Hier enthalten sind alle Autoren der seit 1949 erschienenen Hefte.
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Abbas, Khwaja Ahmad
- 4/1957 | Schiwas Schwert
Abdollahi, Ali
- 3/2022 | Der gebrochene Blick. Gedichte
Abraham, Jean-Pierre
- 1/2012 | Der Mann von der Scarweather
Abraham, Pierre
- 5/1974 | Mein Bruder Jean-Richard Bloch
Abrahams, Peter
- 2/1967 | Ein Mann kommt nach Johannesburg
Abramow, Fjodor
- 6/1976 | Oleschas Hütte
Abu an-Naga, Abu l’Ma’ati
- 5/1971 | Der Fragende und der Befragte
Abusch, Alexander
- 2/1953 | Stimmen der Mitglieder der Sektion Dichtkunst und Sprachpflege. Zum Tode J. W. Stalins
- 3-4/1953 | Zu Hanns Eislers »Johann Faustus«. Faust - Held oder Renegat in der deutschen Nationalliteratur?
- 1/1963 | Größe und Grenzen Gerhart Hauptmanns
- Sonderheft Hanns Eisler/1964 | Rede in der Trauerfeier
- Sonderheft Thomas Mann/1965 | Thomas Mann und das freie Deutschland
- Sonderheft Willi Bredel/1965 | Rede in der Trauerfeier
- Sonderheft Willi Bredel/1965 | Über die Trilogie »Verwandte und Bekannte«
- Sonderheft Probleme des Romans/1966 | Erkennen und Gestaltung
- 1/1967 | Leonhard Frank oder Würzburg als Nationalliteratur
- 5/1967 | Der Weg der Käthe Kollwitz
- 3/1968 | Brecht und die Politik auf dem Theater
- 1/1969 | Arnold Zweig zum Gedenken
- 5/1969 | Die Kulturtat von Lauchstädt
- 2/1970 | Gedanken und Erinnerungen zu Lenins revolutionärem Humanismus
- 6/1970 | Lebendig fortwirkender Hegel
- 4/1971 | Heinrich Mann an der Wende der deutschen Geschichte
- 6/1972 | Mit Heine Leben
- 6/1973 | Trauer um Hans Lorbeer
- 3/1975 | Unsere besonderen Freunde
- 5/1975 | Briefe an Anna Seghers
- 6/1977 | Hochverräter in Augsburg
- 5/1979 | Zur Vorgeschichte der Kulturpolitik der Deutschen Demokratischen Republik
- 3/1980 | Landung und Kampf unter Mexikos Sonne
- 1/1981 | Eine Feier mitten im Pazifischen Ozean
- 2/1982 | Aus den Erinnerungen
Abusjarow, Ildar
- 5/2010 | Der Berber. Kunde aus dem Osten
Achilles, Peter
- 5/2012 | Die Stimme der Güte. Zu Viktor von Weizsäckers Briefen an Lou Andreas-Salomé, S. 638 Leseprobe
Achilles, Peter
DIE STIMME DER GÜTE Zu Viktor von Weizsäckers Briefen an Lou Andreas-Salomé
I.
1931 erschien Lou Andreas-Salomés »Mein Dank an Freud. Offener Brief an Professor Sigmund Freud zu seinem 75. Geburtstag«. Diese Schrift ist mehr als ein Dank, sie enthält die Zusammenfassung ihres Verständnisses der Psychoanalyse, verfaßt in einer mehr poetischen als wissenschaftlichen Sprache. Viktor von Weizsäcker (1886–1957) vernahm in diesem Vermächtnis »die Stimme der Güte«. Auch er verehrte Freud und seine Psychoanalyse und auch er suchte ihr gegenüber nach einem eigenen Standpunkt. Als Internist und Neurologe, als Schüler von Ludolf Krehl, dem Begründer der »Heidelberger Schule der Psychosomatik«, entwickelte er die »Medizinische Anthropologie«, die mit dem Schlagwort von der »Einführung des Subjekts in die Medizin« gekennzeichnet werden kann. Mit seiner Ehefrau Olympia und den vier Kindern führte Weizsäcker in Heidelberg das Leben eines für Philosophie, Theologie und soziale Fragen aufgeschlossenen Medizinprofessors, der sich über seine wissenschaftliche Außenseiterposition im klaren war. Anfang der dreißiger Jahre befand er sich in einer entscheidenden Phase der Zusammenführung seines ärztlichen Denkens, seiner neurologischen und neurophysiologischen Arbeiten und seiner psychotherapeutisch-psychosomatischen Erfahrungen, in der der Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse eine zentrale Bedeutung zukam.
