
[€ 9.00] ISBN 978-3-943297-14-0
Heft 6/2013 enthält:
Gasdanow, Gaito
Schwarze Schwäne, S. 773
Sośnicki, Dariusz
Stadt der Selbstmörder. Gedichte, S. 788
Starobinski, Jean
»In deinem Nichts hoff' ich das All zu finden.« Über Melancholie, S. 791
Canetti, Elias
Notizen gegen den Tod, S. 795
Michon, Pierre
Der Himmel ist ein sehr großer Mann, S. 812
Übrigens hatte schon Swedenborg,
der eine weitaus größere Seele besaß,
uns gelehrt: Der Himmel ist ein sehr großer Mann.
Michon, Pierre
Der Himmel ist ein sehr großer Mann
Übrigens hatte schon Swedenborg,
der eine weitaus größere Seele besaß,
uns gelehrt: Der Himmel ist ein sehr großer Mann.
Baudelaire
Es kommt selten vor, daß ich bete. Anfang September 2001 lag meine Mutter, die ihr Erwachsenenleben lang versucht hatte, mir Vater und Mutter zu sein und im hohen Alter meine Tochter hätte sein können, in der Kleinstadt G. im Sterben. Vor dem Fenster standen gewaltige Bäume, ein Blätterwall. Jeder Tag dieses Spätsommers war schön, die Sonne spielte auf der Mauer in immer neuen Variationen unter den Augen einer Sterbenden, die Bäume geliebt hatte. Ich ging jeden Tag zu ihr, aber als ich am siebten September kam, sah ich, daß es aus war (mein Geist sah es, mein Herz konnte nicht folgen): Sie röchelte, würde nicht mehr sprechen; sie war in jenen Zustand der umherirrenden Seelen eingetreten, den die Tibetaner das Bardo nennen. Ich setzte mich zu ihr, und nach einer Weile, die für mich unermeßlich war, Stunden oder Minuten, sprang ich auf und lief hinaus in eine Buchhandlung, um Bücher zu kaufen. Ich nahm mir Zeit, auszuwählen. Ich kehrte zurück mit dem XXIII. Band der »Carte archéologique de la Gaule Romaine«, dem zweiten Band von Michel Foucaults »Dits et écrits« in der Quarto-Ausgabe und einem dritten Buch, das ich vergessen habe. Noch immer rannte ich, wie der Hase in der Fabel. Es war vielleicht sechs Uhr nachmittags. Als ich ins Zimmer meiner Mutter kam, röchelte sie nicht mehr, sie atmete nicht mehr, aber ihre Hand war noch ganz warm, als ich sie nahm. Nachdem die herbeigerufene Krankenschwester den Tod bestätigt hatte, ließ man mich allein. Einzig mein Geist war da und registrierte, wie zuvor. Die Bücher lagen brav in ihrem Tragetäschchen am Fußende des Bettes, bei den Leichenfüßen, die winzig sind. Der grüne Wall tat dem Geist wohl. Auch der Geist war lau, wie er immer ist. Ich mußte beten, mußte das Herz und die Seele herbeirufen, wie es dieser Frau gebührte. Ich versuchte es mit einer jener im Katechismusunterricht erlernten Sachen, dem Vaterunser wahrscheinlich, kam nicht weit. Und dann drängte sich der Text auf, das von sehr weit her gekommene, wie von einem anderen gesandte Gebet, und ich sprach es laut, wie damit die Tote es höre: »Ihr Menschenbrüder, die ihr nach uns lebt, / laßt euer Herz nicht gegen uns verhärten, / denn alles Mitgefühl, das ihr uns gebt, / wird Gott dereinst euch um so höher werten.« (Villon, Ballade der Gehenkten, Übersetzung K.A. Ammer) Herz und Seele sprangen herbei, ich sagte das Gedicht von Anfang bis Ende auf, wie es gesagt werden muß, unter Tränen, ich stand vor der Leiche meiner Mutter, wie man vor ihr stehen muß, unter Tränen.
Ein anderes Mal habe ich gebetet, ein paar Jahre zuvor, im Oktober. Ein Kind war in der Nacht geboren worden, ich war gerade nach Hause zurückgekehrt, im Morgengrauen. Etwas kam in mir auf, was das Verlangen war zu beten, mich abzuschließen, mich zu öffnen. Ruhig auf meinem Bett sitzend, lächelnd wie man lächelt, wenn man allein ist, sagte ich laut, von Anfang bis Ende, Victor Hugos »Der Schlaf des Boas« auf. Ich sagte es, wie es gesagt werden muß, in einem Gefühl der Ruhe, der völligen Ergebenheit, der Hoffnung entgegen jeder Vernunft, der nie ausbleibenden Glorie.
