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Heft 2/2008 enthält:
Voegelin, Eric
Hermann Broch und Eric Voegelin. Briefwechsel 1939-1949, S. 149
Hollweck, Thomas A.
Im Schatten der Apokalypse. Zum Briefwechsel zwischen Hermann Broch und Eric Voegelin, S. 175
Hiller von Gaertringen, Julia Freifrau
Ein Schatzhaus des Geistes. Erhard Kästner als Direktor der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel 1950-1968, S. 190
Apollinaire, Guillaume
Die Quais und die Bibliotheken, S. 212
Ich gehe möglichst selten in große Bibliotheken. Lieber spaziere ich über die Quais, diese herrliche öffentliche Bibliothek. Aber manchmal (...)
Apollinaire, Guillaume
Die Quais und die Bibliotheken
Ich gehe möglichst selten in große Bibliotheken. Lieber spaziere ich über die Quais, diese herrliche öffentliche Bibliothek. Aber manchmal besuche ich die Nationalbibliothek oder die Mazarine, und im Musée social in der Rue Las-Cases traf ich einen seltsamen Leser, einen Bibliotheksliebhaber. »Vom Herumlaufen in fremden Städten wurde ich oft furchtbar müde«, sagte er, »und um mich zu auszuruhen, um mich zu Hause zu fühlen, ging ich eine Bibliothek.«
"Daher kennen Sie wohl so viele.«
"Sie bilden den größten Teil meiner Reiseerinnerungen. Ich will nicht von den Pariser Bibliotheken reden, wo ich viel Zeit verbracht habe: nicht von der herrlichen Nationalbibliothek mit ihren noch unbekannten Schätzen und den mit den Initialen E.F. (für Empire français) versehenen Tintenfässern; nicht von der Mazarine, in der ich zauberhafte Gelehrte kennenlernte: Léon Cahun, den Verfasser erstrangiger Romane, die viel zu wenig gelesen werden, André Walckenaer und Albert Delacour - erstere sind schon tot, letzterer hat mit dem Schreiben wohl auch die Bibliotheksbesuche aufgegeben; und ich will nicht von der abgelegenen Bibliothèque de l'Arsenal reden, die eine der wertvollsten Gedichtsammlungen der Welt besitzt, und auch nicht von der bei Skandinaviern so beliebten Bibliothèque Sainte-Geneviève.
Wegen ihrer Helligkeit ist die Bibliothek von Lyon wohl eine der angenehmsten. Sie hat mehr Tageslicht als alle Pariser Bibliotheken. In der kleinen Bibliothek von Nizza habe ich Nostradamus‹ »Geschichte der Provence« verschlungen und mich ins Sarazenenlager Fraxinet begeben, derweil draußen der Karneval im Gange war mit Musik und Konfettiregen.
Die Bibliothek von Quimper hat eine Muschelsammlung. Als ich einmal dort war, kam ein gutgekleideter Mann herein und schaute sie sich an. ›Haben Sie diesen Kinderkram bemalt?‹ fragte er den Konservator mit lauter Stimme. ›Nein, mein Herr‹, antwortete der ruhig, ›die Natur selbst hat diese Muscheln mit den feinsten Farben geschmückt.‹ - ›Wir werden uns nie verstehen‹, erwiderte der elegante Besucher, ›ich räume das Feld.‹ Und ging.
Eine Oxforder Bibliothek (ich weiß nicht mehr welche) hat alle ihre Werke über Sexualität verbrannt, darunter »Die Physik der Liebe« von Remy de Gourmont und »Kraft und Stoff« von Ludwig Büchner.
