
[€ 9.00] ISBN 978-3-943297-19-5
Heft 5/2014 enthält:
Handke, Peter
Eine Ideal-Konkurrenz. Zum Briefwechsel zwischen Carlfriedrich Claus und Franz Mon, S. 581
Ist’s nicht etwas Merkwürdiges, daß die Gestalten, die Gestalter, die Menschen, die Gestalter-Menschen, welche mich in der letzten Zeit in einer, (...)
Handke, Peter
Eine Ideal-Konkurrenz. Zum Briefwechsel zwischen Carlfriedrich Claus und Franz Mon
Ist’s nicht etwas Merkwürdiges, daß die Gestalten, die Gestalter, die Menschen, die Gestalter-Menschen, welche mich in der letzten Zeit in einer, in ihrer Weise dahin begeistert haben, mich auf meine Weise über sie zu äußern, ein jedesmal mir als Paare vor’s Leser-Auge getreten sind?
So war’s vor einem Jahr mit dem gemeinsamen Tagebuch von Sophia und Nathaniel Hawthorne aus dem Jahr 1842, einem Paar, als Mann und Frau, wie’s nicht allein im Buche steht. So ist’s mir geschehen vor mehreren Monaten mit dem Briefwechselband, konzentriert auf die vier Jahre des Großen Kriegs 1914–1918, zwischen Romain Rolland und Stefan Zweig, einem Menschenkinderpaar wie nur je einem, anhand des geteilten Entsetzens und sanft-energischen Widersprechens. Und ebenso hab’ ich’s in den vergangenen Wochen erlebt mit der Korrespondenz – dieses Wort bekommt da wieder einen eigenen Klang –, der fast vier Jahrzehnte umfassenden, von 1959 bis 1997, zwischen Carlfriedrich Claus in Annaberg /Erzgebirge, während dreißig Jahren noch Deutsche Demokratische Republik, und Franz Mon in Frankfurt am Main, damals wie heute Bundesrepublik Deutschland. Und ist’s bei diesem dritten mich begeisternden Gespann, der »fast lautlose(n) Schwingungssymbiose«, wie Franz Mon den zweifachen Austausch über die Jahrzehnte in einem Brief einmal nennt, nicht auch schon merkwürdig, wenn es mich drängt, eingangs, in einer Andeutung von Reverenz, einerseits die ständigen, wohl des Rhythmus wegen, Apostrophe des Carlfriedrich Claus nachzubilden – »ist’s«, »so war’s«, »wie’s«, »so hab’ ich’s« –, und andrerseits, frei nach Franz Mon (dieser da im Gegensatz zu seinem Mitlebenden jenseits der Staatsgrenzen), das gesamtoder gar altdeutsche »scharfe ß« zu üben, als eine Art von, wenn vielleicht auch nur wenigen was bedeutendem, Weltkulturerbe.
Was ich versuchen möchte, zu Franz Mon und ebenso Carlfriedrich Claus, zu der beiden Schwingungssymbiose, zu äußern, soll nicht, zumindest nicht ausdrücklich, als eine Laudatio, ein Lobpreis, eine Preisschrift oder -rede, ertönen. (Sollte es antönen – recht so, vielleicht.) Meine Weise, in diesem Fall, da ich als Leser wie auch als Schreiber kein Mitstreiter oder dergleichen, vielmehr ein entschieden Außenstehender – »ich bin so frei!« – sein kann, hat, in erster und letzter Linie und Zeile, die des Zu-Wort-Kommenlassens der beiden, jetzt des Franz Mon, jetzt des Carlfriedrich Claus zu sein, des Ahnenlassens vom Wörtlich – wie Schriftbildlich – wie Laut – wie Lautloswerden der zwei Helden, ja doch, Helden des Gestaltens, und überdies, und wenn auch nur nebenbei, die Zeit, die Historie mit ihren Kalamitäten, ins Spiel zu bringen, welche das, wiederum ja, Heldentum des Paares Claus /Mon wider deren Natur, Struktur, geschweige denn Willen auf die Sprünge, auf die Expeditionen zu all den unentdeckten Formen, und sei es des scheint’s Bekanntesten, der Buchstaben, der Selbst- und Mitlaute, gebracht hat. »Zeit"? Franz Mon würde dieses Wort für die geschichtlichen Umstände und Unheile mißbraucht finden, wie jede gemessene, meßbare Zeit, er, der in einem seiner Briefe sich nach einer »maß-losen Zeit« sehnt und allein die Sekunde als real empfindet, siehe auch die vielen »plötzlich«, »unversehens«, »auf einmal«, »ruckhaft«, »abrupt« usw. in dieser Korrespondenz, evoziert, ausgerufen von den beiden Seiten, ohne Unterlaß, über die fast vier Jahrzehnte.
Es ist nicht meine Sache, die Poetik, die poetische Methode der beiden zu umreißen, gar zu definieren. Im übrigen könnte ich es auch nicht, habe zwar momentan, unversehens, ruckhaft einen Blick dafür, mehr noch ein Gehör, und, in der unmittelbaren Folge, ein Gefühl dafür, ein umfassendes, ein umgreifendes, etwas wie eine Hörvision. Doch es fehlen mir die Worte, und mehr noch die Begriffe. (Michael Lentz, der bei S. Fischer 2013 das Franz-Mon-Lesebuch »Zuflucht bei Fliegen« herausgegeben und kommentiert hat, verfügt über das eine wie das andere, und das ist, wie man einmal gesagt hat, »verdienstvoll «, hilfreich beim Einordnen – sofern einem Leser dergleichen nottut, und ist, zum Glück, auch noch ein anderes, und mehr.) Das einzig Wörtliche, das mir Leser-Betrachter-Hörer zur Poetik des Carlfriedrich Claus und des Franz Mon je in den Sinn gekommen ist, war, und zwar zu wiederholten Malen, was ich als ein Zeichen von Stichhaltigkeit nahm, ein Vergleich: Der mit dem »Wohltemperierten Klavier« von Johann Sebastian Bach, insofern als Bach da, wenn ich das richtig verstanden habe, ausschließlich ausgeht von den verschiedenen Tonarten und deren Entwicklungsmöglichkeiten auf diesem bestimmten Instrument und dessen besonderer Klangmaterie und einzig und allein auf diesem Weg, des Experimentierens mit dem Material, jeweils ins Spielen gerät, ein Spielen freilich, das ganz und gar nicht »so ohne« ist. Und solcherart Spielen und Experimentieren mit dem Material, mit dem »Motiv im Material«, wie Franz Mon das 1959 in einem der ersten Briefe an Claus einmal nennt, ist mir unversehens auch als Vergleich der Poetik Mon / Claus mit den Fingerund-Ohr-Expeditionen des »Wohltemperierten Klaviers« erschienen. Erschienen? Kann ein Vergleich »erscheinen"? Ja doch: Nur so, kommt mir vor, ist er am Platz und es ist zumindest was dran an ihm.