Die »Ballade der Gehenkten« kann für eine tote Mutter gesprochen werden, »Der Schlaf des Boas« für eine lebend geborene und lebensfähige Tochter, wie die Gebärhelfer in ihrem Routinebericht schreiben. Es gibt nur wenige Gedichte, die diesen beiden Ereignissen standhalten, so wie es von Wolfram heißt, daß es der absoluten Nulltemperatur ständhält; das Metall, in das die schönen, zwischen Erde und Mond schwebenden, den Big Bang betrachtenden Teleskope gekleidet sind. Das Wolfram betrachtet den Big Bang. Die beiden Gedichte, die ich aufsagte, betrachten Leichen, alle Leichen, darunter die der Mütter, sie betrachten die Seele, die sich des von ihr einst bewohnten Leibes erinnert, aus dem heraus sie den kleinen, für kurze Zeit ihr zugeteilten Ausschnitt des Big Bang beobachten konnte; sie betrachten die lebendigen Leiber, die kleinen Kinder, die zur Welt kommen, älter werden und sterben. Sie betrachten sie, sie sprechen zu ihnen, sie sprechen von ihnen, von Leichen, kleinen Kindern und von uns, die wir dazwischenstehen, als ob Leichen, kleine Kinder und wir dasselbe wären – und es ist dasselbe. Sie beruhigen die Leiche, helfen dem Kind, auf seinen Beinen zu stehen. Wahrscheinlich ist das die Funktion der Poesie. Eine andere vermag ich kaum zu sehen. Gedichte können diese Wirkung haben, sie können den Big Bang und das Jüngste Gericht und alles, was dazwischen geschieht, die ewige Trauer und die ewige Freude, den Reichtum und seinen Schatten, das Elend, den grünen Wall, die Tote, die Adjektive lebend und lebensfähig, im selben kurzen Blick festhalten; sie können Menschen erschüttern, indem sie ihnen für kurze Zeit diesen doppelten Blick verleihen. Wozu sind Dichter gut in unserer Zeit, die eine Zeit der Not ist, das Jahr der Not 2002, wie das Jahr 1462 in Moulins ein Jahr der Not war, als Villon das Testament zu Ende brachte, und das Jahr 1859, als Victor Hugo im Mai »Der Schlaf des Boas« schrieb, wie das ungewisse Jahr des späten Neolithikums, als Boas träumte – Wozu Dichter? (Im Original deutsch.) Nur dazu.
Gewiß habe ich noch einige Male gebetet, aber diese Gebete waren keine ganz richtigen, sie waren nicht an eine alte Tote oder eine kleine Lebende gerichtet – sie waren an nichts gerichtet, an die Bäume, an meine Selbstgefälligkeit, an eine Freude, auf die man sich keinen Reim machen kann und die sich Reime beschert, um sich zu verzehnfachen. Einmal bin ich Archäologen-Freunden zu einer Ausgrabungsstätte in Oberäthiopien gefolgt, in der Provinz Menz: dreitausend Meter Höhe in den Tropen, das heißt in etwa das Klima der Toskana, das extravagante Blau des Himmels und jene Pflanzendecke, die die Geographen Park nennen, eine Savanne also, die aber an einen Weideplatz und an die französischen Causses erinnert, ein englischer Rasen. Die Ausgrabungen umschlossen die Zeltstadt eines mittelalterlichen Königs, der Sorge getragen hatte, wie Vegetius rät, »sein Lager an einem sicheren Ort einzurichten, wo man reichlich Holz, Viehfutter, Wasser und gesunde Luft vorfindet«. Das alles war hier reichlich vorhanden; es gab auch Korn, das die Einheimischen mit einer Pflugschar aus hartem Mimosenholz in die Erde bringen, mit der Sichel ernten und auf der Tenne dreschen; es gab riesige, tafelartige, königlichen Schatten spendende Wacholder; Basaltorgeln mit bloßliegendem Fundament, ein Felsdurcheinander, schöne, polyedrische Brocken, die zum Anbeißen aussahen, wie in Rimbauds »Festen des Hungers«, und auf denen man sich niederließ wie ein König; und wenn man das königliche Lager und die eingestürzten Orgeln hinter sich ließ, kam man in eine weitläufige, mit Eukalyptusbäumen bewachsene Prärie, die steil bis zum natürlichen Schutzgraben eines dreihundert Meter tiefen Canyons abfiel.
Dorthin ging ich oft. Es war einsam dort und auch wieder nicht. Oft glaubte ich mich allein und plötzlich umstanden mich Kinder, aufmerksam, gelassen, hilfsbereit und willig, einem in schlechtem Englisch den Zweck einer beliebigen Sache, des Windes, der Bäume, der Zweige, Gottes oder, wenn man darauf aus war, der gereimten Poesie zu erklären. Schwer zufriedenzustellen waren sie nicht. Nur hatten sie schon am ersten Tag gemerkt, daß in meinen Taschen immer mehrere dieser bunten Plastikstifte steckten, die es in Bahnhofskiosken zu kaufen gibt und die ein wahrer Schatz für sie waren; auch wurden das Gespräch und die Gefälligkeiten immer wieder unterbrochen: »Father. A pen? Give a pen, father.« Der Umgang mit dem father (hielten sie mich für einen Priester? einen Patriarchen? oder war ich einfach ein Alter für sie?) hinderte sie nicht daran, abgestorbene Eukalyptuszweige aufzusammeln, denn deshalb waren sie in die Prärie über dem Canyon gekommen. Das Sammeln war Aufgabe der Kinder von Menz, höchstens noch der jungen Männer; ich wußte, daß die wenigen Frauen, die Holz suchten, verwitwet oder von ihren Männern verlassen worden und kinderlos waren. Viele Frauen sind in dieser Situation, sie suchen verzweifelt einen beliebigen Gefährten, einen Ernährer. Sie sind nicht besonders anspruchsvoll.
