
[€ 9.00] ISBN 978-3-943297-10-2
Heft 2/2013 enthält:
Wagner, Nike
Wagner feiern?, S. 149
Dieckmann, Friedrich
Wagner und kein Ende, S. 157
Lepenies, Wolf
Royaldemokratie und Gründercharisma. Peter Wapnewski und das Wissenschaftskolleg, S. 166
Lange, I. M.
Mein Freund Walter Benjamin. Mit einer Vorbemerkung von Erdmut Wizisla, S. 175
Vorbemerkung Immer wieder tauchen unbekannte Quellen zu Walter Benjamin auf. In den letzten zehn Jahren gehörten Briefe aus der (...)
Lange, I. M.
MEIN FREUND WALTER BENJAMIN
Vorbemerkung
Immer wieder tauchen unbekannte Quellen zu Walter Benjamin auf. In den letzten zehn Jahren gehörten Briefe aus der Promotionszeit in Bern dazu, eine Postkarte an Ernst Bloch, Aufzeichnungen zum Spracherwerb seines Sohnes Stefan, ein umfangreiches Konvolut mit Notizen, Exzerpten und Briefentwürfen aus dem Pariser Exil, die unter Zeitungsausschnitten im Moskauer Sonderarchiv verborgen waren, und manches mehr. Die meisten Entdeckungen verdanken sich der Arbeit an der neuen kritischen Gesamtausgabe und werden dort auch zugänglich gemacht, was nicht heißt, daß ihr Erkenntniswert sich in Philologischem erschöpfte. Im jüngst erschienenen Band »Kritiken und Rezensionen« finden sich mehr als zweihundert Seiten bislang ungedruckter Entwürfe und Fassungen von Besprechungen. Die Dokumentation der Kontexte befreit Benjamins Rezensententätigkeit vom Vorurteil der Brotarbeit und macht sie als eines der Zentren seines Werks begreifbar. Die bevorstehende Edition des Werkkomplexes »Berliner Chronik"/"Berliner Kindheit« rückt die Gedächtnisarbeit, die Benjamin mit seinen Kindheitserinnerungen verfolgte, in ein völlig neues Licht, weil erstmals die Konstruktion des Ganzen zu sehen ist.
Neue Zeugnisse zur Biographie des Schriftstellers sind indes nicht gerade zu erwarten. Es scheint, als sei das, was Freunde und Zeitgenossen über Benjamin erzählen wollten, von diesen selbst publiziert oder mittlerweile annähernd lückenlos aus Nachlässen zutage gefördert worden. Mit beträchtlichem Gewinn: die Erinnerungen an Benjamin halten sein Bild lebendig. Allen voran Gershom Scholems »Geschichte einer Freundschaft « (1975), die große, aus der Sicht des Jerusalemer Freundes geschriebene Biographie, dazu in den sechziger Jahren für den Rundfunk aufgenommene Erzählungen von Ernst Bloch, Theodor W.Adorno, Max Rychner und Jean Selz, ferner Berichte und Erinnerungen von Asja Lacis, Hannah Arendt, Bernard von Brentano, Charlotte Wolff, Gisèle Freund, Adrienne Monnier, Max Aron, Hans Sahl und Lisa Fittko, um nur die wichtigsten zu nennen.
Es mag verblüffen, daß mit dem Text von I.M. Lange Unbekanntes jetzt von einem DDR-Literaturkritiker kommt, einem Mann, der sich gegenseitiger Wertschätzung, ja Freundschaft mit Benjamin rühmt, obwohl sein Name im Benjamin-Zusammenhang bisher nur eine Randnotiz war. Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Erinnerten sind jedoch rasch zu zerstreuen. Lange weiß aus erster Hand zu erzählen. Sein Blick auf Benjamin ist ungeachtet seiner politischen Borniertheit direkt und unverfälscht.