»Poetik«, habe ich gemeint, im Singular, so als ob die zwei, Franz Mon wie Carlfriedrich Claus, und umgekehrt, ein und dieselbe Poetik praktizierten. Das trifft einerseits zu für den gemeinsamen Ausgangspunkt, oder eher Aufbruchsmoment, siehe das »Motiv im Material« aufsuchen und weiterspielen. Andrerseits sind die beiden grundverschiedene Gestalten wie Gestalter, und solche Grundverschiedenheiten können nicht umhin, mitten in der Material-Expedition jeweils voneinander abzuzweigen, ein jeder auf seinem Form-Weg, ein jeder anhand seiner dem anderen Expeditionsmitglied vielleicht sogar entgegengesetzten Poetik. Es handelt sich also, aus dem Briefwechsel noch um einiges klarer als aus Claus’ und Mons Werken herauszulesen, zwar in der ersten Bewegung um eine einzige, gemeinsame Poetik, welche im Verlauf aber unversehens, wie ein einziger Fluß, aus dem – Bifurkation – plötzlich zwei werden, zu zwei Poetiken »bifurkieren« und in ganz verschiedene Richtungen, womöglich gar Ozeane tendieren. Ahnbar wird das schon in einem der ersten Briefe Mons an Claus, worin der leise ermahnt wird, die »Neoromantik« aus dem Spiel, d.i. aus dem Text, aus den Texten und Schriftbildern zu lassen, und gleichsam klipp und klar, wenn auch inzwischen ohne jede Kritik an dem, der inzwischen längst ein oder überhaupt der Text-Bild-Abenteuer-Partner schlechthin geworden ist, schreibt das Franz Mon in einem der letzten Briefe an Claus vor dessen Tod und sagt es zugleich sich selber lautlos vor: Seine Arbeit, sein lebenslanges Tun sei nicht »kontemplativ« (oder heißt es »meditativ »?), sondern »diskursiv«, also auf Dialog, Gespräch, Antwort aus. Eine Poetik, die mitten im Flußlauf auseinanderdriftet zu zweien, wie der Orinoco in Südamerika, und zuletzt, anders als der Orinoco, zur Einzahl, zum Einssein zurückfindet.
Wie das geschieht, ist nachzulesen als eine Art von Wunder, freilich als ein »natürliches«, von dem wir einst im Religionsunterricht gelernt haben, das Wunderbare daran sei einzig, daß es sich, als natürliches, der Vernunft zugängliches Geschehen, in dem einen besonderen Moment, unversehens, plötzlich, ereignet. Und auch dafür, für das Wunder dieser Korrespondenz, das selbst heute, fast zwanzig Jahre nach seinem Ausklingen, weiter seinen Moment hat, seine Plötzlichkeit, stärker vielleicht als zuvor, fehlen mir die Worte. Das heißt, sie fehlen ganz und gar nicht, denn sie steigen einem, mir nichts, dir nichts, auf und entgegen aus der Folge der Briefsätze, welche ab jetzt ohne Kommentar, höchstens da und dort mit einem Ausruf, das Lebensexperiment, das experimentelle Leben des Franz Mon wie des Carlfriedrich Claus nachvollziehbar und vor allem miterlebbar machen.
[…]
SINN UND FORM 5/2014, S. 581-592, hier S. 581-583.
Szentkuthy, Miklós
Auf zur einzigen Metapher, S. 593
Hanshe, Rainer J.
Auftritt auf der Weltbühne. Miklós Szentkuthys »Ars Poetica«, S. 607
[…] Szentkuthys zweites Buch »Az egyetlen metafora felé« (Auf zur einzigen Metapher), das 1935 erschien und 1985 wieder aufgelegt wurde, (...)
Hanshe, Rainer J.
AUFTRITT AUF DER WELTBÜHNE
Miklós Szentkuthys »Ars Poetica«
[…]
Szentkuthys zweites Buch »Az egyetlen metafora felé« (Auf zur einzigen Metapher), das 1935 erschien und 1985 wieder aufgelegt wurde, besteht aus einhundertzwölf numerierten Abschnitten, deren Länge von einem Satz bis zu mehreren Seiten reicht. Es ist ein in sich geschlossenes singuläres Werk, eine Art Kentaur, und zugleich der Humus für Szentkuthys spätere Arbeit. Der Text läßt sich keinem spezifischen Genre zuordnen, am ehesten trifft auf ihn vielleicht der Begriff Literatur in Blanchots umfassendem Sinn zu. Blanchot definiert Literatur als etwas, das die Unterscheidungen und Begrenzungen eines jeden Genres zunichte macht, indem es eine einzigartige, hybride Form schafft. In Deszö Barótis Besprechung aus dem Erscheinungsjahr heißt es, das Buch bestehe aus »unkonventionellen Passagen im Zeitungsstil, die sich zu kurzen Essays ausweiten, aus Plänen für Romane, poetischen Meditationen im Stil freier Verse und paradoxen Aphorismen«. »Die Hauptmotive (soweit man das in aller Knappheit sagen kann) sind Natur, Liebe, Erotik, Sex. All dies ist jedoch durch die unverhohlene, vibrierende Präsenz eines Schriftstellers getönt, der ständig auf der Suche nach sich selbst ist und mit immer neuen verführerischen, stimulierenden Überraschungen aufwartet.« Das paßt zu Szentkuthys grandiosem, wenngleich quijotischem Vorhaben, so etwas wie einen »Catalogus rerum« zu erstellen, »ein Verzeichnis der realen Dinge und Phänomene, einen Katalog all dessen, was es auf der Welt gibt«. Die Absurdität des Plans reizt zum Lachen – sogar Szentkuthy selbst –, denn er hat etwas vom Totalitätsanspruch der Enzyklopädisten, wenn nicht gar vom eigentlichen Ziel der Aufklärung, der Erlangung absoluten Wissens. Nichtsdestoweniger war die Erfassung der »ungenannten unzähligen Phänomene auf der Welt« für Szentkuthy »ein wahrhaft edles faustisches Ziel«. Dazu gehörte das Katalogisieren »aller zugänglichen Naturphänomene, aller Himmel und Höllen der Liebe, der ganzen Welt der Geschichte, und zu guter Letzt eine universale Übersicht über die Mythologien (die universale Schau) bis hin zur christlichen Mythologie«. András Nagy glaubt, Szentkuthys Catalogus rerum orientiere sich eher an den Arbeiten mittelalterlicher Mönche und am Denken der Kirchenväter und Scholastiker als an den Enzyklopädieenthusiasten der Aufklärung ("Masks behind Masks: A Portrait of Miklós Szentkuthy«, Berlin Review of Books, 25. März 2013). Was Szentkuthys Ziel von dem der Enzyklopädisten unterscheidet, ist, daß es ihm nur ums Katalogisieren geht und nicht um den prometheischen Versuch, die Natur dienstbar zu machen und zu beherrschen; dazu kommen seine Heiterkeit sowie die Einsicht, daß das faustische Ziel niemals zu erreichen sei. Aber wissen wir wirklich, wie nahe er dem Ziel kam oder wie weit er es verfehlte? Glaubte er wirklich, daß es nicht zu erreichen sei, oder war das falsche Bescheidenheit, die öffentliche Maske des Narren, der in Wirklichkeit alles daransetzt, es zu erreichen? Wir sollten bedenken, daß Szentkuthy – wie Casanova – von Schauspielern abstammte; wie der Erzähler der »Marginalien zu Casanova« konnte er sagen: »Das Grundprinzip des Lebens ist theatralisch; keine Lügen, nur Masken, Mimik… Realität und Theater: ein und dasselbe.« Die Passage schließt mit dem Ausruf, es gebe ein Alpha und Omega, ohne das nichts sei: »Schauspieler, Schauspieler, Schauspieler« (§1). Mehr noch, indem Szentkuthy in »Frivolitäten und Bekenntnisse« gesteht, er habe kein geringeres Ziel, als der Dante des zwanzigsten Jahrhunderts zu werden, geht er nichts anderes als einen Pakt mit dem Teufel ein, mit dem es ihm todernst ist.
