit Stanisław Ignacy Witkiewicz als »Hauptwerk« bezeichnen könnte. Es gab sicher bittere Tage, an denen er sich für einen gescheiterten, unproduktiven Schriftsteller hielt. Er konnte den Erfolg seines Buches nicht vorausahnen. Und letzten Endes ging es für Wat um sehr viel mehr als nur um literarischen Nachruhm: In den Gesprächen mit Miłosz stand er vor einer äußerst schweren Aufgabe – er wollte sein ganzes Leben neu definieren. Kürzlich erschien im Rahmen einer polnischen Werkausgabe ein dicker Band mit Wats Publizistik. Von den 840 Seiten dieses Bandes entfällt ein großer Teil auf Texte, die Wat – unser Wat, der späte Wat – sicher am liebsten vernichtet hätte, geschrieben von einem Menschen, der an den Kommunismus glaubte und sich des kommunistischen Jargons bediente, vielleicht auch so tun mußte, als akzeptiere er diesen Jargon oder wenigstens die wichtigsten ideologischen Akzente. Diese Skizzen und Notizen entstanden im russisch besetzten Lemberg noch vor der Verhaftung und nach 1946, obwohl Wat seinem geneigten Zuhörer Miłosz und durch diesen auch uns, den Lesern, mehrfach versicherte, er sei als entschiedener Antikommunist aus der Verbannung zurückgekehrt und habe dem Druck der Machthaber nicht mehr nachgegeben. Kann man aber das Wort »mußte« auf den menschlichen Geist anwenden?
In dem gemeinsam mit Miłosz geschaffenen Buch unternimmt Wat den verzweifelten Versuch, sein ganzes Leben in der Literatur und der Geschichte zu retten, er wechselt die ideologischen Vorzeichen vor den einzelnen Etappen seines intellektuellen Werdegangs. Ein feindseliger Leser könnte sagen (mancher tat es), Wat lüge in »Mein Jahrhundert«, er erfinde, idealisiere, färbe die eigene Geschichte schön, und man könne ihm nur glauben, wenn er von der Sehnsucht nach seiner Frau und seinem Sohn spreche. Ich aber bin Wat wohlgesonnen; nein, Wat lügt nicht. Er färbt schön, ja. Doch das Wort »schönfärben« trifft den Kern der Sache auch nicht. Es handelt sich um das Bekenntnis eines Zeitgenossen oder eher um etwas noch Interessanteres als ein Bekenntnis – eine unerhörte, außergewöhnliche intellektuelle Tat. Wat lügt nicht. Er spricht so, wie es ihm seine Weisheit diktiert, seine bittere, traurige Weisheit, die er in Haft und Verbannung erwarb, in den stalinistischen Nachkriegsjahren in Polen, in Krankenhäusern und den bescheidenen Wohnungen des Pariser Exils. Wat nutzt die Redefreiheit, die ihm der Westen bietet, und die Gegenwart des ihm zugeneigten Miłosz, er konstruiert sich neu, wobei er aus den Reflexionen der vorangegangenen zwanzig Jahre schöpft. Und er weiß genau, daß ihm nicht viel Zeit bleibt, daß er nur noch diese eine Chance hat, daß er krank ist und ohne einen so besonderen Zuhörer im Leiden, in der Ohnmacht der Krankheit ertrinken würde. Also lügt er nicht. Im Gegenteil, er greift nach den Schichten und Reserven seines Intellekts und seiner Seele, die für ihn die wahrhaftigsten und wichtigsten waren, hervorgegangen aus den schwierigsten Momenten seiner Biographie. Hier erneuert sich der menschliche Geist, der scharfsinnige Geist Aleksander Wats, und zwar nicht in narzißtischer Selbstbespiegelung, sondern in einer großmütigen Kaskade von Beobachtungen zur dunklen Geschichte und Kultur des zwanzigsten Jahrhunderts oder, mit anderen Worten, zur Moderne, dieser in unseren Regionen vorübergehend etwas sanfteren Substanz, in die wir noch immer eingetaucht sind.