In dieser Situation wandte er sich brieflich an die 25 Jahre ältere Lou Andreas-Salomé (1861–1937), um deren Verständnis er warb und der er seine fächerübergreifenden psychosomatischen Konzepte vorlegte. Lou Andreas-Salomé hatte sich nach ihrem früher so bewegten Leben, ihren Begegnungen mit Nietzsche, Rilke und Freud, in die Einsamkeit ihres Hauses Loufried in Göttingen zurückgezogen. Ihr Mann, der Orientalist Carl Friedrich Andreas, war 1930 verstorben. Bis 1935, solange es ihre Gesundheit erlaubte, war sie psychoanalytisch tätig – Freuds Werk hatte seit 1911 eine überragende Bedeutung für sie. Viktor von Weizsäcker zählte zu den wenigen neuen Kontakten ihrer letzten Jahre. Zunehmend erkrankt, starb sie 1937 und mußte es so nicht mehr erleben, daß die Göttinger Polizei die Bibliothek des Hauses beschlagnahmte, in dem »jüdische Wissenschaft« betrieben wurde. In seiner wissenschaftlichen Autobiographie »Natur und Geist« erinnert sich Weizsäcker:
"Aber ich muß noch einer Frau gedenken, deren Bekanntschaft ich der Berührung mit der Psychoanalyse verdankte: es war Lou Andreas-Salomé. Um Weihnachten 1931 fiel mir ihr zu Freuds fünfundsiebzigstem Geburtstag geschriebenes Buch ´Mein Dank an Freud´ in die Hände. Der Eindruck war ein solcher, daß ich der Unbekannten einen Brief schrieb, der mir dann eine Korrespondenz, einen Besuch bei ihr und eine Ermutigung eintrug, die in eben jener Zeit der Angst (…) mich wahrhaft gestützt hat. Lou Andreas-Salomé war damals siebzig Jahre alt, übte in Göttingen in aller Stille eine psychoanalytische Praxis aus und lebte das geheimnisvolle Leben einer Sibylle unserer Geisteswelt. (…) Ihre Briefe waren von einem Spürsinn ohnegleichen eingegeben, und sie wußte wohl vom ersten Augenblick an, mit wem sie es zu tun hatte, und wo meine Nöte ihre Wurzel hatten. Sie konnte mir vielleicht nicht helfen, aber sie verstand den Geist zu lieben und war erfahren in den Welten der Einsamkeit. Ihre auch in jener Schrift an Freud bekundete Freiheit gegenüber dem psychoanalytischen Schulbetrieb, ihre höchst persönliche Umformung der Doktrin kraft eigener Originalität hatten auf mich eine entlastende Wirkung. Man sah hier, daß man das, was wahr ist an einer Lehre, auch in andere Sprachen übersetzen kann. Das Weibliche und die Wärme ihrer Natur empfing ich mit Dank, und es ist vielleicht kein Fehler, obwohl sicher ein Verlust, daß der anfangs so rege Austausch sich später verlor – sie hatte an mir eine Mission erfüllt, und ich hatte ihr dafür wohl nichts bieten können, was sie in ihrem hohen Alter noch gebraucht hätte. (…) Meine Verehrung für Freud und meine Bewunderung seines Werkes bedurften einer Bestätigung niemals. Aber die Wirkung der Psychoanalyse hat etwas von einer sich unerbittlich zuschnürenden Schlinge; man kann sich nicht mit ihr einlassen, ohne auch gleichsam Hilfe zu rufen oder wenigstens unablässig mit ihr zu ringen. Der seltene Fall, daß jemand diese Wissenschaft tief genug begriffen und doch eine eigene Persönlichkeit geblieben war, ist mir weder vor- noch nachher so hilfreich begegnet wie bei Lou Andreas-Salomé. Ihre Briefe und ihr Gedächtnis bewahre ich als eine der Kostbarkeiten meiner Erinnerung.« (GS 1, S. 148 f.)