Was, so fragt man sich vielleicht, inspiriert jemanden zu einem so befremdlichen Buch wie »Auf zur einzigen Metapher"? Es sind so unterschiedliche Quellen wie Paracelsus, Spengler und die Wiener Psychologie, die Szentkuthy leiten und zu seinen Abenteuern verlocken. Es enthält aber auch ein kämpferisches Element, denn das Werk ist eine Antwort auf die Kritiken gegen »Prae«, den Roman, der das literarische Establishment Ungarns so fassungslos gemacht hatte, daß sein Autor als »bücherwurmartiger Homunkulus« bezeichnet wurde, »als gräßliches Monster, das immer und überall nur auf Naturwissenschaft, Philosophie und Mathematik stieß«. Wo, so glaubt man manche Kritiker lamentieren zu hören, bleibe er denn da als Mensch? Szentkuthy schrieb »Auf zur einzigen Metapher", um gegen dieses Bild eines monströsen Lusus naturae anzugehen und sein Menschsein unter Beweis zu stellen, wobei der Titel Bogen, Entwicklung und Kreisbewegungen des Buches andeutet – vom manischen Katalogisieren aller Dinge auf der Welt bis hin zur einen und einzigen Metapher, die sich herauskristallisiert und alles enthält. Hier stand Paracelsus Pate: »Wie Paracelsus den menschlichen Körper, Sterne und Mineralien auf einen gemeinsamen Nenner brachte oder die moderne Physik manchmal dazu tendiert, alle materiellen Phänomene der Welt auf einen Nenner zu bringen (Materialität ist in Wirklichkeit eine Eigenschaft der Energie, Energie ist in Wirklichkeit eine Eigenschaft des Raumes …), wollte ich eine Art Zusammenfassung von Kunst, Theologie, Liebe, Leben, Tod, Alltag, Mythologie, Spiel, Tragödie, Wiege, Grab, Spaß, eine Offenbarung. Aufzählen heißt nicht Schwafeln: bei mir sind das echte ‚Gegensätze’.« ("Frivolitäten und Bekenntnisse«)
Indem Szentkuthy sich das paracelsische Ethos – zu seinen Bedingungen – zu eigen macht, kommt er mit seinen Aufzählungen nicht nur Gegensätzen, sondern auch Affinitäten und Analogien auf die Spur: den vibrierenden Entsprechungen, die das Gefüge bzw. die Strukturen offenbaren, die dem Universum zugrunde liegen. Dies ist – und Szentkuthy gesteht, daß er hier mit Absicht ein religiöses Wort verwendet – eine Offenbarung. Was, so fragt der unermüdlich Suchende, ist das allen Dingen Zugrundeliegende? Welches ist der gemeinsame Nenner, der die menschlichen Organe, eine chemische Substanz und weit entfernte Sternennebel verbindet? Wie haben derart ungleiche Dinge miteinander zu tun? Szentkuthys Listen sind nicht bloß Listen, sondern werden sub specie aeternitatis zusammengetragen; wenn er Kataloge erstellt, begibt er sich nicht in die Niederungen einer Einkaufsliste. Sein Katalogisieren ist eher merkurisch, chemisch, indem er mathematische Formeln literarisch transponiert. In diesem paracelsischen Ethos ist die Methodologie seines Buches enthalten, obwohl das Wort für einen clownesken, possenreißenden, ikonoklastischen Autor wie Szentkuthy eigentlich zu theoretisch klingt. Wie Paracelsus glaubt er, Wissen sei Erfahrung. Wenn die hohen Schulen so viele Esel hervorbrächten, müsse ein Arzt eben alte Weiber, Zigeuner, Schwarzkünstler, umherziehendes Volk, Räuber und andere Gesetzlose aufsuchen und bei ihnen in die Schule gehen.