Johann (Hans) Friedrich Lange, der sich Johann Melchior Lange, I.M. Lange, kurz: I.M.L., nannte, wurde 1891, ein Jahr vor Benjamin, in Berlin geboren. Sein Vater war Goldschmied und handelte mit Immobilien; »man gehörte zum mittleren Bürgertum«, beschrieb der Sohn seine Herkunft, die ihm offenbar Freiheiten gab. I.M. Lange brach die Schule ab und begann eine Ausbildung: zunächst an der Königlichen Bauschule in Dresden, sodann als Volontär einer Potsdamer Buchhandlung, schließlich als Verlagskaufmann. Er machte 1911 in Wismar die Bekanntschaft von Georg Heym und 1914 die von Franz Pfemfert, der 1916 in seiner Zeitschrift »Aktion« unter dem Pseudonym HALA ein expressionistisches Gedicht des mittlerweile im Kriegsdienst stehenden und als Feldbuchhändler eingesetzten Lange publizierte. Bis in die frühen zwanziger Jahre hatte er engeren Kontakt zu Carl Zuckmayer, der in seinen Lebenserinnerungen »Als wär’s ein Stück von mir« erzählte, daß Lange »ganz in der Geisteshaltung der russischen Vorkriegs-Anarchisten« lebte. Ihren Schriften war Lange 1914 in der Königlichen Bibliothek, Unter den Linden, begegnet, wo er in der Musikabteilung volontierte. Zuckmayer hatte Lange als Verkäufer in einer Feldbuchhandlung kennengelernt und war durch ihn auf Bakunin, Alexander Herzen, Kropotkin und Stirner aufmerksam geworden. In dem verschmuddelten Lädchen des hageren Buchhändlers hätten neben vaterländischen Romanen »sämtliche revolutionär gestimmte Broschüren und Zeitschriften dieser Tage« gelegen. Unter den Versen des Freundes gab es Zuckmayer zufolge »manche von merkwürdiger Schönheit«. Lange lebte längere Zeit in Heidelberg und Westfalen, später wieder in Berlin, er arbeitete als Antiquar und Bibliothekar. 1927 erschien sein Gedichtband »Frank und Sebastian«. Zwei Jahre später trat Lange in die KPD ein. Er lehrte am Bauhaus in Dessau und in der Marxistischen Arbeiterschule (MASCH), schrieb unter dem Kürzel iml für die »Rote Fahne« und war Lektor und Korrektor bei Publikationen der Münzenberg-Verlage. In Dessau lernte er 1930 die Bauhausschülerin Annemarie Wimmer kennen, das Paar heiratete 1938; Annemarie Lange schrieb später vielfach aufgelegte kulturhistorische Berlin-Bücher. Während des Krieges war I.M. Lange als Hilfsbibliothekar und Hilfsarbeiter tätig. In der DDR machte er spät noch Karriere im Verlag Volk und Wissen, wo er politisch für die gesamte Schulbuchproduktion verantwortlich war, in der SED-Parteihochschule und am Zentralinstitut für Bibliothekswesen. Er promovierte noch als Sechzigjähriger mit einer Arbeit über die gesellschaftlichen Beziehungen in Fontanes Romanen, gab eine Dokumentation zeitgenössischer Quellen zur Revolution von 1848 heraus, die erste Fontane-Ausgabe bei Aufbau, Bücher von Heine, Hauff und Alexis, er verfaßte Monographien und Kommentare zu Leibniz, Fallada und Thomas Mann, Aufsätze und Rezensionen. 1970 wurde er zum Professor ernannt. I.M. Lange starb 1972 in Berlin.
Den hier erstmals veröffentlichten Auszug aus Langes Memoiren und die Daten zur Biographie des Verfassers stellte Hartmut Pätzke zur Verfügung, dem an dieser Stelle herzlich für den Hinweis auf den teilweise handgeschriebenen Text sowie dessen Transkription und Kollation gedankt sei. Das Manuskript entstand in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre, Korrekturvermerke verweisen auf das Jahr 1963. Es umfaßt 500 Seiten und liegt heute in Langes Nachlaß, den die Handschriftenabteilung der Berliner Staatsbibliothek aufbewahrt. Lediglich ein Auszug, der Erinnerungen an die Novemberrevolution enthielt, war 1958 in der »Neuen Deutschen Literatur« veröffentlicht worden. Lange war enttäuscht, daß sein Lebensbericht offenbar nicht auf das von ihm erhoffte Interesse stieß. Der für unseren Abdruck gewählte Titel geht auf einen hier nicht gedruckten Satz aus Langes Manuskript zurück, wo es heißt: »ich denke an meinen lieben Freund Walter Benjamin, der in diesem Bericht erst später auftreten wird«. An einer anderen Stelle spricht er von Freunden, die ihn in Heidelberg besuchten, und schreibt, Benjamin sei ihm immer der »werteste« gewesen.
Die Bekanntschaft begann in den frühen zwanziger Jahren, als Benjamin in Heidelberg lebte, Baudelaire übersetzte und eine Zeitschrift mit dem Titel »Angelus novus« herausgeben wollte. Nach Langes Angaben gab es auch in Berlin in den späten zwanziger und vermutlich in den frühen dreißiger Jahren noch Begegnungen. Der einzige unmittelbare Niederschlag der Begegnung bei Benjamin ist dessen Nachfrage in einem Brief an seinen Verleger Richard Weißbach vom 4. September 1923: »Von Lange höre ich nichts. Wissen Sie etwas von ihm?« 1928 besprach Lange Benjamins bei Rowohlt erschienene Bücher »Einbahnstraße« und »Ursprung des deutschen Trauerspiels « in der »Weltbühne«. Die »Einbahnstraße« rühmte er als »Hauptverkehrsader neuern Denkens«, das Buch begründe eine Essayistik, »die in kürzester Weise den Extrakt ihres Stoffes lückenlos darbietet«.
Langes Erinnerungen sind nicht ohne Irrtümer chronologischer und sachlicher Natur: So hat Benjamin erst während des Ersten Weltkrieges Zugang zur Heidelberger Intelligenz gefunden. Der frühe Hölderlin-Aufsatz ist nicht in einer der Jugendschriften vor dem Krieg gedruckt worden. Benjamin publizierte in der Zeitschrift »Der Anfang«, die nicht von Ernst Joël geleitet wurde, nicht aber in dessen »Aufbruch«. Benjamin und Scholem studierten nicht in Zürich, sondern in Bern. Nicht Jonas Fränkel, sondern Richard Herbertz war Benjamins Doktorvater, seine Dissertation widmete sich nicht dem »Problem«, sondern dem »Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik«, als Habilitationsschrift reichte er selbstverständlich nicht nur die Einleitung seiner Studie »Ursprung des deutschen Trauerspiels« ein, der Moskau-Aufsatz erschien in Bubers Zeitschrift »Die Kreatur«, nicht in der »Sammlung« usw. Es würde zu weit führen, hier weitere Fehler zu korrigieren. All das ist für Lange nicht entscheidend gewesen. Er verfaßte seine Memoiren aus dem Gedächtnis, war sich bei der Namensschreibung und bei manchem Detail nicht sicher und hielt es auch nicht für nötig, sich darüber Gewißheit zu verschaffen – etwa durch Anfrage bei Gershom Scholem, der, als Lange sich an ihn erinnerte, in Jerusalem lebte.