Mit »jener Zeit der Angst« meint Weizsäcker die paradigmatische Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse, die von seiner Kritik an der naturwissenschaftlichen Medizin nicht zu trennen ist. Leider sind die Briefe Lou Andreas-Salomés nicht erhalten. Sie blieben wohl wie vieles andere in Breslau zurück, das Weizsäcker im Januar 1945 auf militärischen Befehl verlassen mußte ("Reisebeschreibung 1945« in Sinn und Form 6 /2007). Weizsäcker zitiert nach dem Gedächtnis einen einzigen Satz, der aber richtungweisend für ihn war. »Lou Andreas-Salomé schrieb mir in einem ihrer jetzt verlorenen Briefe mit Bezug auf die Psychoanalyse, sie habe bei allen bewunderungswürdigen Erfolgen dieser Psychologie immer das Gefühl gehabt, das größere Geheimnis noch sei doch der Leib.« (GS 1, S. 242)
Im Lou Andreas-Salomé Archiv in Göttingen liegen sechs Briefe Weizsäckers und eine Postkarte, die zwischen Dezember 1931 und November 1932 geschrieben wurden, außerdem ein Sonderdruck der Arbeit »Biologischer Akt, Symptom und Krankheit« (1931) und das Typoskript seiner Besprechung von »Mein Dank an Freud«. Mit diesem etwas mageren Befund mag es zusammenhängen, daß die Briefe bisher vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit fanden. Sie wurden gelegentlich erwähnt, aber nicht in ihrer Bedeutung für Weizsäcker und die Medizinische Anthropologie gewürdigt. Versucht man dies, so zeigt sich, daß sie Teil einer weiterwirkenden epistemologischen Krise der ersten Jahrhunderthälfte sind; die Einführung des Subjekts in die Medizin ist von der Kritik an der scheinbaren Objektivität allen menschlichen Wissens und der Vorherrschaft eines linear-kausalen Denkens nicht zu trennen.
II.
Lou Andreas-Salomé war keine Ärztin, also auch keine Psychosomatikerin im heutigen Sinne, aber Weizsäcker erkannte bei der Lektüre von »Mein Dank an Freud«, daß sie sich auf vergleichbaren Wegen befanden. Diese Richtung ihres Denkens, die man als psychophysischen Komplementarismus bezeichnen kann, hatte sich lange vor ihrer Begegnung mit der Psychoanalyse angebahnt. Wie sie in ihren Aufzeichnungen »In der Schule bei Freud. Tagebuch eines Jahres 1912/13« berichtet (1958, S. 68 f.), ließ sie sich besonders von der Philosophie Spinozas leiten, die sie schon in jungen Jahren kennenlernte. In ihrer Würdigung Spinozas, den sie als »Philosoph der Psychoanalyse« bezeichnet, finden sich Formulierungen, die wie eine Vorahnung der Medizinischen Anthropologie Weizsäckers wirken: »Denn eben dies: die leiblichen und geistigen Äußerungen als Repräsentanzen voneinander aufzufassen, das muß nur bis zu Ende gedacht sein, um Spinoza bereits zu haben. (…) es ist die wache innere Anschauung von der Ganzheit und Gegenwart zweier Welten für uns, die einander nirgends ausschließen, nirgends bedingen, weil sie eine sind.« Mit der Vorstellung von der Verwurzelung der beiden »Welten« in einem Urgrund sowie von einer »Allwechselwirkung« an Stelle von Kausalketten beginnt sie die Psychoanalyse umzuformen.