Zum einen ist das Werk also ein Catalogus rerum, zum anderen eine Confessio, und das führt uns zur Wiener Psychologie und zur Praxis der Psychoanalyse. Szentkuthy wurde erwachsen, während die Geburt der modernen Psychologie mit all ihren Kämpfen und ihrer Apotheose in vollem Gange war. Als er »Auf zur einzigen Metapher« schrieb, waren die Hauptwerke von Freud, Jung und Adler fast alle schon erschienen. Jedenfalls beginnt Szentkuthys Leben als Schriftsteller, als der ganze Kontinent sich im Zuge politischer Umbrüche und der intensiven Erforschung der Psyche in Gärung befindet. Als – freilich höchst unorthodoxer – Katholik hatte der Ritus der Beichte für ihn große Bedeutung, durch das leidenschaftliche Studium der Werke Freuds, Jungs und Adlers wurde der Akt des Analysierens bzw. der unbarmherzigen Selbstprüfung noch intensiviert. Wenngleich deren Terminologie in seinem Werk keine offensichtlichen Spuren hinterlassen hat und sich darin keine offenkundig psychologischen Darstellungen finden, ist ihr Einfluß – von Szentkuthy auf seine Weise umgesetzt – durchaus bemerkbar, vor allem in seiner obsessiven, beharrlichen und verbissenen Beschäftigung mit ‚der Frage’. Denn eines der auffälligsten Merkmale von »Auf zur einzigen Metapher« ist die Analyse. »Mein Bestreben«, erklärte er, zielt auf »ein Welt-Bild [világkép], das es mir erlaubt, die letzten Fragen des Lebens zu bündeln (wie stilisierte Bilder, die man auf alten Wappen sieht – einen Löwen, den Mond, Sterne, ein Schachbrett, einen Arm mit einer Keule, Hügel und ein Wasserlauf, et cetera –, so viele schöne Dinge haben auf so kleinem Raum Platz…) Letzte Fragen ist ein guter Ausdruck, weil in dieser unserer Welt alles Frage bleibt, zumindest für den prüfenden Verstand. Folglich (…) ist es weitaus nützlicher, Fragen zu katalogisieren, die an die Grundlagen der Welt rühren, als vorschnelle Antworten und Lösungen anzubieten.« (Frivolitäten und Bekenntnisse, Kapitel VIII)
Keine Antworten, keine Lösungen, sondern ein Katalog von Fragen, obwohl selbst das nicht wörtlich zu verstehen ist: Man wird in diesem Buch keine Liste im üblichen Sinn finden. An »Auf zur einzigen Metapher« ist nichts pedantisch: Es besteht aus Aphorismen und essais, und Szentkuthy ist so aufrichtig (und unterhaltsam) wie Rousseau. Alles, was ihm in die Hände, zu Ohren, vor Augen kommt oder seine Haut berührt, wird sorgfältig und gewissenhaft analysiert, denn er versucht, soweit es in seiner Macht steht, »den Dingen mit derselben Leidenschaft auf den Grund zu gehen wie der Wiener Arzt«. Und so behält die Frage die Oberhand: in einem Denken in Bewegung, in der Eleganz eines Gedankens. Szentkuthy tanzt.
[…]
Aus dem Englischen von Dora Fischer-Barnicol
SINN UND FORM 5/2014, S. 607-621, hier S. 615-618
Razanau, Ales
Wo die Strömung zur Ruhe kommt. Versetten, S. 622
Koschel, Christine
Tagebuchaufzeichnungen zum Sterben Ingeborg Bachmanns. September - Oktober 1973, S. 624
Opitz-Wiemers, Carola, und Michael Opitz
»Der Bachmann glaube ich, was sie schreibt«. Gespräch mit Christine Koschel, S. 638
MICHAEL OPITZ, CAROLA OPITZ-WIEMERS: Sie haben 1961, im Alter von fünfundzwanzig Jahren, mit dem Lyrikband »Den Windschädel tragen« debütiert. (...)
Opitz-Wiemers, Carola
»Der Bachmann glaube ich, was sie schreibt»
Gespräch mit Christine Koschel
MICHAEL OPITZ, CAROLA OPITZ-WIEMERS: Sie haben 1961, im Alter von fünfundzwanzig Jahren, mit dem Lyrikband »Den Windschädel tragen« debütiert. Wann haben Sie mit dem Schreiben begonnen?
CHRISTINE KOSCHEL: Mit etwa fünfzehn, als der alte Fürst von Thurn und Taxis starb. Ich besuchte in Regensburg eine Internats-Klosterschule, und wir mußten in der Kirche an dem aufgebahrten Fürsten vorbeidefilieren. Für uns Kinder war das ein schockierendes und berührendes Erlebnis. Aus dieser Begegnung mit dem Tod ist mein erstes Gedicht entstanden.
OPITZ/WIEMERS: Hat Sie jemand ermutigt, diese ersten Texte zu veröffentlichen?
KOSCHEL: In der »Zeit« wurde ganz früh etwas gedruckt, das habe ich neulich im digitalem Archiv wiedergefunden. Teilweise sehr lustige Texte, ich war erstaunt, daß ich das mal geschrieben haben soll. Diese ersten Veröffentlichungen verdanke ich Wolfgang Liebeneiner. Er war während der Nazizeit Produktionschef der UFA-Film. Eigentlich wollte ich ja Schauspielerin werden, und er hat mich zum Vorsprechen und danach zum Essen eingeladen. Dabei habe ich ihm wohl erzählt, daß ich Gedichte schreibe. Er hat sie dann an Rudolf Walter Leonhardt, den damaligen Feuilletonchef der »Zeit«, weitergegeben, der fünf oder sechs davon gedruckt und sogar ein Honorar gezahlt hat, worüber ich sehr glücklich war, da ich kaum Geld hatte.
OPITZ/WIEMERS: Wann war das?
KOSCHEL: Das muß 1957/58 gewesen sein, vor meinem Kontakt mit Heinrich Ellermann. Ich lebte in München, und man hatte mir gesagt, daß es dort einen Verleger für neue Lyrik gebe, bei dem ich es versuchen solle. Ich bin also nach Schwabing in seinen Verlag gegangen und habe ihm meine Manuskripte gezeigt. Und er meinte: Schreiben Sie weiter und kommen Sie in einem Jahr noch mal zu mir. Nach einem Jahr habe ich ihm wieder etwas geschickt. Darauf bekam ich ein Telegramm von ihm, in dem stand: Ich drucke Sie. Das war der Vertrag. Ich durfte mitbestimmen, wie das Buch aussah, japanische Blockbuchheftung, und habe einhundert Freiexemplare bekommen sowie die Zusicherung, daß ich immer zu ihm kommen dürfe, wenn ich Geld brauche. Das habe ich zweimal gemacht. Das war Herr Ellermann, ein Traumverleger. Durch ihn ist auch die Beziehung zu Nelly Sachs zustande gekommen, denn er war der erste, der ihre Gedichte in Westdeutschland veröffentlichte. Er schickte ihr mein Buch, woraufhin sie mir sofort schrieb. Daraus ist unser Briefwechsel entstanden. Später, 1969, wollte sie mich auch in Rom besuchen – sie sollte in der Villa Sciarra lesen. Leider haben ihr die Ärzte die Reise verboten. So haben wir uns nicht persönlich kennengelernt.
OPITZ/WIEMERS: Aus dem Briefwechsel stammt auch Nelly Sachs‘ Formulierung, Sie hätten »viele Blitze aus den Nächtigkeiten der Worte geschlagen«, die im Nachwort Ihres jüngsten Bandes »Bis das Gedächtnis grünet« wieder auftaucht.