Eines Abends sah ich eine von ihnen. Sie kam vom anderen Ende der Prärie. Beim Näherkommen machte sie mir, Holz auflesend, kleine Zeichen. Es waren diskrete und zugleich offensichtliche Offerten, ein Lächeln, Blicke, bescheidene und offene Versuche, sich vorteilhaft zu präsentieren, ohne Affektiertheit oder Vulgarität, so wie sexuelle Offerten wahrscheinlich von Urbeginn an in den Agrargesellschaften, die wir nicht mehr kennen, ausgedrückt wurden. Ich begriff erst überhaupt nicht, was sie wollte, hielt ihr Gebaren für Freundlichkeit. Dann stand sie vor mir, ihr Reisigbündel im Arm. Sie mochte dreißig oder vierzig Jahre alt sein und war noch recht hübsch, aber ihr fehlten ein paar Zähne und der Bauch war unförmig. In dem schlechten Amerikanisch, über das die ganze Welt verfügt, in diesem Weltreich-Syriakisch sprach sie mich an, freundlich sich darbietend, ohne Zurschaustellung. Ihre vier Kinder waren tot, ihr Mann auch. Sie lächelte. Sie besaß eine unbeugsame Lebenstapferkeit. Sie schaute mir gerade ins Gesicht. »Come home. Bread. Milk. Me. Tala« (so heißt Bier auf äthiopisch). Sie lachte, es war ihr ernst. Ich lachte auch, sagte, ich hätte bereits homes und families, und einer aus meinem Dorf erwarte mich zum Tala-Trinken. Ich gab ihr etwas anderes als Liebe, was man in der Hintertasche der Jeans trägt und was zu allem gut ist. Sie ging fort mit demselben Lächeln, derselben offenen und direkten Art.
Der falsche Patriarch hatte die richtige Ährenleserin nicht gewollt.
Sie hatte mich bewegt. Sie war weggegangen. Der Wind blies ein wenig vom Canyon her und mir brannten die Augen. Ich sagte von Anfang bis Ende »Der Schlaf des Boas« auf, für die Eukalyptus- und die Wacholderbäume, für die toten Könige, für das Neolithikum, für die Tenne und die Sintfluten, um mir eine Freude zu machen und um mich zum Weinen zu bringen, um schon vor der Tala trunken zu sein, für den Canyon, in den man hinunterfallen kann, für das universelle Kauderwelsch, für die verpaßten Gelegenheiten, für die Frauen, die man will, und für die, die man nicht will, für nimmer mehr, für den Corvus crassirostris, der in Menz nistet, den thick-billed raven mit seinem schwerfälligen Flug, seinem schmutzigen Schnabel, seinem widerwärtigen Geschrei, seinem Gefieder, schwärzer als das alter Krähen, aber mit einer Kinderhandbreit Hermelin auf dem Nacken, Milch, Schnee, ein reiner Spiegel, in dem die Arglosigkeit sich betrachtet.
Als ich fertig war, war sie deutlich zu sehen, die goldene Sichel im Feld der Sterne. Ich ging die Tala trinken.
[...]
Aus dem Französischen von Anne Weber
SINN UND FORM 6/2013, S. 812-825
Leśmian, Bolesław
Pfade, die ich als Kind durchlief. Gedichte, S. 826
Hodjak, Franz
Die Adern der Blätter. Gedichte, S. 829
Gebauer, Gunter
Der versteckte Erzähler. Entwurf einer Theorie in Literatur und Philosophie, S. 831
Kirsch, Sarah
Im Spiegel. Poetische Konfession. Mit einer Vorbemerkung von Isabelle Lehn, Sascha Macht und Katja Stopka, S. 848
Vorbemerkung »Ich hatte mehrere Leben, die sich voneinander stark unterschieden«, schreibt Sarah Kirsch in ihrer Chronik »Allerlei-Rauh«. Im (...)
Kirsch, Sarah
IM SPIEGEL
Poetische Konfession
Vorbemerkung
»Ich hatte mehrere Leben, die sich voneinander stark unterschieden«, schreibt Sarah Kirsch in ihrer Chronik »Allerlei-Rauh«. Im Mai verstarb die 1935 im Harz geborene Dichterin mit 78 Jahren. Sowohl ihr vielfach ausgezeichnetes lyrisches Werk als auch ihre Prosaarbeiten sind vom unverwechselbaren »Sarah-Sound« (Peter Hacks) geprägt. 1965, an der Schwelle »zwischen nicht mehr und noch nicht«, entstand kurz vor Beginn ihres Lebens als freie Schriftstellerin ein kleiner, noch unveröffentlichter Text, ihre Abschlußarbeit am Leipziger Institut für Literatur Johannes R. Becher. Im vorgegebenen Rahmen einer »poetischen Konfession« stellt sich Kirsch den Ausgangsfragen ihrer Literatur. Der Text gibt Einblicke in die Werkstattüberlegungen einer jungen Dichterin, über deren Lyrik Heinz Czechowski – ebenfalls Absolvent des Instituts – im Rückblick sagte: »Sie war damals schon selbständig, naiv vielleicht, aber echt.« Aufgefunden wurde er kürzlich im Archiv des Deutschen Literaturinstituts Leipzig, das sich – in Nachfolge der 1993 abgewickelten Einrichtung – der Förderung des literarischen Nachwuchses im vereinigten Deutschland widmet. Dort wird seit dem Frühjahr 2013 die Geschichte der institutionalisierten Schriftstellerausbildung in der DDR erforscht.