Ihr wichtigster Schritt hin zu einer Psychosomatisierung der Psychoanalyse war der Aufsatz »Narzißmus als Doppelrichtung« (1921). Sie war von der Narzißmusthematik besessen und nannte sie später ihren »Spezialfimmel« (Eintragungen. Letzte Jahre. 1982, S. 123), denn sie berührte einen zentralen Konflikt ihres eigenen, an schwierigen Beziehungen reichen Lebens, nämlich »wie Einheit und Differenzierung zu vermitteln seien« (Linde Salber, Lou Andreas-Salomé, 1990, S.116). Freud hatte in seiner Arbeit »Zur Einführung des Narzißmus« (1914. GWX) einen kindlichen primären von einem sekundären pathologischen Narzißmus unterschieden und ihm ein besonderes Beharrungsvermögen durch alle Lebensphasen zugeschrieben. Auch für Lou Andreas-Salomé hat der Narzißmus etwas Beharrliches, aber er wird bei ihr zu einer anthropologischen Grundgegebenheit, zum Inbegriff der Verwurzelung im Urgrund, und ermögliche so überhaupt erst das Zustandekommen von Beziehungen. Mit seiner »Doppelrichtung« bilde er nicht nur die Grundlage allen erotischen Begehrens und aller Sehnsucht nach anderen Menschen, sondern auch von Ethik, Religion, Künstlertum.
Der Leib ist für sie der Ort, an dem sich dieses spannungsvolle Konzept exemplarisch bewährt. Denn der Leib ist sowohl ein Stück Außenwelt als auch wir selbst, er vermittelt Erfahrungen der Fremdheit und des Einsseins, ist zugleich Gegenstand der Objektlibido und der narzißtischen Libido. Krankheit entsteht demnach durch Abspaltung des Leibes oder im Rückzug auf kindliche Lebensstufen, in denen es den anderen letztlich nicht gibt. Die »Heimkehr zu sich«, die Genesung beschreibt Lou Andreas-Salomé in »Mein Dank an Freud« als »eine Liebesaktion« (S. 17), als eine Erneuerung der Beziehungen zum anderen und zu sich selbst, als eine Wiederaneignung des Leibes.
Freud konnte kaum übersehen, daß mit diesem Dank seinem Versuch, die Psychoanalyse als Naturwissenschaft zu verstehen, gründlich widersprochen wurde. Seine geradezu überschwengliche briefliche Antwort enthielt dennoch höchstes Lob (wenn auch mit ironischem Unterton) und ein psychosomatisches Bild für die Wirksamkeit, die er Lou Andreas-Salomés Entwürfen zutraute: »Es ist das Schönste, was ich von Ihnen gelesen habe, ein unfreiwilliger Beweis Ihrer Überlegenheit über uns alle, entsprechend den Höhen, von denen herab Sie zu uns gekommen sind. Es ist eine echte Synthese (…) der man zutrauen könnte, daß sie die Sammlung von Nerven, Muskeln, Sehnen und Gefäßen, in die das analytische Messer den Leib verwandelt hat, wieder zum lebenden Organismus rückverwandeln kann.«[...]
SINN UND FORM 5/2012, S. 638-648
Achmatowa, Anna
- 4/1989 | Requiem
Achwlediani, Erlom
- 6/1970 | Geschichte eines feigen Mannes
Ackermann, Uta
- 4/1988 | Kommen und Gehn
Adameşteanu, Gabriela
Adamov, Arthur
- 3/1961 | Frühling 1871. Vier Bilder und zwei Guignols aus dem dritten Akt
- 5-6/1961 | Arthur Adamov, Roger Planchon, René Allio: Wie stehen wir zu Brecht?
- 1-2/1965 | Gespräch mit Wilhelm Girnus
- 1/1968 | Heiliges Europa
Adge, Günter
- 3/1978 | Gespräch mit Andrzej Wajda
Adloff, Gerd
- 4/1973 | Zu Ulrich Plenzdorfs »Neuen Leiden des jungen W.«
Adnan, Etel
- 3/2020 | Im Spiegel der See. Eine Erinnerung an Marguerite Yourcenar
Adolph, Monica
- 5/2000 | Gedichte
Adorno, Theodor W.