Es kann uns auch nicht um Langes eigenwillige, teils aberwitzige Wertungen gehen – etwa die literarhistorische, Benjamin sei einer der Propagandisten des Expressionismus, oder die charakterliche, Benjamin sei ein »vor lauter Schüchternheit leicht boshaft werdender Mensch« gewesen. Achtet man jedoch auf unbekannte Sachinformationen und Nebentöne, wird man diese Abschnitte aus Langes Memoiren nicht ohne Gewinn lesen. Wie es Benjamin gelang, vom Kriegsdienst befreit zu werden, ist in zahlreichen, teils einander widersprechenden Anekdoten überliefert. In den ersten Augusttagen 1914 will er sich – »keinen Funken Kriegsbegeisterung im Herzen« – mit Freunden aus der Jugendbewegung freiwillig gestellt haben, um unter Gleichgesinnten bleiben zu können. Nach dem Tod seines Freundes Fritz Heinle suchte Benjamin phantasiereich nach Auswegen. Ihm, Bloch, Scholem und vielen anderen half die Flucht in die Schweiz, und dennoch hatte Benjamin immer wieder vor den Musterungsbehörden zu erscheinen. Scholem wußte, daß es Benjamin gelungen war, sich als »Zitterer« zu präsentieren, und so wurde er vom Militärdienst freigestellt. Diese Version berührt sich mit den erst kürzlich zugänglich gewordenen Erinnerungen von Rudolph E.Morris, einem Kommilitonen, der Benjamin vor einer Musterung getroffen und von ihm erfahren haben will, daß er so viel starken Kaffee getrunken hätte, daß die Einberufungsbehörde ihn wegen erhöhter Herzfrequenz zurückgestellt habe. Langes Version kennen wir von Scholem, dem Benjamins Ehefrau Dora anvertraut hatte, daß sie durch Hypnose ischiasähnliche Symptome bei ihm hervorrufen konnte, wobei erst Langes Bericht deutlich macht, daß die Ischiassymptome, über die Benjamin noch monatelang klagte, nicht simuliert waren.
Lange kannte Benjamins Arbeiten: nicht nur die zur Zeit des Umgangs mit ihm zugänglichen wie die Dissertation, den Essay »Goethes Wahlverwandtschaften«, die Bücher »Einbahnstraße« und »Ursprung des deutschen Trauerspiels«, die Aufsätze in der »Literarischen Welt«, sondern auch spätere. Prominentes Beispiel sind die Thesen »Über den Begriff der Geschichte«, auf die Lange mit dem Satz hinweist, Benjamin habe Paul Klees »Angelus novus« sogar eine eigene Abhandlung gewidmet (mit dem Titel »Kriegszug« meint Lange Klees Tuschezeichnung »Die Vorführung des Wunders« von 1916, die Benjamin 1920 von Dora zum Geburtstag geschenkt bekommen hatte). Offenbar war Langes Begegnung mit Benjamin so intensiv gewesen, daß er sich noch nach Jahren an diesen Büchermenschen genau erinnern konnte, an seine Denk- und Schreibweise, seine Art, Gedichte zu sprechen, seine Erfahrungen in Moskau. Manchem ist nachzugehen – etwa der Erwähnung von Alfred Seidel und Karl Hildebrand Silomon, deren Namen im Umkreis Benjamins unbekannt sind, oder dem Hinweis auf die frühe Lektüre der Marx-Schrift »Zur Judenfrage«; sie ist wahrscheinlich, weil 1923 ein Auszug in der »Roten Fahne« für Diskussionen gesorgt hatte (in den Passagenaufzeichnungen zitiert Benjamin die Schrift nach der ersten Marx-Engels-Gesamtausgabe von 1927). Aus dem Abstand von fast vier Jahrzehnten betonte Lange jedoch das Trennende und Fremde. Näher an den Geist Benjamins heranzutreten verbot das ideologische Rüstzeug, das Lange sich auf seinem Weg durch die kommunistischen Institutionen erworben hatte. Er beschreibt Benjamin als einen am Rande der Gesellschaft stehenden Einzelgänger, als einen, der, wie es in einer hier nicht abgedruckten Passage heißt, zu den Kindern gehörte, bei denen der Aufenthalt in einem Landerziehungsheim ein »Trauma der Hochempfindlichkeit« hervorgerufen habe. Seine alte Bewunderung für den Freund gestand Lange nur unter Zögern ein, weil Benjamin in den fünfziger und frühen sechziger Jahren im Umkreis der DDR-Volksbildung kein unverdächtiger Gewährsmann war. So kommt es zu einer ambivalenten Haltung: Lange, der von Benjamin ohne Frage beeindruckt war, hält ihn jetzt auf Distanz. Man hat den Eindruck, der Memoirenschreiber müsse seiner eben erst eingestandenen Bewunderung unverzüglich Einhalt gebieten.