Gemeinsam mit ihrem Mann Rainer Kirsch nahm die 28jährige 1963 ihr Studium in Leipzig auf. Zuvor hatte sie in Halle (Saale) ein Biologiestudium absolviert, ihren Geburtsnamen Ingrid Hella Irmelinde Bernstein abgelegt und den Rufnamen Sarah gewählt, um ein Zeichen gegen den Antisemitismus in der eigenen Familie zu setzen. Durch ihre Heirat 1958 entstand der Name, unter dem sie erste Gedichte in Zeitschriften publizierte und später zu einer der bedeutendsten deutschen Lyrikerinnen wurde. Nach der Ausbürgerung Wolf Biermanns verließ sie – mittlerweile geschieden – die DDR und zog 1977 mit ihrem Sohn zunächst nach West-Berlin und dann nach Schleswig-Holstein, wo ein weiteres ihrer Leben begann. In der kleinen Gemeinde Tielenhemme lebte sie bis zu ihrem Tode.
Sarah Kirsch kam auf Vorschlag des Deutschen Schriftstellerverbands ans Literaturinstitut, nachdem sie in Halle an der von Gerhard Wolf geleiteten »Arbeitsgemeinschaft junger Autoren« (AJA) teilgenommen hatte. Wolf war es auch, der ihre Gedichte Stephan Hermlin empfahl, als dieser im Dezember 1962 eine Lesung mit ausgewählten Nachwuchslyrikern in der Akademie der Künste plante. Die Veranstaltung, die in der Literaturlandschaft der DDR eine regelrechte »Lyrik-Welle« auslöste, zog zahlreiche weitere Lesungen und Veröffentlichungen nach sich.
Das Literaturinstitut Johannes R. Becher war in den sechziger Jahren durchaus renommiert, zumal die Bewerber einen Talentnachweis erbringen und Publikationserfahrung nachweisen mußten. Dennoch war das Studium, die letzte Stufe im vorgezeichneten Weg der staatlichen Autorenausbildung, unter den angehenden Schriftstellern umstritten. Schließlich erfüllte die auf SED-Beschluß gegründete und dem Ministerium für Kultur (MfK) unterstellte Einrichtung einen Auftrag der Partei. Laut Hochschulprogramm galt es, literarische Talente »zu sozialistischen Schriftstellern« auszubilden und darin zu schulen, »mit den Mitteln der Kunst die sozialistische Bewußtseinsbildung der Menschen zu unterstützen«. Dazu sollten die jungen Autoren eine an den Bedürfnissen des Arbeiter-und-Bauern-Staats orientierte, volksnahe und aufklärende Literatur hervorbringen, die nach den Maßgaben des sozialistischen Realismus unter Aussparung allzu abstrakter und moderner Elemente auf große Wirklichkeitsnähe setzte. Vor allem das Arbeitsleben und der sozialistische Alltag, mit dem Bitterfelder Programm 1959 zu Leitmotiven ausgerufen, sollten am Institut ihren Niederschlag finden, u. a. durch einen Fernstudiengang für schreibende Arbeiter und obligatorische Praktika, mit denen Studierende »ihre Kontakte mit der werktätigen Bevölkerung vertiefen « und ihre Darstellung an der Wirklichkeit schulen konnten.
Zu Kirschs Zeit umfaßte der Stundenplan zur »fachlichen Bildung« überwiegend theoretische Lehrveranstaltungen zu deutscher, sowjetischer und Weltliteratur, dazu Ästhetik, Kulturwissenschaft, Stilistik, Literaturkritik sowie der an allen DDR-Hochschulen zum Pflichtfach erhobene Marxismus-Leninismus. Der »künstlerischen Persönlichkeitsentwicklung « – der Begriff war in einem Entwurf des Gründungsstatuts im MfK mit einem handschriftlichen Fragezeichen versehen worden und verschwand dann vollständig – dienten »Schöpferische Seminare«, in denen die Arbeit an eigenen literarischen Texten in den Gattungen Lyrik, Prosa und Dramatik im Mittelpunkt stand. In diesen Veranstaltungen, deren Inhalte und Lehrverfahren nur bedingt kontrolliert werden konnten, ergaben sich Freiräume jenseits ideologischer Vorgaben. So etwa in den Prosaseminaren, die der ehemalige Wismutarbeiter und Institutsabsolvent Werner Bräunig leitete. Er galt als einer der Hoffnungsträger des Bitterfelder Weges, stand aber wegen seiner Parteinahme für Studierende in der Kritik. Sein »Rummelplatz«-Manuskript geriet 1965 auf dem 11. Plenum der SED ins Kreuzfeuer. Schließlich verließ er nach Eröffnung eines Parteiverfahrens »freiwillig« das Institut.