KOSCHEL: Das hat sie mir auf einer Briefkarte geschrieben. Es ist eine unmittelbare empathische Reaktion, die mir damals sehr half, denn ich war wahnsinnig unsicher und hatte keinerlei Rückendeckung. Meine Mutter hat immer gesagt, ich schreibe, wie es im Telefonbuch steht.
OPITZ/WIEMERS: Ein seltsamer Vergleich. Sie hatte also eine eher ablehnende Haltung?
KOSCHEL: Ja, eine zutiefst negative. Ich bin auch von zu Hause weggegangen, wir haben uns nie wiedergesehen. Sie hatte nur einen Maßstab, und der war Utta Danella.
OPITZ/WIEMERS: 1963, zwei Jahre nach Ihrem Debüt, waren Sie bei der Gruppe 47 eingeladen.
KOSCHEL: Ich war überhaupt nicht eingeladen. Aber ich kannte Ingeborg Bachmann und Ilse Aichinger und hoffte, daß sie mir helfen würden, eine Einladung zu bekommen. Ein Freund aus München meinte dann, fahr doch einfach hin, und packte mich ins Auto nach Saulgau. Weder die Bachmann noch die Aichinger waren da, dafür aber Alexander Kluge, den ich aus dem »Schwabinger Nest« kannte, einem Café, in dem sich damals alle trafen, die irgend etwas mit Kunst, Film und Theater zu tun hatten. Mit Kluge war ich ein bißchen befreundet, obwohl wir ganz unterschiedliche Menschen waren. Ich hatte meinen Ellermann-Band dabei und sagte: Alexander, ich bin jetzt hier und würde gerne lesen. Kannst du mir eine Lesung verschaffen? Er hat gesagt, ich solle warten, ist mit dem Buch ins Hotel zu Hans Werner Richter gegangen, hat mich dort eingeführt, und sofort habe ich die Einladung erhalten. Ich habe dann als Vorletzte gelesen, es gibt auch ein Bild von mir auf dem Stühlchen. Die Lesung wurde positiv aufgenommen, ich hatte nur gute Kritiken, von Walter Jens und Günter Grass und Johannes Bobrowski, der im Vorjahr den Preis der Gruppe bekommen hatte. Ich war damals furchtbar schüchtern. Bobrowski machte mir ständig Zeichen, ich solle doch mein Manuskript herzeigen, was ich schließlich auch tat. Am letzten Abend hat mich Unseld mit den Suhrkamp-Autoren an seinen Tisch geholt, aber ich bin mit meinem Buch schließlich zu Piper gegangen. Im Nachlaß von Ingeborg Bachmann habe ich einen Brief gefunden, in dem Piper ihr von meinem Auftritt in Saulgau berichtet. Er hat für mich votiert.
OPITZ/WIEMERS : Das war ja schon eine der letzten Tagungen der Gruppe 47. Haben Sie als Neuankömmling überhaupt bemerkt, daß Veränderungen im Gange waren?
KOSCHEL: Nein, gar nicht, für mich war alles neu und interessant. Peter Weiss, der aus seinem Stück »Die Verfolgung und Ermordung Jean-Paul Marats« las, fand ich sehr komisch, weil er sich immer als Schriftsteller und Maler vorgestellt und einem gleich die Hand gegeben hat. Ein wunderbarer Autor, was ich damals aber noch nicht wußte. Mir waren eigentlich all diese Leute unbekannt. Ich bin als junge Autorin, die auch mal lesen durfte, dort reingekommen und habe mich eigentlich ganz wohl gefühlt. Es gab auch einen Abschlußball, bei dem ich mit Günter Grass einen Tango getanzt habe. Er hat mich an sich gerissen und übers Parkett geschleudert, und ich glaube, ich habe es ganz gut hinbekommen.
OPITZ/WIEMERS: 1965 sind Sie von München, wo Sie als Regieassistentin für Film und Theater arbeiteten, nach Rom gegangen. Welche Gründe gab es für Sie, Deutschland zu verlassen?
KOSCHEL Das hing unmittelbar mit meiner Arbeit zusammen. Schauspielerin wollte ich nicht mehr werden, da mir das Schreiben wichtiger war. Ich hatte aber das Glück, eine Regieassistenz bei Kurt Hoffmann zu bekommen, der damals ein bekannter Filmregisseur war. Bei Theater und Film war ich Assistentin von Hans Dieter Schwarze. Ich wollte etwas ganz anderes. Einen Bruch mit dem traditionellen Theater. Das »Arme Theater« von Jerzy Grotowski aus Breslau, der später nach Berlin kam, wäre meine Richtung gewesen. Aber die Deutschen mochten ihn nicht, auch nicht nach seinem Tod. Die Italiener dagegen haben ihn gefeiert. Auch die geistige Atmosphäre in München hat mich nicht befriedigt. Obwohl ich damals noch nicht politisch gedacht habe, hat es mich doch gewundert, daß in den Gedichten der hofierten Autoren und Preisträger der Krieg kaum vorkam. Günter Eich war damals die bestimmende Figur, aber auch in seinen Gedichten ist von der Katastrophe des Dritten Reichs eigentlich nichts zu spüren. Als Regieassistentin habe ich seine Frau, Ilse Aichinger, kennengelernt. Ich habe sie verteidigt, als sie während einer Hörspielproduktion vom Dramaturgen und von Schwarze angegriffen wurde. Daraus entstand unsere langjährige Freundschaft. Sie lud mich nach Lenggries ein, wo ich auch Eich kennenlernte. Wir tauschten dann unsere Gedichte aus, und sie schrieb das Nachwort zu meinem Band »Pfahlfuga«. Aber Eich blieb mir ein Rätsel.
OPITZ/WIEMERS: Warum entschieden Sie sich für Italien, Sie hätten doch auch nach Frankreich oder Norwegen gehen können?
KOSCHEL: Meine erste Reise nach Italien machte ich 1959. Ich hatte kein Geld, aber man konnte damals in Rom ganz billig von Trauben und Brot leben. Ich wohnte bei einem Schneider, der sehr gut Deutsch sprach und Fichte las, was ich wunderbar fand. Ich mietete ein Bett bei ihm und schlief hinter einem Vorhang. Und beim Frühstück erzählte er mir begeistert von Fichte, über den ich gar nichts wußte. So habe ich den Nachkriegsglanz von Rom erlebt, das noch einen ganz anderen Zauber hatte, auch hinsichtlich der Menschen und ihrer Lebensweise. Das gibt es heute gar nicht mehr. Im Rückblick hat diese Faszination mit dazu geführt, daß ich mich 1965 entschieden habe, nach Rom überzusiedeln. Damit begann das Sich-Einlassen auf Italien, auf die Luft, die Gerüche, die Dinge, ohne irgendwelche politischen oder sprachlichen Vorkenntnisse.