In Berlin sah ich kürzlich in der Bibliothek allerhand Pedanten, doch ich machte mich mit einem Leser bekannt, dessen Gesicht mir sympathisch war. Er erläuterte mir die literarischen Vorlieben der jungen Deutschen, und ich übergebe ihm das Wort: ›Die beliebtesten französischen Autoren‹, sagte er, ›sind André Gide, Verhaeren, Maeterlinck und Paul Claudel. Was die deutsche Literatur betrifft, brauche ich über Dehmel oder Mombert nichts zu sagen, da sie in Frankreich sehr bekannt sind. Von den älteren Schriftstellern schätzen wir einige, die man in Paris kaum kennt. Der kranke Peter Altenberg lebt seit zwei Jahren in einem Sanatorium bei Wien. Peter Hille, ein Bohemien, hat zu Lebzeiten kein einziges Buch herausgebracht. Seit seinem Tod tauchen immer wieder Manuskripte auf, die er mit anderen Habseligkeiten bei seinen Wirtinnen zurücklassen mußte; es sind schon vier Bücher veröffentlicht. Paul Scheerbart, inzwischen fünfzig, schreibt kosmische, planetarische Novellen. Karl Kraus ist ein exzellenter Prosaist, der vielbeachtete Essays geschrieben hat. Seine Hauptwerke sind »Die chinesische Mauer« und »Sprüche und Widersprüche«. Vor kurzem hat er eine Schrift gegen Heine verfaßt. Ich gehöre zur Gruppe des »Sturm«, den Herwarth Walden leitet, ein temperamentvoller, kämpferischer Mann, der sich mutig für junge Künstler einsetzt. Zu diesen zählt Albert Ehrenstein, dessen Begabung zu großen Hoffnungen berechtigt. Er versteht nichts von Musik und ist ein erbitterter Gegner des Berliner Tageblatts. Peter Baum ist ein hochempfindsamer lyrischer Erzähler. Auch er hält sich was darauf zugute, von Musik keine Ahnung zu haben. Der Dichter Paul Zech war früher Bergmann in Holland und Westfalen. Alfred Döblin ist Nervenarzt und schreibt Erzählungen. Er war einer der glühendsten Anhänger des Futurismus. All diese Autoren wohnen in Berlin und versammeln sich im Café Josty um Herwarth Walden. Es gibt noch andere, wie Franz Kafka in Prag und Thaddäus Kittner aus Wien.‹ Aber lassen wir Berlin und die Literatur und kommen wir wieder zu den Büchereien.
In der Jenaer Universitätsbibliothek wurden Heines Werke auf Beschluß des Senats aus dem Lesesaal entfernt und sind nur noch im Magazin mit Sondererlaubnis einzusehen.
In Kassel hoffte ich immer dem Geist des Marquis de Luchet zu begegnen, der die Bibliothek Ende des 18. Jahrhunderts leitete und im Handumdrehen durcheinanderbrachte, indem er Wicquefort zu den Kirchenvätern stellte und Barbarismen wie »exeuropeana« auf die Zierleisten schrieb, was nicht nur die Latinisten in Kassel, sondern auch die in Göttingen und Gotha empörte. Letztere machten einen solchen Skandal, daß Luchet abtreten mußte.
Die Bibliothek von Neuchâtel in der Schweiz liegt am schönsten von allen, die ich kenne. Sämtliche Fenster gehen auf den See. Ein bezaubernder Ort! Der Lesesaal ist herrlich. Er ist mit den Porträts berühmter Bürger der Stadt geschmückt. Obendrein kann man in Ruhe lesen, denn man trifft kaum jemanden. Der Leiter - traditionell ein Theologe - schläft auf seinem Pult. Es gibt eine reiche Sammlung französischer Bücher des 17. und 18. Jahrhunderts. Wer Titel haben will, die schwer zu finden sind, darf sie selber suchen. Die Bibliothek rühmt sich ihrer Rousseau-Handschriften, die in einem großen gelben Umschlag Aufbewahrt werden. Nur sie bekommt man ohne weiteres, so stolz ist man darauf.
In der Bibliothek von Sankt Petersburg erhielt man den Mercure de France nicht im Lesesaal. Die Privilegierten lasen ihn im Dienstzimmer. Ich habe dort wundervolle kyrillische Schriften auf Birkenrinde gesehen. Die Bibliothek hatte von neun Uhr morgens bis zehn Uhr abends geöffnet. Viele arme Studenten kamen hierher, um sich aufzuwärmen. Der Lesesaal war geradezu ein Hort revolutionärer Gesinnung. Andauernd störten Razzien die Studierstimmung und alle mußten ihren Ausweis zeigen. Zwölfjährige Mädchen lasen dort Schopenhauer. Später kamen unter dem Eindruck von Arzybaschews »Sanin« auch elegante Damen, um die neuesten französischen Symbolisten zu lesen.
Die Lektüre des »Sanin« zeitigte groteske Folgen. Gymnasiasten und Gymnasiastinnen zwischen vierzehn und siebzehn gründeten Sanin-Clubs. Jeder brachte einen Kerzenstummel mit. Es wurde gesungen und getrunken, und wenn die letzte Kerze ausging, begann die Orgie. Kurz vorm Krieg gab es in dieser Altersgruppe eine bedauerliche Selbstmordepidemie.