Die prägende Figur für Sarah Kirsch war jedoch der Dichter Georg Maurer, Dozent von 1955 bis 1970, an den sich Kirsch 1993 in einem Interview anläßlich der Verleihung des Peter-Huchel-Preises erinnerte: »Dieses Leipziger Institut war außerordentlich schön, weil Georg Maurer dort lehrte, das Lyrikseminar hielt. Er hatte die wunderbare Methode, sich unsere Gedichte anzusehen und uns dann, eine Woche später, alles zum gleichen Thema aus der Weltliteratur vorzulegen. Diese Bücher gab es im Literaturinstitut. Wenn wir Regengedichte hatten, oder wenn ein Spiegel drin vorkam, da hatte er dazu alles. Von der Droste bis zu William Carlos Williams. Dann hörten wir die wunderbaren Texte und hatten alles gelernt, indem wir unsere nämlich wegschmeißen konnten.« Bei Maurer, der sich in seinen Seminaren über die Kanonisierung hinwegsetzte und seine Schüler zu »Genauigkeit« verpflichtete, habe sie gelernt, »daß man nicht die großen ›philosophischen‹ Gedichte machen soll, wie das im Sozialismus üblich war, so etwas wie der späte Becher machte, soviel Verblasenes hat man ja selten gehört. Davon hat uns Maurer wenigstens abgehalten, das nachzuahmen. Er sagte, wir sollten lieber den kleinen Gegenstand nehmen.«
Für das Diplom reichte Sarah Kirsch im September 1965, wie in der Prüfungsordnung vorgesehen, eine künstlerische und eine theoretische Abschlußarbeit ein. Erstere bestand in dem mit Rainer Kirsch geschriebenen Gedichtband »Gespräch mit dem Saurier«, der ebenso bereits vorlag wie die Reportage »Berlin-Sonnenseite«, die das Paar 1964 zum »Deutschlandtreffen der Jugend« in Ost-Berlin verfaßt hatte, und die in der Anthologie »mitternachtstrolleybus« erschienenen Nachdichtungen aus dem Russischen. Für ihre theoretische Arbeit wählte Sarah Kirsch die freiere Form der »Poetischen Konfession«, die den Studierenden als Alternative zu einer literaturwissenschaftlichen Arbeit möglich war.
So kritisch wie gewitzt befaßt sich Sarah Kirsch darin mit der Tauglichkeit des sozialistischen Realismus und dem Stellenwert der Lyrik im Vergleich zur Prosa. Nicht zufällig trägt ihre poetische Selbstbetrachtung den Titel »Im Spiegel«. Die Ich-Erzählerin rückt ihren Schreibtisch vor den Spiegel, um den eigenen Arbeitsprozeß zu betrachten und sich mit dem Motiv des Spiegels auseinanderzusetzen: Er erzeugt einerseits einen Widerschein, andererseits eine Brechung der Wirklichkeit – bezeichnenderweise hat der in ihrem Text vorkommende Spiegel einen Sprung. Damit erhalten ihre Reflexionen den Charakter eines Metadiskurses über die Frage, was Lyrik vermag, was sie sein kann und möglicherweise nicht sein darf. Der Spiegel wird damit bereits 1965 zum Zentrum von Kirschs Poetik – Günter Kunert wies 1985 im Nachwort zu ihrem Gedichtband »Landwege« auf die besondere Stellung dieses Motivs hin. Die sozialistische Realität und wohl auch die Vorgaben des sozialistischen Realismus scheint die Autorin hier nicht allzu ernst zu nehmen, taucht doch in der zunächst ganz realistischen Situationsbeschreibung ein Drachentöter aus der Artussage auf. Wie in ihrer Lyrik nutzt sie auch hier Märchenmotive zur ironischen Brechung der Wirklichkeit: Lanzelot trägt Bluejeans, hat das Drachentöten aufgegeben und ist in einem Forschungsinstitut angestellt.
Der Ritter, dem Kirsch in späteren Jahren ein eigenes Gedicht widmet, entpuppt sich als ebenso geistreicher wie streitbarer Gesprächspartner der mit ihrer Kunst hadernden Ich-Erzählerin. So entspinnt sich ein doppelbödiger Dialog über poetologische Positionen, dessen ernsthafte Argumentation ständig unterlaufen wird – von ironischen Wendungen und Pointen im typischen Sarah-Sound, unter Einbeziehung von Schlüsselbegriffen wie Grunderlebnis oder Selbstkritik. Ersterer stammt von Anna Seghers und bezeichnet eine Art Initiationserlebnis, das jeder Künstler benötige, um sein Talent an eine Aufgabe zu binden. Für Sarah Kirsch bestand diese Erfahrung nicht zuletzt in der Zugehörigkeit zu einer Lyrikergeneration, die auf dem Wert der eigenen Erfahrung bestand und sich von den »alten Genossen«, den »alten Männer(n)« abgrenzte, so wie ihre Mitstreiter Rainer Kirsch, Wolf Biermann und Volker Braun, die sich nicht auf vorgefertigte ideologische oder ästhetische Positionen einließen, sondern auf »Vorläufigem« beharrten. »Wir waren merkwürdigerweise fast alle vom Jahrgang 1935«, erinnerte sich Sarah Kirsch 1993, »und wir hatten einen gewissen Hochmut. Der blühte, und den brauchten wir auch, um uns gegen die Parteidichter behaupten zu können.«
Demgegenüber kann Selbstkritik als Grundhaltung des engagierten Sozialisten verstanden werden, der sich hinsichtlich seines Auftrags stets kritisch zu hinterfragen hat (was selbstverständlich auch als Synonym für Selbstzensur verstanden werden kann). Doch die scheinbare Ernsthaftigkeit wird durch andere Assoziationen unterminiert – etwa wenn das Segherssche Grunderlebnis mit dem Blick in ein Whiskyglas in Verbindung gebracht wird. Die »doppelte Brechung«, die durch den Glasboden im Spiegel entsteht, kommt einer Selbstbehauptung, einem Beharren auf der eigenen Wahrnehmung gleich: Nur gebrochen ist die Wirklichkeit darstellbar. Die Äußerung zur Selbstkritik ist von so enervierter Flapsigkeit, daß man darüber lachen muß.