OPITZ/WIEMERS: Als Sie zum Treffen der Gruppe 47 nach Saulgau fuhren, kannten Sie Ingeborg Bachmann bereits. Wie war es dazu gekommen?
KOSCHEL: Das passierte im Oktober 1958, im Münchner Studio Fink in der Kaulbachstraße, einer privaten Villa, in der viele Lesungen stattfanden. Ingeborg Bachmann las »Was ich in Rom sah und hörte« – das wurde natürlich bedeutsam für mich – und sie las Gedichte aus ihrem Band »Anrufung des Großen Bären«. Ich war von dieser schönen jungen Frau und ihren Texten so fasziniert, daß ich zu meinem damaligen Freund sagte: Du, ich würde sie gerne kennenlernen. Und dieser Freund hat – ohne es mir zu sagen – die Bachmann angerufen, von meiner Begeisterung erzählt und gefragt, ob sie mir nicht ein Treffen gewähren würde. So hatte ich plötzlich eine Verabredung mit ihr in einem Café am Elisabethplatz. Wir haben uns zwei oder drei Stunden intensiv unterhalten und unsere Adressen ausgetauscht.
[…]
SINN UND FORM, 5/2014, S. 638-646, hier S. 638-641
González, Tomás
All die toten Tiere. Gedichte, S. 647
Bolano, Roberto
Die romantischen Hunde. Gedichte. Mit einer Nachbemerkung von Pere Gimferrer, S. 651
Peter, Carmina
»Eine lebendige Statue des Schmerzes«. Über M. Blecher, S. 658
I Als der Militärarzt und Dichter Saşa Pană im Frühjahr 1936 in die moldauische Provinz versetzt wird, nutzt er die Gelegenheit zu (...)
Peter, Carmina
»eine lebendige Statue des Schmerzes»
Über M. Blecher
I
Als der Militärarzt und Dichter Saşa Pană im Frühjahr 1936 in die moldauische Provinz versetzt wird, nutzt er die Gelegenheit zu einem seit langem ersehnten Besuch und legt einen Zwischenaufenthalt in der Kleinstadt Roman ein. Der unermüdliche Verfechter der Bukarester Avantgarde ist nicht der einzige, den es an den unscheinbaren Ort im Nordosten Rumäniens zieht. Seit zu Jahresbeginn »Aus der unmittelbaren Unwirklichkeit«, das außergewöhnliche Prosabuch des jungen Autors M. Blecher, erschienen ist, pilgern Bukarester Schriftsteller in das Provinzstädtchen. Der in Roman aufgewachsene Blecher hatte die Stimmungen und die Abgelegenheit der Kleinstadt als Erfahrungsräume moderner Befindlichkeiten literarisch in Szene gesetzt. Seit 1934 lebt der Schwerkranke in einer einsamen Gegend am Stadtrand, wo er sich eine ungewöhnliche Lebens- und Arbeitsstätte geschaffen hat.
Blecher leidet an Knochentuberkulose und ist seit Jahren an ein fahrbares Rollbett gefesselt. Das malerische Haus mit Veranda und verwildertem Obstgarten, das er mit väterlicher Unterstützung erworben hat, vereint die Vorzüge eines Schweizer Sanatoriums mit der Vertrautheit der familiären Umgebung. Hier »am Rand der Welt«, wo allein Trompetenrufe der nahegelegenen Regimenter die Stille durchbrechen, schreibt er seine Prosa voll Empfindungsintensität und Wahrnehmungsunruhe. Auch der 1936 erscheinende Roman »Vernarbte Herzen« und das Sanatoriumstagebuch »Beleuchtete Höhle«, das Saşa Pană 1971 posthum herausgibt, entstehen hier. Gelegentlich empfängt Blecher Vertreter der Bukarester Literaturszene: Pană, Miron Grindea, Mihail Sebastian und den geliebten Geo Bogza, den er 1934 in der Gebirgsstadt Braşov kennenlernt und mit dem ihn fortan eine enge Freundschaft verbindet. Unter den zahlreichen literarischen Zeugnissen der Besucher sticht besonders Panăs Porträt hervor, das sich von der Betroffenheit des unmittelbaren Eindrucks löst - vielleicht auch weil es wiederholt bearbeitet und aus der Erinnerung überformt wurde. »Bleich« und »schön«, »wie eine lebendige Statue des Schmerzes« in ungewöhnlicher Körperhaltung auf dem Bett liegend, erscheint Blecher hier als das bewegende und zugleich kuriose Bild eines Schriftstellers bei der Arbeit: »Auf den kleinen Tischen rechts und links vom Bett türmten sich, soweit die elfenbeinernen Hände greifen konnten, eben erschienene gute Bücher und die allerneuesten Zeitschriften, die ihm Freunde aus dem Ausland zukommen ließen.« »Er lehnte ein Brett mit schräg angeschnittenen Stützbeinen gegen die Knie und hielt – in der gleichen Stellung, in der er schlief und seine Mahlzeiten einnahm – das Buch oder das Heft.« »Ein Leben in der immer gleichen Position: auf dem Rücken liegend, die Knie zu einem umgedrehten W versteinert.« ("Cu inima lângă M. Blecher«, Im Herzen bei M. Blecher, 1947) Wie ein unbeweglicher Schreibakrobat wirkt der kranke Autor in Panăs Darstellung, als wollte sich der Bukarester Surrealist Blechers unpathetischen Blick auf seine Krankheit zu eigen machen. Das Porträt erinnert an die traurige Faszination für jene Jahrmarktskünstler in »Aus der unmittelbaren Unwirklichkeit«, die artistisches Kapital aus ihren körperlichen Mängeln schlagen. Auf dem Jahrmarkt vereinigen sich für Blecher die Sehnsüchte der Welt: »Den ganzen Tag hindurch lief ich über den Jahrmarkt und vor allem über das angrenzende Feld, wo die Artisten und die Monster aus den Buden sich struppig und verdreckt um den Kessel mit dem Maisbrei versammelten, herabgestiegen von ihren schönen Dekors und ihrem nächtlichen Akrobatendasein als Damen ohne Unterleib und Sirenen in die allgemeine Sauce und das Elend ihrer unverrückbaren Menschlichkeit.« Blecher läßt seife- und steineschluckende hagere Alte auftreten, Mädchen, die ihre zarten Körper verrenken, einen Artisten mit künstlichem Kehlkopf, der unnachahmlich Zigarettenrauch durch den Hals ausatmet. Für Mitleid ist der Jahrmarkt nicht der rechte Ort. In das Staunen über Blechers Artisten mischen sich aber Erschrecken und Verblüffung, denn in ihren Darbietungen zeigt sich der Zwiespalt des Leibs in seiner Begrenzung und seinem Vermögen, in seiner Hinfälligkeit und seiner Schöpferkraft. Der Körper wird nicht auf seine Gebrechen reduziert, vielmehr werden diese zum Ausgangspunkt einer sonderbaren Artistik, die Grenzen und Mängel der Physis ästhetisch transzendiert. Diese Kunst der gegen sich selbst gerichteten Körper steht sinnbildlich für M. Blechers autobiographische Poetik.