Dafür eignet sich am besten der Gestus des Tadels: Benjamin merkte nicht, »worauf es hinauslief«, er verstand kaum, »was da in Wahrheit vorging«, Menschen wie dieser würden »vor unserer Zeit nicht ganz bestehen«, sie könnten, »was wir wollen, gar nicht begreifen«. Das ist schon etwas heftiger als die in Nachworten zu sogenannten bürgerlichen Texten üblichen Beschwörungsformeln, mit denen Lange Benjamin ebenfalls bedachte: »Er blieb immer ein bürgerlicher Intellektueller, der sich kaum der klassenmäßigen Beschränktheit seines Denkens bewußt war, vielleicht auch, weil er mit dem, was er gelernt und sich erarbeitet hatte, einfach nicht weiter kommen konnte.« Zu Zurechtweisungen dieser Art paßt eine Rüge von Heinrich Mann, der 1934 Benjamins Essay »Der Autor als Produzent« als Ausdruck der »Patzigkeit der kommunistischen Literaten« empfand. Das mag gegenüber Benjamin ungerechtfertigt gewesen sein, für Lange hätte es gestimmt.
Bezeichnend ist ein Fauxpas am Ende des Textes. Lange führt den Bruch der Freundschaft mit Benjamin auf eine Zeit zurück, »in der es sich zu entscheiden galt«. Vielleicht meinte er damit gar nicht die Frage, ob man 1933 in Deutschland bleiben oder ins Exil gehen sollte, auch wenn der anschließende Satz genau das nahelegt: »Und das folgte dann auch bald, Benjamin ging nach Paris.« Beklemmend wird es da, wo Lange dem von den Nazis in den Freitod getriebenen jüdischen Intellektuellen nachsagt, Menschen wie Benjamin würden »höchstens ›zu Besuch‹ einmal bei uns einkehren und niemals ganz seßhaft werden können: einfach, weil ihnen die Möglichkeit, seßhaft zu werden, längst abhanden gekommen ist«. Das war in einem makabren Sinne wahr, Benjamins Besuch würde fortan ausbleiben. Und es mildert die Sache nur wenig, daß Lange derlei wohl eher gedankenlos notierte und dabei zugleich großmütig einräumte, solche Menschen würden »uns niemals feindlich gegenüberstehen«.
Erdmut Wizisla
SINN UND FORM 2/2013, S. 175-179
Vitzthum, Wolfgang Graf
»Schon eure zahl ist frevel«. Stefan George und die Demokratie, S. 189
Mosebach, Martin
Stefan Georges Religion, S. 199
Schlaffer, Heinz
Das Panorama der Irrtümer. Zu Flauberts »Versuchung des heiligen Antonius«, S. 212
Nádas, Péter
»Wir versuchen, mit dem Chaos zu leben«. Gespräch mit Jörg Magenau, S. 219
Koepsell, Kornelia
Bei den Schalmeken. Gedichte, S. 233
Maugham, William Somerset
Betrachtungen über ein gewisses Buch. Kants »Kritik der Urteilskraft«, S. 237
I. Pünktlich um fünf vor fünf wurde Professor Kant von seinem Diener Lampe geweckt, und um fünf setzte er sich, angetan mit Pantoffeln, (...)
Maugham, William Somerset
BETRACHTUNGEN ÜBER EIN GEWISSES BUCH
Kants »Kritik der Urteilskraft»
I.
Pünktlich um fünf vor fünf wurde Professor Kant von seinem Diener Lampe geweckt, und um fünf setzte er sich, angetan mit Pantoffeln, Morgenrock und Nachtmütze, über welcher er seinen Dreispitz trug, in sein Studierzimmer zum Frühstück. Dies bestand aus einer Tasse dünnen Tees und einer Tabakspfeife. Die folgenden zwei Stunden beschäftigte er sich mit der Vorlesung, die er an diesem Morgen halten würde. Dann kleidete er sich an. Der Hörsaal befand sich im Erdgeschoß seines Hauses. Er las von sieben bis neun, und seine Vorlesungen waren so beliebt, daß jemand, der einen guten Platz ergattern wollte, schon um halb sieben dort sein mußte. Kant, der hinter einem kleinen Pult saß, sprach im Plauderton, mit leiser Stimme und beinahe ohne unterstreichende Gesten, doch lockerte er seinen Vortrag durch Humor und zahlreiche Erläuterungen auf. Seine Absicht lag darin, die Studenten das Selbstdenken zu lehren, und er schätzte es gar nicht, wenn sie voller Eifer mit ihren Federkielen jedes seiner Worte zu Papier brachten. »Meine Herren, kratzen Sie nicht so herum«, sagte er einmal, »ich bin kein Prophet.«
Er hatte die Angewohnheit, den Blick auf einen Studenten in seiner Nähe zu heften und aus dessen Miene zu schließen, ob dieser das Gesagte verstanden hatte oder nicht. Aber schon eine Kleinigkeit vermochte ihn zu verwirren. Einmal verlor er den Faden seiner Rede, weil am Rock eines seiner Studenten ein Knopf fehlte, und ein anderes Mal, als ein müder junger Mann fortwährend gähnte, hielt er inne und sagte: »Wenn man schon nicht umhinkann zu gähnen, so würden es die guten Sitten zumindest erfordern, die Hand vor den Mund zu halten.«
Um neun Uhr kehrte Kant in sein Zimmer zurück, zog wiederum Morgenrock, Nachtmütze, Dreispitz und Pantoffeln an und arbeitete bis exakt Viertel vor eins. Dann rief er nach unten zu seiner Köchin, teilte ihr die Zeit mit und ging wieder in sein Studierzimmer, um die Gäste zu empfangen, die er zum Mittagstisch erwartete. Er konnte es nicht ertragen, allein zu essen. Und es ist überliefert, daß er, als er einmal niemanden hatte, der ihm Gesellschaft hätte leisten können, seinem Diener auftrug, auf die Straße zu gehen und den Erstbesten mitzubringen, den er finden konnte. Von seiner Köchin wie von seinen Gästen erwartete er, daß sie pünktlich waren. Er hatte die Angewohnheit, diese stets an dem Tag einzuladen, an dem er sie empfangen wollte, damit sie nicht in Versuchung gerieten, eine früher getroffene Verabredung abzusagen, um mit ihm speisen zu können. Und obwohl ein gewisser Professor Kraus eine Zeitlang jeden Tag außer sonntags mit ihm zu Mittag speiste, versäumte er es niemals, ihm jeden Morgen eine Einladung zu schicken.