Lanzelot fordert von ihren Texten weniger Selbstbespiegelung und tut Gegenstände wie Liebe und Kummer als »Damengeschwätz« ab, wo es doch allerorten »nach Napalm und Atompilzen« rieche. Dahinter ist wohl ein Seitenhieb auf jene Lyrikerkollegen zu vermuten, die Kirschs frühen Gedichten »Mädchenhaftigkeit« oder »Baby-Talk« (Adolf Endler) unterstellten oder, wie Georg Maurer in seinem Prüfungsgutachten, betonten, sie verstehe es, »Vorgänge in der intimen fraulichen Sphäre ebenso ehrlich wie zart auszusprechen«.
Sarah Kirsch setzt dagegen ihr zweites poetologisches Grundverfahren ein, die Verkleinerung, wodurch die Welt im Spiegel ihrer Gedichte »ein bißchen kleiner als in Wirklichkeit « erscheint: Es sind »die trippelnden Vögel, Menschen, struppige Hunde, ein sanfter Garten, der vornehme Verkäufer, ein Fisch«. Es sind die scheinbar nebensächlichen Dinge, die in Kirschs Gedichten große Wirkung entfalten, weil sie Kontraste setzen und die Fallhöhe des Großen und Ganzen verdeutlichen. Auch ihr vermeintlich naiver Tonfall folgt diesem Prinzip der Verkleinerung, die einfache, aber doppelbödige Sprache eröffnet ihr auf unerwartete Weise den Spielraum zur Brechung aller Erwartungen.
So auch in ihrem Gedicht »Kleine Adresse« von 1964, dem erst die Vögel zur vielgeforderten »Welthaltigkeit« verhelfen: als Flug- oder Reisemotiv, das sich antithetisch oder auch spiegelbildlich zu den Grenzen der politischen Welt verhält und »eine ungeheure Sehnsucht nach außen« zum Ausdruck bringt. »Aufstehn möchte ich, fortgehn und sehn, / ach, wär ich Vogel, Fluß oder Eisenbahn, / besichtigen möchte ich den Umbruch der Welt.« Die »Kleine Adresse« ist denn auch eine der wenigen frühen Arbeiten, die Kirsch in ihrer »Poetischen Konfession« noch gelten läßt. Die meisten verwirft sie, sie zweifelt am Erreichten, sucht Rat bei ihren literarischen Vorbildern und spürt den Druck erster Erfolge. Eben dreißig geworden, sorgt sie sich »ein wenig um die Schönheit und sehr um die Leistung«.
Am Ende der »Poetischen Konfession« trinkt Lanzelot den letzten Whisky und verläßt seine Gesprächspartnerin. »Nieder mit dem Gefälligen!« ruft er ihr noch zu. Die Autorin bleibt »etwas klüger als zuvor und unzufrieden« zurück. Doch trotz aller Unwägbarkeiten »zwischen nicht mehr und noch nicht« spricht sie sich noch einmal Mut zu: »Mach weiter«, ermahnt sie sich mit der ihr eigenen Zähigkeit – jener »Zähigkeit, mit der sie Niederlagen überdauert, ihr Recht im Sichnichtverlieren« behauptet, wie Peter Hacks Jahre später schreibt: »›Ich möchte‹, so fühlt Sarah, ›die Welt lieben; sie ist nicht liebenswürdig, weder zu mir, noch als solche. (…) Sie werden mich ein wenig flennen oder ein wenig aufmotzen oder ein wenig kichern hören, aber kleinkriegen, das werden sie mich nicht. So, Sie finden mich schnurrig? Sie glauben, nur Katzen schnurrten, die Guten; sie vergessen die Tiger.‹«
Isabelle Lehn, Sascha Macht und Katja Stopka
[...]
SINN UND FORM 6/2013, S. 848-855
Engdahl, Horace
Wagner und das Wunderbare, S. 856
Sloterdijk, Peter
Das glückliche Ohr. Ein Gespräch über Musik mit Manfred Osten, S. 864
MANFRED OSTEN: Vielleicht sollten wir mit der Rehabilitierung eines Stiefkinds der europäischen Geistesgeschichte beginnen, mit der (...)
Sloterdijk, Peter
Das glückliche Ohr. Ein Gespräch über Musik mit Manfred Osten
MANFRED OSTEN: Vielleicht sollten wir mit der Rehabilitierung eines Stiefkinds der europäischen Geistesgeschichte beginnen, mit der Rehabilitierung des Hörens. Haben wir nicht das Ohr als Erkenntnisorgan allzu lange unterschätzt?
PETER SLOTERDIJK: Ich bin mir nicht sicher, ob wir dem Ohr wirklich so untreu geworden sind, wie es Ihre Worte nahelegen, denn unsere Kultur beruht vom ersten Tag an auf der Allianz zwischen dem Auditiven und dem Visuellen. Das hat unter anderem damit zu tun, daß die Europäer die ersten waren, die den von den Phöniziern und anderen Vorgängerkulturen übernommenen Alphabeten Vokale hinzugefügt haben. Also wären die Griechen, wenn sie sonst nichts geleistet hätten, trotzdem das bedeutendste Volk der Geistesgeschichte Europas, eben weil sie die orientalischen Konsonantenschriften um Vokale ergänzt und dadurch etwas möglich gemacht haben, worauf unsere ganze audiovisuelle Kultur beruht: das autodidaktische, das selbständige Lesen, die vollständige Vokalisierung des lesbaren Textes und damit die Entstehung einer psychoakustisch prägnanten Halluzination im inneren Ohr des lesenden Menschen, der glaubt, er höre den Autor sprechen. Wir haben eine Kultur des inneren Hörens, des betreuten Halluzinierens geschaffen, in der sich die Stimme des Autors gleichsam wie eine Hand auf die Schulter des Lesers legt und ihm erlaubt, sich ein Bild von dem zu machen, was er gesagt hätte, wenn ihn nicht jahrhundertelanges Totsein am unmittelbaren Verkehr mit seinem Fernschüler hindern würde. Die Griechen haben, wenn Sie so wollen, durch ihre Schrift die Teleakademie erfunden. So würde man das heute nennen. Und Teleakademien haben das besondere Merkmal, daß in ihnen Fernstimmenübertragungen stattfinden. Ich würde sagen, das ist die Basis unserer Kultur.