Wenn ich »Mein Jahrhundert« wohlwollend lese, dann nicht, weil mich anderes für Wat eingenommen hätte, etwa seine Gedichte – obwohl mich natürlich seine Gedichte für ihn eingenommen haben –, oder weil ich seine Frau Ola kannte, die mich durch ihre Anmut für sich einnahm, und seinem Sohn Andrzej begegnete (ja, dem sehnsüchtig vermißten Sohn, der heimlichen Hauptfigur des Buchs). Das Buch selbst nimmt mich für sich ein; dieser Erneuerungsakt eines scharfsinnigen Geistes, der sich gleichsam vor unseren Augen vollzieht, während sie über die schwarzen Buchstaben gleiten, hat mich komplett überwältigt, und das gleich zweimal, bei der ersten Lektüre vor Jahren und auch jetzt, wo so vieles anders ist, wo ich sehr viel mehr über das zwanzigste Jahrhundert und über Aleksander Wat weiß, wo ich kein rebellischer junger Dichter mehr bin, was nicht heißt, daß mir Zweifel und Dilemmata heute fremd wären. Seine Beobachtungen und Analysen haben mich überwältigt, aber auch seine Abschweifungen und Launen.
Denn Aleksander Wat war kein Held, er war kein Dietrich Bonhoeffer des Kommunismus; in Wirklichkeit war er nicht frei von Konformismus. Die Polen, die eine Schwäche für (leider ästhetisch meist fragwürdige) Denkmäler haben, weil es leichter ist, einen Blick auf eine Bronzestatue zu werfen als ein Buch zu lesen, errichten Wat kein Denkmal. Dabei war er bestimmt frei von Dummheit. Er war von Jugend an ein hervorragender Schriftsteller, ein Intellektueller, doch in den sowjetischen Gefängnissen war er ein Everyman, er teilte die Zelle mit anderen Intellektuellen, aber auch mit einfachen Leuten, mit einem Chauffeur, mit russischen Kriminellen. Der NKWD wußte anscheinend nicht recht, was man mit ihm machen sollte. Zum Helden oder eher Märtyrer machte Wat die schreckliche Krankheit, die sich in unerträglichen Schmerzen äußerte. Und so bleibt er uns in Erinnerung, so entstand der Mythos Aleksander Wat – wahrhaftig wie die meisten Mythen.
Heutige Leser von »Mein Jahrhundert« werden wohl besonders die »metaphysischen« Episoden interessieren – Bachs »Matthäuspassion« auf dem LubjankaDach und, wichtiger noch, die Teufelsvision im Gefängnis von Saratow, die zu Wats Bekehrung führte. Wat rekonstruiert seine Vergangenheit im Modus der von Tag zu Tag wachsenden Erfahrung, aber auch im Modus der Ekstase. Jeder Lyrikleser erkennt in diesem Dualismus die Materie des geistigen Lebens, das sich immer zwischen dem Kontinuum der Erfahrung und sprunghaften ekstatischen Erlebnissen entfaltet. Zugleich wird einem aufmerksamen Leser nicht entgehen, wie wichtig Czesław Miłoszs wache Gegenwart ist. Auf der anderen Seite des Tisches mit dem Aufnahmegerät, dessen Spulen sich geduldig drehten, saß nämlich kein Journalist, kein Interviewprofi, der auf Bestellung mit Politikern, Priestern oder Ökonomen spricht, sondern ein Dichter, ein Magier der Vorstellungskraft. Daß sich in Wats Buch, das herrlich und heterogen ist wie alle umfangreichen und ambitionierten Werke, wahrhaft inspirierte Passagen finden, ist in großem Maße Miłosz zu verdanken. Wenn zwei große Dichter an einem Tisch sitzen, müssen früher oder später Kristalle der Inspiration zu leuchten beginnen …
Aus dem Polnischen von Bernhard Hartmann
SINN UND FORM 6/2014, S. 760-784