II
1909 in Botoşani geboren, gehört Max Blecher, der bis 1934 Beiträge gelegentlich unter Pseudonym veröffentlicht, zu einer Generation rumänischer Intellektueller, die ihr Bewußtsein in den zwanziger und frühen dreißiger Jahren theoretisch zu erkunden versuchen. Mircea Eliade betont in »Intinerariu spiritual« ("Geistiger Wegweiser«, 1927) den unbändigen Durst nach Erfahrung, und N. Steinhardt erinnert sich später fast wehmütig an eine Generation im »Aufruhr des Daseins«, »voller Rastlosigkeit, Hoffnung und erregter Eile« ("Geo Bogza: un poet al efectelor, exaltării, grandiosului, solemnităţii, exuberanţei şi patetismului«, »Geo Bogza, ein Dichter der Wirkungseffekte«, 1982). In der Enge der rumänischen Provinz stößt der schöpferische Drang jedoch schnell an Grenzen. Roman ist in dieser Hinsicht keine Ausnahme. Beteiligt sich Blecher als Gymnasiast noch mit jugendlichem Elan am kulturellen Leben der Kreishauptstadt und verfaßt Filmrezensionen für die Lokalzeitschrift, so zeigt er sich später von der Kleingeistigkeit seiner Mitbürger regelrecht abgestoßen: »Wenn es das Schreiben nicht gäbe, hätte mein Leben keinen Sinn, denn was sich jenseits davon abspielt, erscheint mir uninteressant, reiz- und zusammenhanglos, die Menschen, denen ich hier begegne, sind stupide, banal, ohne Leidenschaft, es sind lebendige Tote, ganz besonders diese Kleinbürger, die ich so gut kenne und die mir unerträglich sind«, schreibt er am 7. Juli 1935 an Geo Bogza. Vom kulturellen Phlegma der Provinzstadt berichtet auch Miron Grindea, der spätere Herausgeber der Londoner Exilzeitschrift »Adam«. Bei einem Besuch in Roman 1937 wundert er sich darüber, daß der Ruf des Dichters Blecher noch immer hinter dem des angesehenen Vaters zurückgeblieben ist.
Wie Franz Kafka und Bruno Schulz stammt auch Blecher aus einer jüdischen Kaufmannsfamilie. Der Vater hat eine kleine Terrakottafabrik geerbt und betreibt im Zentrum der Kleinstadt, wo die Familie seit Generationen ansässig ist, ein Geschäft mit Porzellan- und Glaswaren. Nach dem Gymnasialabschluß bereitet sich der junge Blecher auf das Medizinstudium vor. Mit dem Gesetz zur Einbürgerung der Juden 1923 werden die rumänischen Universitäten zunehmend zum Schauplatz antisemitischer Diskriminierungen und Gewaltakte. Mihail Sebastian schildert diese beklemmenden Umstände in seinem Tagebuch-Roman »Seit zweitausend Jahren« und löst damit 1934 den vielleicht größten Skandal der rumänischen Literaturgeschichte aus. Sie dürften auch eine Rolle gespielt haben, als sich Blecher für einen Studienort im Ausland entscheidet. Viele jüdisch-rumänische Schriftsteller leben und arbeiten zu diesem Zeitpunkt bereits in den westeuropäischen Metropolen. Insbesondere Tristan Tzaras und Benjamin Fondanes Paris wird zum Sehnsuchtsort für ihre Generationsgenossen. 1929 bricht Blecher mit einem Jugendfreund nach Paris auf. Letztlich schreibt er sich jedoch an der medizinischen Fakultät in Rouen ein. Nur wenige Monate später gibt ein Arztbesuch seinem Leben eine radikale Wendung. Als er seine immer wiederkehrenden Rückenschmerzen untersuchen läßt, erhält er die Diagnose Knochentuberkulose. Die Ärzte empfehlen einen Aufenthalt in Berck-sur-Mer, einer Sanatorienstadt an der französischen Ärmelkanal-Küste. Für den jungen Blecher beginnt eine Reise ins Ungewisse durch verschiedene europäische Kurorte: Berck, das schweizerische Leysin, Tekirghiol am Schwarzen Meer, das transsilvanische Braşov.
III
Als Blecher 1929 in Berck eintrifft, hat die späte Blütezeit der Sanatorien bereits begonnen. Fünf Jahre zuvor hatte Thomas Mann im »Zauberberg« die Lebenswelt der Tuberkulose-Kranken zum symbolischen Ort des Untergangs einer Kulturepoche gemacht. In der Topographie der Moderne wird das Sanatorium zur Flucht- und Verweilstätte einer geschäftigen Bevölkerung, der in den großstädtischen Agglomerationen die Luft zu knapp geworden ist. Das Fischerdorf Berck entwickelt sich, nachdem Kaiserin Eugénie 1868 hier das Maritime Krankenhaus zur Behandlung der auch »Pott’sche Krankheit« genannten Knochentuberkulose gegründet hat, zu einem florierenden Kurort, der Kranke wie Touristen beherbergt. Doch Berck ist kein Ableger des mondänen Davos, die Krankheit prägt das Erscheinungsbild der Stadt. Bei der Knochentuberkulose handelt es sich um eine bakterielle Entzündung insbesondere der Wirbelsäule, die in chronischen Phasen zu Eiterbildung und zur Zerstörung der Knochensubstanz führt. Zu Blechers Zeiten wird sie durch Eingipsung und komplette Ruhigstellung der betroffenen Körperteile behandelt. Man glaubt, die orthopädische Behandlung durch Sonnen- und Meeresluftkuren unterstützen zu können. In dieser malerischen Szenerie ist der Patient zu monatelanger Unbeweglichkeit verurteilt.