Die Griechen haben zudem eine Merkwürdigkeit an den Tag gelegt, über die wir heute noch staunen können, sie haben nämlich die Buchstaben zugleich für Zahlen und Musiknoten benutzt. Das können wir uns gar nicht mehr vorstellen, weil wir ja Zahlen und Notationen und Buchstaben haben. Der verstorbene Friedrich Kittler hat über diese Entdeckung in seinen reiferen Tagen fast den Verstand verloren, weil er zu verstehen versucht hat, was es bedeutet, wenn man gleichzeitig Mathematik, Musik und geschriebenes Denken praktiziert. Doch alles, was ich gesagt habe, ist nur eine Annäherung an den großen Satz von Thomas Mann, der in meinen Augen am Anfang jeder Besinnung über Fragen der Musik stehen könnte: »Die Musik ist dämonisches Gebiet.«
OSTEN: Die Rangerhöhung der Musik fand in der Spätromantik statt, etwa in Nietzsches berühmter »Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik«. Da wurde plötzlich das Ohr an die Herzkammer des Weltwillens gelegt. Der Gedanke, daß der Weltgrund musikalisch, daß Musik im Grunde eine metaphysische Tätigkeit ist, ist doch ungeheuer. Wie kommt man zu solchen Überlegungen?
SLOTERDIJK: Durch die Entdeckung der Mehrschichtigkeit der Audiovisualität als solcher. Ursprünglich hat die europäische Kultur die beiden Fernsinne Auge und Ohr gegenüber dem, was man die Nähesinne nennt, unendlich privilegiert, also gegenüber dem Geruchssinn, dem Tastsinn, dem atmosphärischen Spüren. Im Grunde genommen ist das Spüren der große Verlierer der Kulturgeschichte. Es wird jetzt unter verschiedenen Namen, unter anderem dem der Haptonomie, mühsam wieder in unser Weltbild integriert. Die Nähesinne mußten unter den Sinnen des Menschen zweitausend Jahre lang den Idioten der Familie spielen. Wir haben das Tasten, das Riechen, das Schmecken und das gesamte atmosphärische Empfinden, also den Umgang mit dem, was bei den Phänomenologen tertiäre Qualität heißt, am Eingang zur Akademie abgewiesen. Über diesem Eingang stand ja auch, die mathematisch Ungebildeten, diejenigen, die nicht bereit sind, die für die europäische Wissenschaftskultur konstitutiven Abstraktionen mitzumachen, mögen außen vor bleiben. Und wir haben bis zum Beginn der Renaissance, bis zum 14./15. Jahrhundert warten müssen, ehe die Künstler wieder von der Mathematik zur Sinnlichkeit zurückkehrten. Das ist das eigentliche Geheimnis der Renaissance, die Reinklusion der ausgeschlossenen Sinne – aber auch die müssen sich an das Idiom der Mathematik und an das Denken in Proportionen, die Lage im Raum und die Größenbestimmung halten. Das sind die sogenannten Primärqualitäten, auf sie allein stützt sich wahres Wissen. Musik hat im innersten Kreis der Wissenschaften zwar eine Rolle gespielt, aber nicht als hörbare, sondern als gedachte Musik. Es ist interessant, daß von Pythagoras bis ins hohe Mittelalter immer auch eine Musikologie betrieben worden ist, die so etwas wie die Wissenschaft von den mathematischen Proportionen beinhaltete, auf welchen Musik beruht, auch wenn man sie nicht hört. Die Wiederkehr des Hörens meint eigentlich die niedere Musik, die so etwas Schmutziges wie eine Klangfarbe hat – schon das Wort Farbe löst bei einem echten Platoniker ja Krämpfe des Unwohlseins aus, weil damit die Verschmutzung durch Empirie beginnt.
OSTEN: Ist es nicht so, daß die Metaphern, die wir aus der europäischen Geistes- und Philosophiegeschichte übernommen haben, zum Beispiel »sich ein Bild machen«, »Licht ins Dunkel bringen« oder »Aufklärung«, meist aus dem Bereich des Sehens kommen? Man könnte sich die Aufklärung ja auch als Aufklingung denken. Aber von Aufklingung haben wir keinen Begriff. Es scheint doch irgendwann zu einer Dominanz des Visuellen, zumindest bei Metaphern und Begriffsbildungen, gekommen zu sein.