Sobald die Gäste versammelt waren, wies Kant seinen Diener an, das Essen aufzutragen, während er selbst losging, um die Silberlöffel zu holen, die er zusammen mit seinem Geld in einem Schreibpult im Empfangsraum verschlossen hielt. Die Gesellschaft nahm im Speisezimmer Platz, und mit den Worten: »Nun, meine Herren!« legte Kant los. Die Mahlzeit war reichhaltig. Sie war die einzige, die er am Tag zu sich nahm, und bestand aus Suppe, getrockneten Hülsenfrüchten, Fisch und Braten und zum Abschluß Käse und Früchten der Saison. Vor jedem Gast stand je eine Halbliterflasche roten und weißen Weins, so daß jeder trinken konnte, was er wollte.
Kant liebte das Gespräch, zog es allerdings vor, allein zu sprechen, und zeigte sich rasch ungehalten, wenn er unterbrochen wurde. Seine Konversation war jedoch so anregend, daß niemand es ihm übelnahm, wenn er es an sich riß. In einem seiner Bücher schrieb er: »Wenn ein unerfahrener junger Mann eine Gesellschaft betritt (insbesondere, wenn Damen anwesend sind), die in ihrem Glanz seine Erwartungen übertrifft, gerät er leicht in Verlegenheit, sobald er zu sprechen beginnt. Nun wäre es unschicklich, wenn er mit einem Thema beginnen würde, über das die Zeitungen berichten, weil niemand einsehen wird, was ihn darüber zu sprechen bewog. Da er aber gerade von der Straße kam, ist das schlechte Wetter die beste Einleitung zu einem Gespräch.«
Obwohl an seiner eigenen Tafel niemals Damen anwesend waren, machte Kant es sich zur Regel, mit diesem bequemen Gegenstand zu beginnen. Dann wandte er sich den Tagesnachrichten aus dem In- und Ausland zu, danach ging er über zu Reiseerzählungen und den Eigenarten fremder Völker, wie Literatur und Nahrungsmittel. Zum Schluß erzählte er humorvolle Geschichten, von denen er einen reichhaltigen Bestand besaß und die er ungewöhnlich gut zu erzählen wußte, damit, wie er sagte, »die Mahlzeit mit Gelächter enden möge«, was die Verdauung fördern sollte. Er hielt sich gern lange beim Essen auf, so daß die Gäste sich erst spät vom Tisch erhoben. Nachdem sie gegangen waren, legte er sich nicht etwa nieder, da er anderenfalls sofort eingeschlafen wäre. Dies erlaubte er sich nicht, weil er der Ansicht war, man solle sich nur wenig Schlaf gönnen, um Zeit zu sparen und so das Leben zu verlängern. Er brach zu seinem Nachmittagsspaziergang auf.
Er war ein kleiner Mann, kaum ein Meter fünfzig groß, mit einer schmalen Brust und einer schiefen Schulter. Er hatte eine Hakennase, aber feine Augenbrauen und eine frische Gesichtsfarbe. Seine Augen waren klein, aber blau, lebhaft und durchdringend. Seine Kleidung war erlesen. Er trug eine kleine blonde Perücke, eine schwarze Krawatte und ein Hemd mit Rüschen an Hals und Ärmeln, Rock, Hose und Weste aus feinstem Tuch, graue Seidensocken und Schuhe mit Silberschnallen. Unter dem Arm trug er seinen Dreispitz und in der Hand einen Stock mit Goldknauf. Er ging jeden Tag, ob bei Regen oder Sonnenschein, genau eine Stunde spazieren. Wenn jedoch das Wetter scheußlich war, lief sein Diener mit einem großen Regenschirm hinter ihm her. Nur bei einer Gelegenheit verzichtete er auf seinen Gang: Als er Rousseaus »Émile« bekam, blieb er, unfähig, sich davon zu lösen, volle drei Tage lang im Haus. Kant ging sehr langsam, weil er annahm, daß Schwitzen für ihn schädlich sei, und immer allein, weil er sich angewöhnt hatte, durch die Nase zu atmen – in dem Glauben, dadurch eine Erkältung vermeiden zu können. Hätte er einen Begleiter gehabt, dann hätte die Höflichkeit ihn zum Sprechen genötigt und er wäre gezwungen gewesen, durch den Mund zu atmen. Er nahm stets den gleichen Weg die Lindenallee entlang, die er – laut Heine – achtmal auf- und ablief. Er brach immer genau zur gleichen Stunde von zu Hause auf, so daß die Einwohner der Stadt ihre Uhren danach stellen konnten. Wenn er nach Hause zurückkam, ging er wieder in sein Studierzimmer und las und schrieb Briefe bis zum Einbruch der Dämmerung. Dann hatte er die Angewohnheit, seinen Blick auf den Turm der benachbarten Kirche zu heften und dabei über die Probleme nachzudenken, die ihn just zu dieser Zeit beschäftigten. Damit verknüpft sich eine Geschichte: Eines Abends geschah es, daß er den Turm nicht mehr sehen konnte, weil zwei Pappeln so hoch gewachsen waren, daß sie diesen verdeckten. Das erzürnte ihn über die Maßen, doch glücklicherweise erklärten die Besitzer der Pappeln sich bereit, deren Spitzen abschneiden zu lassen, so daß er weiter in aller Bequemlichkeit nachdenken konnte. Um Viertel vor zehn unterbrach er sein zähes Arbeiten und um zehn lag er warm eingepackt in seinem Bett.