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Aus dem Französischen von Gernot Krämer
SINN UND FORM 2/2008, S. 212-214
Glaßer, Marianne
Gedichte, S. 218
Czechowski, Heinz
Gedichte, S. 221
Schwartz, Gheorghe
Partisan und Verräter, S. 225
Adamesteanu, Gabriela
Mioritische Passivität und Inauguralkomplex, S. 233
Strittmatter, Erwin
Gespräch mit Gunnar Müller-Waldeck, S. 242
Müller-Waldeck, Gunnar
Wolfgang Borcherts »Draussen vor der Tür« im Westen und im Osten, S. 252
Dseng Yän-Dung
Vier Geschichten aus der Bohnenlaube, S. 261
Tjiän Yung
Die fünf Arten des Glücks, S. 271
Schwarz, Rainer
Der Traum der Roten Kammer, S. 275
Schuster, Gerhard
Harry Graf Kessler - eine »blosse Person«?, S. 278
Es war der freundliche Wunsch der Canitzgesellschaft Berlin, zum Auftakt ihres Seminars über Harry Graf Kessler jemanden zu hören, der sich früh (...)
Schuster, Gerhard
Harry Graf Kessler - eine »blosse Person»? Zur Geschichte seines Nachlasses
Es war der freundliche Wunsch der Canitzgesellschaft Berlin, zum Auftakt ihres Seminars über Harry Graf Kessler jemanden zu hören, der sich früh und lange mit diesem Thema beschäftigt hat, um so etwas Authentisches über die Wiederentdeckung dieses Autors in den letzten drei Jahrzehnten zu erfahren. Was ich Ihnen bieten kann, sind Details über eigene Unternehmungen und Erlebnisse, die mit der Erforschung der Figur und des Werkes zu tun haben. Sie führen aber vielleicht auch auf Grundtatsachen jeder biographischen Recherche.
Kessler gehört nicht zu denjenigen Figuren der Zeitgeschichte, die nach 1945 vollkommen verschwunden waren und erst mühevoll ins öffentliche Bewußtsein zurückgeholt hätten werden müssen. Freilich, die sogenannte Wissenschaft, zumal an deutschen Universitäten, hat sich kaum um ihn gekümmert. Aber es gab eine aktive Erinnerung auf Grund von Publikationen, die ihn als Schriftsteller im besten Sinne greifbar machten - seine „Notizen über Mexico« (1898), die Memoiren „Gesichter und Zeiten« (1935) und vor allem das Rathenau-Buch (1928). Besucher des „Rosenkavaliers« stießen auf die seltsame Widmung im Textbuch, wonach Hofmannsthals Komödie für Musik der „Mitarbeit« Kesslers „so viel verdankt«. Und nicht zuletzt gab es die Produktion der Weimarer Cranachpresse aus zwanzig Arbeitsjahren: Homers „Odyssee«, Vergils „Eclogen«, Shakespeares „Hamlet« und viele kostbare kleine Drucke. Wer die Spezies internationaler Sammler kennt, der weiß, daß sie das intensivste Gedächtnis haben. Je rarer ein Gegenstand, desto genauer beachten sie ihn, geben sorgsam weiter und lassen nichts untergehen. Schon gar nicht in Magazinen oder Depots.
Dennoch blieb der Umriß Kesslers seltsam verschwommen. Das lag auch daran, daß ein quasi berufsloser Mensch - nicht nur Schriftsteller und nie so recht Diplomat, nicht bloßer Dandy, aber auch politisch von unklarer Linie - sich in die Erinnerungsmuster der Nachkriegszeit kaum fügen wollte. In der Konsolidierungsphase der Bundesrepublik waren solche Profile als „Helden nach rückwärts« nicht zu gebrauchen. Denn während Thomas Manns Tagebücher nach innen weisen, den Schlüssel für das entstehende Romanwerk und die Selbstpeinigung ihres Verfassers liefern, verbergen Kesslers Tagebücher einen personalen Hohlraum. Man erfährt vieles, vielleicht zu vieles, und das in einem kaleidoskopischen Durcheinander. Aber wer schreibt da eigentlich?
Erstmals hat ihn Albert Vigoleis Thelen in seinem Romanbericht „Die Insel des zweiten Gesichts« (1953) lebensvoll porträtiert. Die Epochenkenner und die Bibliophilen, die Hofmannsthal-Spezialisten und die Rathenau-Forscher haben dann nicht mehr abgelassen von dieser Gestalt. Es ist der Initiative des Verlegers Rudolf Hirsch (1905-1994) zu danken - seinerzeit Leiter des Insel-Verlags, mit dessen Geschichte Kessler seit seiner Großherzog-Wilhelm-Ernst-Ausgabe deutscher Klassiker (1905) verbunden ist -, daß man nach dem Verbleib des Nachlasses fragte. Das führte zu langwierigen Verhandlungen mit der Familie, speziell mit Kesslers 1877 geborener Schwester Wilhelma („Wilma«) und ihrem Sohn Jacques, der in Paris als bankrottierender Besitzer der Éditions de Cluny lebte, einem (vom Onkel mitfinanzierten) Vorläufer der Éditions de la Pléiade bei Gallimard. Achtzigjährig ist Jacques de Michel-Duroc Marquis de Brion am 15. März 1988 verstorben, und wie ihn habe ich mir immer Fontanes Herrn von Stechlin vorgestellt, falls er in den Reichstag gewählt worden wäre: ein bei Begegnungen, in Briefen und Telefonaten bis in seine letzten Lebenstage höchst erinnerungslustiger und zugleich ganz gegenwartshungriger Mensch.