SLOTERDIJK: Das liegt an Plato. Aber er ist nicht an allem schuld, er kann auf einen anonymen Urheber des Verhängnisses verweisen, denn er lebt in einer Kultur, in der die Alphabetisierung bereits stattgefunden hat. Sie liefert Plato seine Grundideen, denn die Idee der Idee ist der Buchstabe. Man hat aus den Vokalgallerten, die aus Menschenmündern hervorquellen und die man Sprachen nennt, durch geniale Sequenzierung die Elemente herauspräpariert, die eine phonetische und vokale Rekonstruktion des Lautes im Schriftbild begründen. Das ist ein grundstürzender Vorgang, und den hat die Philosophie als eine von ihr selber nicht verstehbare Prämisse bereits im Rücken. Als Plato mit seinem Eidos, seinem Urbild kommt, kann er sich auf zwei Urbilderfahrungen berufen, die zur Grundausstattung der griechischen Lebenswelt gehören. Die erste war die für jeden Griechen, ob alphabetisiert oder nicht, sichtbare Tatsache, daß an jeder Ecke Statuen nackter Männer standen. Ohne diese Grundgeste, ohne die in den Statuen zum Ausdruck kommende Genialität kann man die Griechen nicht verstehen. In der Statue wird das Göttliche aufgerichtet, und das Göttliche ist immer ein bißchen größer als der Mensch, aber nicht zu groß. Zehn Prozent mehr, und schon hat man einen Helden, einen Halbgott oder eine Epiphanie. So muß man sich auch die Statuen in Olympia und an anderen Orten des griechischen Siegerkults vorstellen. Zum olympischen Sieg gehört das Recht, Statuen aufzustellen. Wenn fremde Heere einfielen, verübten sie unter den Statuen einen regelrechten Völkermord. Aber wenn sie abzogen, konnten die Geschichtsschreiber sagen: Griechenland ist immer noch voller Statuen. Dieser Umstand hat Plato in gewisser Weise recht gegeben, weil er darauf verweisen konnte, daß es so etwas wie real existierende Ideen gibt. Zunächst als vergöttlichte Männerkörper in der gebundenen archaischen Gestalt des Kuros mit den am Oberschenkel angelegten Händen und später in der gelösteren Gestalt, die einen Schritt nach vorne tut. Und dann die sich vom Körper lösenden Arme – am Ende fast tänzerisch verklärte Körpererscheinungen, die im römischen Manierismus zu einer unglaublichen Höhe weitergebildet werden. Die zweite Voraussetzung des Platonismus ist noch viel unscheinbarer. Statuen springen ins Auge, werden aber in der Regel vom Betrachter nicht reflektiert, weil er sie nur als herumstehende Objekte wahrnimmt. Wir können die Statuen aufstellende Gebärde, also den Denkakt, der dazu führt, daß man einen menschlichen Körper auf solche Weise erhöht und sichtbar macht, heute nicht mehr recht nachvollziehen. Zumindest konnten wir es bis 1900 nicht, als die neue Kultur der Models aufkam und wir auch die Freude an der Körperpräsentation wieder entdeckten.
Der andere Punkt, auf den ich hinweisen möchte, ist die Tatsache, daß die Griechen bereits diese mysteriösen 24 oder 25 Schriftzeichen hatten, die die gesamte Sprache mit lautbildlicher Präzision wiedergeben konnten. Wenn Plato nach dem Urbild eines Urbilds gesucht hätte, was er aufgrund seines Eingetauchtseins in die Schriftkultur nicht tat, wäre er unweigerlich beim Buchstaben gelandet, der auf griechisch Element heißt. Die eigentliche Elementarisierung, die Sequenzierung des Seienden in kleinste Teile, ist eine Nebenfolge des Umstands, daß die Griechen das in ihrer Schrift bereits getan hatten. Bis vor kurzem war es auch die einzige erfolgreiche Form der Sequenzierung des Seienden. Erst im späten 18. Jahrhundert tauchten Tafeln der chemischen Elemente auf, die wir bis auf den heutigen Tag weiterschreiben. Authentische Sequenzierungen des Seienden kann man daran erkennen, daß man mit den freigelegten Elementen Rekombinationen vornehmen und Existierendes exakt abbilden kann. Mit dem, was darüber hinaus geht, kann man wieder neue Kombinationen erzeugen. Aus dieser Kombinatorik entsteht die erste Form von Kreativität. Das heißt, wir erzeugen durch Kombinationen von Elementen etwas Neues. Insofern war die Kabbala gar keine so dumme Sache.
Die Kabbalisten nahmen die Kunst, aus Buchstaben Wirklichkeiten zu machen, so ernst, daß sie glaubten, sie könnten durch Buchstaben-Manipulationen die Schöpfung rekapitulieren und gewissermaßen daran mitarbeiten. An diesem Punkt stehen wir heute. Wir schreiben den Dienstag der zweiten Schöpfungswoche, und in dieser geht man – was das Kombinieren und das Rekombinieren von Schöpfungsmaterie angeht – weit über die rudimentären Verfahren der ersten Woche hinaus.
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SINN UND FORM 6/2013, S. 864-877
Lian, Yang
Die Poetik des Raumes. Eine zeitgenössische Antwort auf die Herausforderungen des klassischen chinesischen Gedichts, S. 878
Jentzsch, Cornelia
Zwischen gestern und morgen. Der Dichter Yang Lian, S. 887
Cărtărescu, Mircea
Ein Brunnen im Meer, S. 889
Schulze, Ingo
Wenn schon keine Freundschaft oder Liebe, dann wenigstens eine Geschichte! Nachruf auf Klaus Fiedler, S. 891
Härtling, Peter
Mein Freund, mein Präsident. Nachruf auf Walter Jens, S. 895