Eines Tages jedoch, irgendwann zwischen Mitte und Ende Juli des Jahres 1789, als Kant zu seinem Nachmittagsspaziergang aus dem Haus trat, wandte er sich nicht zur Lindenallee, sondern in eine andere Richtung. Die Einwohner von Königsberg waren verblüfft und riefen sich zu, daß irgend etwas von welterschütternder Bedeutung geschehen sein mußte. Sie hatten recht: Er hatte soeben die Nachricht erhalten, daß am 14. Juli der Pariser Mob die Bastille erstürmt und die Gefangenen befreit hatte. Das war der Beginn der Französischen Revolution.
Kant stammte aus sehr bescheidenenVerhältnissen. SeinVater, ein Gurtmacher, war ein Mann von erhabenem Charakter und seine Mutter eine tiefreligiöse Frau. Er sagte über sie: »Sie gaben mir eine Ausbildung, die aus moralischer Sicht nicht besser hätte sein können und wegen der ich, immer wenn ich an sie zurückdenke, die dankbarsten Gefühle hege.« Er hätte noch weiter gehen und sagen können, daß der strenge Pietismus seiner Mutter keinen geringen Einfluß auf das philosophische System hatte, das er später entwickelte. Mit acht ging er zur Schule und mit sechzehn trat er in die Universität zu Königsberg ein. Da war seine Mutter bereits tot. Sein Vater war zu arm, um ihn mit mehr als Kost und Logis auszustatten. Die sechs Jahre, die er an der Universität verbrachte, überstand er mit Hilfe seines Onkels, eines Schuhmachers, indem er Schüler nahm und – erstaunlich genug – indem er einiges Geld durch seine Begabung für Billard und Kartenspiel erwarb. Als sein Vater starb, war Kant zweiundzwanzig, und sein Zuhause löste sich auf. Von den elf Kindern, die Frau Kant ihrem Mann geboren hatte, blieben fünf am Leben: der eigentliche Gegenstand dieses Berichts, ein viel jüngerer Bruder und drei Mädchen. Die Mädchen wurden Hausangestellte, und zwei von ihnen heirateten später jemanden aus ihrem Stand. Um den Jungen kümmerte sich sein Onkel, der Schuhmacher. Und Kant, der mit seiner Bewerbung um eine Assistentenstelle an der örtlichen Schule gescheitert war, trat eine Reihe von Anstellungen als Hauslehrer bei den Familien des Landadels an. Indem er in einer vornehmeren Gesellschaft verkehrte als in derjenigen, in die er hineingeboren und in der er aufgewachsen war, erwarb er sich die guten Umgangsformen, für die man ihn später bewunderte. Auf diese Weise verbrachte er neun Jahre. Als er dann seinen akademischen Abschluß erworben hatte, begann seine Karriere als Dozent in Königsberg. Er lebte zur Miete in Herbergen und nahm seine Mahlzeiten in Gasthäusern ein, die er nach der Wahrscheinlichkeit auswählte, dort angenehme Gesellschaft anzutreffen. Aber er war heikel. In einer seiner Herbergen wurde er in seinen Meditationen durch das Krähen eines Hahns gestört, und obwohl er versuchte, ihn zu kaufen, wollte der Besitzer diesen nicht hergeben, weshalb er woanders hinziehen mußte. Ein Gasthaus verließ er, weil ein anderer Gast ihn durch seine Reden langweilte, und ein weiteres, weil man dort von ihm erwartete, daß er über seine Lehren disputieren solle, wozu er nun wirklich keine Lust hatte. Erst nach vielen Jahren war er wohlhabend genug, um sich ein eigenes Haus und einen Diener, der sich um ihn kümmerte, leisten zu können. Das Haus war sparsam möbliert, und das einzige Bild darin war ein Porträt von Rousseau, das ihm ein Freund geschenkt hatte. Die Wände waren weiß getüncht, wurden im Laufe der Jahre jedoch so von Rauch und Ruß geschwärzt, daß man seinen Namen hineinschreiben konnte. Als jedoch ein Besucher einmal versuchte, dergleichen zu tun, wies ihn Kant sanft zurecht. »Mein Freund, warum störst du den alten Ruß?« fragte er. »Ist nicht ein solcher Wandbehang, der von selbst entsteht, besser als einer, den man sich erwerben muß?«
Obgleich er achtzig Jahre alt wurde, entfernte er sich nie weiter als hundert Kilometer von seiner Geburtsstadt. Er litt unter häufigen Unpäßlichkeiten und war selten frei von Schmerzen, aber durch seine Willenskraft war er imstande, die Aufmerksamkeit von seinen Empfindungen abzulenken, als ob sie ihn gar nichts angingen. Gewöhnlich meinte er, daß man wissen sollte, wie man sich seinem Körper anpaßt. Er hatte ein heiteres Naturell, war allen gegenüber liebenswürdig und bescheiden, aber pedantisch. Er erwartete, daß man ihm die gleiche Achtung zollte, wie er es anderen gegenüber tat. Wenn also bestimmte Leute begierig waren, ihn aufgrund seiner Berühmtheit zu treffen, und ein gemeinsamer Bekannter das zu arrangieren versuchte, indem er ihn zu sich nach Hause einlud, weigerte er sich zu kommen, wenn diese ihm nicht zuvor einen Höflichkeitsbesuch abstatteten – wie berühmt sie selber auch immer sein mochten.