Fritz Arnold (1916-1999), später Lektor bei Hanser und ein inspirierter Vermittler zwischen deutscher und französischer Literatur (sein Vater war der Karikaturist Karl Arnold, der Schöpfer des „Steuermännleins«), hat gern erzählt, wie er Ende der fünfziger Jahre mit Wilma und Jacques de Brion unter den Arkaden des Palais Royal wegen der Tagebücher Kesslers verhandelte - oder vielmehr darum feilschte. Ein Gebirge von Austern, zu denen nur ein bestimmter Chablis möglich war, türmte sich, wurde abgetragen und wieder aufgetürmt. Der Eiweißschock Arnolds, der als gebürtiger Münchner Austern nicht besonders mochte, war ebenso groß wie die Rechnung, über deren Empfänger bei Mutter und Sohn kein Zweifel bestand. Der Verhandlungserfolg war kostspielig, aber von bleibendem Wert - auch wenn es nicht um mehr ging als um die Einwilligung von Rechteinhabern in eine künftige Publikation.
Denn was man erhielt, waren nicht etwa die Tagebücher Kesslers als publikable Manuskriptenmasse, sondern das, was die Schwester Wilma davon noch „auffinden« konnte. Bei jedem philologisch Arbeitenden ruft eine solche Auskunft Gänsehaut hervor. Wolfgang Pfeiffer-Belli (1900-1980), den Rudolf Hirsch mit der Herausgabe betraute, hat bei den nachgeborenen Kessler-Experten keinen guten Ruf. Willkürliche Textauswahl wirft man ihm vor, Eingriffe, Lesefehler und sogar Kürzungen - all das ist selbstverständlich ganz unerlaubt und ganz unzünftig. Aber was für Arbeitsbedingungen! Der Ärmste wurde im Nachgang zur spektakulären Austernmahlzeit mehrfach nach Ascona bestellt, wo er in einer Pension zu hausen hatte, und von dort ins Chalet der Baronin Dora von Bodenhausen zitiert, jeweils spätnachmittags zur Teezeit. Die Witwe von Kesslers 1918 verstorbenem Freund Eberhard von Bodenhausen war Wilma de Brions beste Freundin - bei aller postumen Diskretion, die uns auferlegt ist, muß erwähnt werden, daß sie schon Hofmannsthal auf die Nerven ging und sogar der hartschalige Rudolf Borchardt der „Faslerin« am liebsten auswich. Die Damen durchblätterten die Tagebücher im Hinblick auf ihre Publikation und wahrscheinlich auch in der steten Angst, auf Peinlichkeiten zu stoßen (dabei sind Intimitäten so lautstark überschwiegen, daß man sich wundert, warum das für Thomas Mann unmöglich gewesen sein soll). Dieses Duo infernale übermittelte dem Herausgeber einzelne Hefte, aber nicht etwa in chronologischer Reihenfolge, sondern so wie sie aus der Kommodenschublade kamen. Pfeiffer-Belli, den das Umfangslimit des Verlags ebenso bedrängte wie der Abgabetermin, exzerpierte und notierte, ohne jemals das Ganze in Ruhe zu überblicken, und hatte sich obendrein knapper Zeitvorgaben zu unterwerfen; denn schließlich störte dieser deutsche Gast. So kam es, daß in der einbändigen Edition von 1961, die später mehrere, auch verbesserte Auflagen erfuhr, ganze Kalenderjahre zwischen 1918 und 1937 mit großen Lücken oder überhaupt nicht vertreten sind; das Jahr 1924 fängt gar erst mit dem Monat November an. Trotzdem hat Pfeiffer-Bellis Ausgabe den Ruhm Harry Graf Kesslers als eines singulär aufmerksamen Zeitzeugen begründet. Das sollte uns zur Ehrenrettung dieses Herausgebers genügen.
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SINN UND FORM 2/2008, S. 278-280