Ein Schnappschuß, aufgenommen an der Küste von Berck, zeigt den in einer Spezialkutsche liegenden, elegant gekleideten Blecher. Den linken Arm hat er unter dem Kopf angewinkelt, was lässig aussehen könnte, wäre da nicht die Anspannung der gesamten Körperhaltung. Vor dem Gespann steht aufrecht die Mutter, Bella Blecher. Sie wirkt befremdet, als wolle sie jeden Anschein von Müßiggang vermeiden. Diese Fotografie gibt einen Einblick in die verkehrte Welt der Krankenstadt, die Blecher später mit großer Wahrnehmungsschärfe und Sinn für das Groteske ausgestaltet. Das »Leben in der Horizontale« wird zum Hauptgegenstand seiner literarischen Reflexionen, zum Zeichen für die Kontingenz des Daseins, das alle Denk- und Verhaltensgewohnheiten in Frage stellt. Wie einem insolite quotidien, einer ausgefallenen Alltäglichkeit werden seine Figuren dieser unheimlichen Realität der Körper begegnen und ihr Menschsein in der kaum auszuhaltenden Spannung zwischen Gipspuppe und närrischem Pojaz, zwischen lebendiger Statue und Akrobat wiederfinden.
IV
Während der Bercker Jahre von 1929 bis 1933 gewinnen Blechers literarische Bemühungen zunehmend an Kontur. Von Beginn an gilt sein Interesse den Ästhetiken des Modernismus und der Avantgarden. Die ersten, 1929 in Berck-Plage verfaßten Krankenporträts »Herrant« und »Don Jazz« veröffentlicht er in Tudor Arghezis satirischer Zeitschrift »Bilete de papagal«. Das in Rumänien einzigartige Miniaturblatt steht für ästhetische Originalität, Nonkonformismus und Experimentierfreude und ist daher das geeignete Publikationsorgan für Prosaskizzen, die ein ausgeprägtes Bewußtsein für Spracheffekte verraten. Blecher bringt verblüffende Vergleiche, spart konkrete Details aus oder verfremdet sie. Der Kranke ist eine bizarre Figur, die nicht wegen ihres Leidens, sondern als unbegreifliche, paradoxe Erscheinung ästhetisch interessant ist. Damit beginnt seine Auseinandersetzung mit der Krankheit im Medium der Sprache. Später, im Porträt »Jenică« (1933) oder in der literarischen Reportage »Berck, Stadt der Verdammten« (1934), wird er auch zu empathisch-ironischen Betrachtungen finden.
Noch bevor seine ersten Prosaminiaturen erscheinen, findet Blecher in Berck Anschluß an den Surrealismus. 1931 begegnet er dem gleichaltrigen Dichter Pierre Minet, einer schillernden Figur aus dem Kreis um die Zeitschrift »Le Grand Jeu«. In einem Tagebucheintrag beschreibt Minet, wie eng für Blecher die Krankheit mit der ästhetischen Suche zusammenhängt. Worüber Blecher auch nachdenke – ob über die Poesie oder über die Philosophie Nietzsches –, im Grunde gehe es ihm stets um die Auswirkungen der Krankheit auf sein Bewußtsein und seine Gefühlswelt; er verstricke sich andauernd in Widersprüche, mache aus schwarz weiß und aus weiß schwarz. Es ist kein schmeichelhaftes, aber ein erkenntnisreiches Porträt. Vor allem eins vermutet Minet hinter Blechers verzweifelten Denkanstrengungen, nämlich den Willen, die zerstörerischen Folgen der Krankheit abzuwehren und sich selbst nicht aufzugeben: »Er diszipliniert sich, um sich nicht zu verlieren (eine lauernde, tödliche Gefahr)«. Diesen Eindruck bestätigt auch der rumänische Avantgardedichter Bogza, Blechers engster Freund und literarischer Weggefährte, der für ihn sogar in die Rolle des Literaturagenten schlüpft. Wie kein anderer nimmt er am Leben und Schaffen des ans Bett Gefesselten Anteil und schreibt ihm zahlreiche Briefe, aus denen dieser in seiner Isolation Kraft schöpft. Für Bogza ist bereits das erste Prosabuch des Freundes, »Aus der unmittelbaren Unwirklichkeit«, in dem die Krankheit nur eine untergeordnete Rolle spielt, von einer Art Revolte gegen die biologischen Gegebenheiten bestimmt. Blecher gibt an keiner Stelle seines Werks der Versuchung nach, dem physischen Leid eine Sinndimension abzugewinnen, im Gegenteil. In »Beleuchtete Höhle« ächtet er es als angebliche Quelle schöpferischer Inspiration. Er nimmt die surrealen Aspekte der Welt der Tuberkulosekranken in den Blick und hält die Erinnerung daran gleichsam auf Distanz. Schreiben ist bei ihm stets Einübung in eine unpersönliche Betrachtung der Krankheit. Davon zeugt schon sein antipathetischer Stil. Auch in Zeiten größter Verzweiflung, in denen die Resignation in seinen Briefen deutlich zum Ausdruck kommt, lotet sein fiktionales Ich die Grenzen zwischen Traum, Wirklichkeit und Erinnerung aus und behält sich das Recht vor, das Pathos der Existenz auf der »inneren Bühne« mit imaginären Gummitierchen zu brechen , die Akrobatenkunststücke und komische Salti machen: »Es bleibt sich mithin gleich, ob wir nun träumen oder leben. (…) Wenn wir dann trotzdem versuchen würden zu glauben, die Tatsachen seien von uns unabhängig, reichte es, in einem tragischen Moment die Augen zu schließen, um eine so strikte und hermetische innere Unabhängigkeit vorzufinden, daß wir darin jede Erinnerung, jeden Gedanken und jedes Bild, alles, was uns beliebt, plazieren zu können.« Bis zuletzt bekunden seine literarischen Ich-Figuren eine ungebrochene Faszination für die »leicht verrückte« Wirklichkeitsbetrachtung »aus einer gewissen Distanz außerhalb der Realität« (Beleuchtete Höhle, 2008), die das persönliche Leidensschicksal hinter sich läßt.
SINN UND FORM 5/2014, S. 658-663
Blecher, M.
Berck, Stadt der Verdammten, S. 664
Lehr, Thomas
Der verborgene Sisyphos, S. 678
Weichelt, Matthias
Das Kleinste und der Chevalier. Kommerell, Kantorowicz und George, S. 682
Sayer, Walle
Ins Nachtbuch, S. 692
Detering, Heinrich
Weltneugier. Lobrede auf Martin Mosebach, S. 695
März, Ursula
Das Feuerwerk der Metaphysik. Lobrede auf Sibylle Lewitscharoff, S. 700
Feßmann, Meike
Die Freiheit, sein Leben noch einmal zu erzählen. Laudatio auf Abbas Khider, S. 705
Wagner, Jan
Selbstvorstellung. Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Mainz, S. 711