[...]
Aus dem Englischen von Simone Stölzel
SINN UND FORM 2/2013, S. 237-259
Ferentschik, Klaus
Miniaturen aus Kalininberg & Königsgrad, S. 260
Jansen, Elmar
»Seelenverwandtschaft, eine bleibende«. Ein etwas anderer Blick auf das Barlach-Theater und die Suhrkamp-Kultur, S. 267
»Immer noch leichter Nebel – eigentlich gar nicht unsympathisch, … es kann mehr dahinter stecken als man denkt, kann anders kommen als (...)
Jansen, Elmar
»SEELENVERWANDTSCHAFT, EINE BLEIBENDE»
Ein etwas anderer Blick auf das Barlach-Theater und die Suhrkamp-Kultur
»Immer noch leichter Nebel – eigentlich gar nicht unsympathisch, … es kann mehr dahinter stecken als man denkt, kann anders kommen als ausgemacht ist …« So beginnt Barlachs »Blauer Boll« – als schwebendes Verfahren. Bei der Berliner Erstaufführung 1930 unter Jürgen Fehling am Gendarmenmarkt betrat mit diesen Worten Heinrich George die Szene. 1981 erarbeitete Frank-Patrick Steckel mit Wolf Redl die Rolle für die Schaubühne. Vorfassungen des Dramas, die ich im gleichen Jahr bekannt gemacht hatte, konnten einbezogen werden.
Den Boll hatte Barlach zunächst Baal genannt; Umrisse der gleichnamigen, gleichfalls »religiöser Delikte« überführten Brecht-Gestalt rückten in die Nähe und wurden doch auf Distanz gehalten. Steckel und sein Dramaturg Wolfgang Wiens legten ein 180seitiges Meditationsbuch zum Läuterungsprozeß des Lebemannes vor. 1985 hatte der Boll dann mit Kurt Böwe Premiere am Deutschen Theater. Auch hier wieder der niederdeutsche Marktplatz mit hochaufragendem Turm, von dem Boll in seiner Qual sich herabstürzen will, bis ihm – »Gewalt, himmelwärts ist am Werk« – im letzten Akt bessere Aussichten zuteil werden.
Kurt Pinthus hatte 1930 Fehlings Inszenierung Qualitätsmerkmale eines Reißers zugesprochen. Auch der überhaupt erste Barlach in der Schumannstraße erwies sich als zugkräftig; ihm war ein bisher bei solch schwierigen Stücken nicht gekannter, lang anhaltender Erfolg beschieden. Gastspiele in Köln, Kiel, Duisburg, Wuppertal schlossen sich an. 1988 folgten am gleichen Ort und mit nahezu gleichem Personal »Die echten Sedemunds« (Regie wiederum Rolf Winkelgrund), noch im selben Jahr herübergebeten zum Thalia-Theater Hamburg. Eine regelrechte Barlach-Welle begleitete die Aufbruchstimmung vor und nach den Wendejahren: Günter Krämer inszenierte den »Armen Vetter« in Bremen und Köln, Michael Gruner in Hamburg und Stuttgart; Wolf Redl wagte sich in Bochum an die Regie des »Toten Tags« und der junge Thomas Bischoff polarisierte am Mecklenburgischen Landestheater Parchim die Gemüter mit der selten aufgeführten, in den Jahren des heraufziehenden Nationalsozialismus entstandenen »Guten Zeit«. Hans Lietzau – schon in den 1950er Jahren am Berliner Schillertheater einer der produktivsten Barlach-Regisseure – inszenierte 1991 an den Münchner Kammerspielen einen so herausragenden »Boll«, daß er zum 29. Berliner Theatertreffen eingeladen wurde. Das Goethe-Institut London sah sich veranlaßt, alle diese deutsch-deutschen Erstaunlichkeiten in einer Barlach-Tagung aufzuarbeiten (Elmar Jansen: Verflucht deutsch, FAZ, 8. Januar 1992). J.M. Ritchie stellte seine Übersetzung des »Squire Blue Boll« zur Diskussion, gedruckt in den von ihm mitherausgegebenen »Seven Expressionist Plays. Kokoschka to Barlach«.
Zwanzig Jahre später ein anderes Barlach-Theater. Schrille Pfiffe, Krakeel, gelegentlich untermalt von milderen Einlassungen. Das Bühneninteresse am »Boll« scheint dagegen auf dem Tiefpunkt. Doch halt: Rumort es da nicht an einem stillen Ort? Es hört sich an wie die herunterrasselnde Kette eines Rettungsankers. Peter Handke, unterwegs zu immer neuen Erfahrungen in der Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt, erzählt einen eigentlich »Unerzählbaren Alptraum« (Die Zeit 52/2012). Gegen Ende dieser neuerlichen Publikumsbeschimpfung kommt ihm ein erlösender Gedanke: den »Boll« in Sprachen zu übertragen, in denen er bisher nicht vorliegt.
Etwa in den Jahren, als sein »Kaspar« – auch der von Wolf Redl verkörpert – in Frankfurt herauskam, hat Handke den »Boll« gesehen. Wann, wo und mit wem, das weiß er nicht mehr genau. Aber da er den Namen des Regisseurs nennt, läßt es sich präzise rekonstruieren: Es war der nach Fehling entscheidende Triumph des Stücks unter Hans Bauer mit Hans Dieter Zeidler, erstmals am 7. April 1967, Landestheater Darmstadt. Ein »tiefsinniges Mysterium« begegnete Peter Handke dort; sehr »zum Unglück« sei das Werk heute »vergessen«. Handke empfand damals »Seelenverwandtschaft, eine bleibende«; »nie mehr« habe er seitdem »so stille, träumerische und, gerade im Abstand voneinander so aufeinander bezogene, nein eingestimmte Menschen« gesehen. Der hohe Ton scheint anzudeuten, daß es ihm ernst ist. Auch die Kritik (Georg Hensel, Günther Rühle) fällte seinerzeit über Barlach, Bauer und Zeidler enthusiastische Urteile.
Handke will an »Erzadern« rühren, er will den Boll in eine französische Fassung transponieren, vielleicht auch in eine slawische Sprache (Le Boll Bleu; Modri Boll). Je größer die Wut, mit der er zu Werke geht und seinen Boll in eine andere Welt hinüberhorchen läßt, desto mehr käme das dem Furor des Stückes zugute. Suhrkamp sollte sich das Angebot nicht entgehen lassen.
Bereits der Verlagsgründer – er wußte noch nichts von der vielberedeten »suhrkamp culture« – hatte sich dereinst die ehrwürdigsten Verdienste um Barlach erworben. Aus den zur Verramschung bestimmten Buchbeständen des zwangsweise aufgelösten jüdischen Verlags Paul Cassirer rettete Peter Suhrkamp 1936 elf Barlach-Titel, darunter den »Blauen Boll«.
Auf Barlachs Gedächtsnismale sind schon vor 1933 Anschläge von rechts verübt worden. Die ihm nach Hindenburgs Tod von Freunden dringend angeratene Mitunterzeichnung einer Stellungnahme zur Zusammenlegung des Reichskanzler- und des Reichspräsidentenamtes sollte ihm eine Atempause verschaffen, aber die Diffamierungen nahmen unvermindert ihren Fortgang. Barlach verfluchte nachträglich dieses einzige Zugeständnis gegenüber dem Regime; ein sarkastisch gezeichnetes »Bild des derzeitigen Staatsoberhauptes im Rahmen des vor kurzem allverehrten Vorgängers« verleibte er seinem Romanmanuskript »Der gestohlene Mond« ein.
Noch vor der Aktion gegen die »entartete Kunst« – nach neuesten Forschungen konfiszierte man über 600 seiner in Museen befindlichen Werke – wurde ein von Barlachs Jugendfreund Reinhard Piper liebevoll konzipierter Band mit Zeichnungen beschlagnahmt. Da man Barlach aber, von der Herkunft her, keine Spur mißliebigen Blutes in den Adern nachweisen konnte, war sein literarisches Werk zwar unerwünscht (Aufführungen wurden abgesetzt), aber nicht von vornherein zu verbieten.
Auf diesem schmalen Grat hat sich Peter Suhrkamp furchtlos bewegt; er veröffentlichte über den Tatbestand der Übernahme Barlachs in den Verlag 1936 eine Annonce und hielt die elf Buchausgaben in seiner Backlist vorrätig. Wiederholt hat er Barlach gebeten, ihm auch neue Werke zu übergeben, hat ihn, zusammen mit Gottfried Bermann-Fischer, in Güstrow persönlich aufgesucht. In der von ihm redigierten »Neuen Rundschau« druckte Suhrkamp 1934 ein Prosastück »Der Güstrower Dom«, versehen mit der Widmung »Für Ernst Barlach« – ein scheinbar winziger Versuch, für den Verfolgten, dem man in Güstrow die Fensterscheiben einschlug, etwas zu tun. Verfasser des kleinen Denkbildes war Barlachs Freund und späterer Nachlaßverwalter Friedrich Schult. Schult publizierte solche auf Herkunft, Landschaft und Alltagsleben bezogene Prosa ohne Blut-und-Boden-Töne sowohl in der Frankfurter Zeitung als auch in Anton Kippenbergs »Inselschiff «. Suhrkamp muß diese Arbeiten fast so geschätzt haben wie die Miniaturen Walter Benjamins, den er ab 1950 verlegte.
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SINN UND FORM 2/2013, S. 267-271
Klein, Georg
Niedersachse auf Zeit. Dankrede zur Verleihung des Niedersächsischen Staatspreises 2012, S. 272
Kadivar, Pedro
Landschaften des Exils, S. 274