- 5/2020 | »Er hat in keiner Weise an den Erfolg geglaubt«. Gespräch mit Anne Andresen über Alban Berg (1955
- 5/2021 | »Sie sollten sich über diesen Ungeist wirklich einmal orientieren«. Briefwechsel mit Hans Magnus Enzensberger 1955 – 66. Mit einer Vorbemerkung von Jan Bürger, S. 670 Leseprobe
Adorno, Theodor W.
»Sie sollten sich über diesen Ungeist wirklich einmal orientieren«. Briefwechsel mit Hans Magnus Enzensberger 1955 – 66
Vorbemerkung
Mitte der sechziger Jahre prägten Hans Magnus Enzensberger und Theodor W. Adorno den noch vergleichsweise kleinen Suhrkamp Verlag wie eine Doppelspitze. Beide waren auf unterschiedliche Weise Identifikationsfiguren, beide rückten mit ihrem Sensorium für politische, soziale, kulturelle und künstlerische Probleme die Wirtschaftswunder- Gesellschaft gewissermaßen zurecht: Der 1903 in Frankfurt geborene und 1934 ins Exil gegangene Adorno stellte durch seinen intellektuellen Anspruch, die Ausnahmerolle des Remigranten und nicht zuletzt durch seine Präsenz im Massenmedium Radio besonders für Studierende die Verbindung zur deutschsprachigen Wissenschaft und Kultur vor 1933 wieder her, die wesentlich von Intellektuellen mit jüdischem Familienhintergrund geprägt wurden. Zudem galt er als überragender Rhetor, der es wie wenige verstand, hochkomplexe Gedanken frei vor seinem Publikum zu entwickeln.
Wurde durch Adorno die Erinnerung an die europäische Bedeutung der deutschsprachigen Philosophie, Musik und Literatur vor dem Zivilisationsbruch aktiviert, so schien Enzensberger einen Weg in die Zukunft für all diejenigen zu weisen, die zu spät auf die Welt gekommen waren, um sich im Nationalsozialismus schuldig zu machen. Dadurch, daß er erst Ende 1929 geboren wurde, war Enzensberger sogar zu jung gewesen, um als Menschenmaterial verheizt zu werden. Als man ihm 1945 eine Waffe in die Hand drückte, war der Krieg schon so gut wie vorbei. Der hochbegabte Jugendliche ergriff sofort die Gelegenheit, sich auf die veränderten Bedingungen einzustellen. Anders als den meisten seiner Kameraden ging es ihm dabei nicht nur ums nackte Überleben und um eine bescheidene Teilhabe am relativen Wohlstand der amerikanischen Besatzer. Enzensberger war auch bildungshungrig: Er wollte von den GIs lernen, er wollte raus in die Welt und wurde, ehe er sich’s versah, zum Dolmetscher und Leser von Weltliteratur. Denn die GIs brachten nicht nur Exotika wie Dosenfleisch der Marke Spam oder Nescafé, sondern auch eine Form von Verpflegung, die jene Soldaten, die mit dem jungen Sprachkünstler rasch fraternisierten, selbst für vollkommen nutzlos hielten: eine Kiste voller amerikanischer Bücher. Für den Schüler Hans Magnus allerdings wurde diese zum ersten Handapparat, zum ersten Museum der modernen Poesie.
Unter anderem enthielt die Kiste eine der berühmten Lyrik-Anthologien von Louis Untermeyer:
»Anscheinend war in Washington irgendjemand zu der Überzeugung gelangt, daß die Truppe unbedingt William Carlos Williams, T. S. Eliot, Marianne Moore und Wallace Stevens lesen wollte …« (»Wie ich fünfzig Jahre lang versuchte, Amerika zu entdekken «, in: »Scharmützel und Scholien«, 2009) Noch erstaunlicher war, daß Enzensberger in ihr auch bislang verbotene deutsche Meisterwerke entdecken konnte. So habe er zum ersten Mal den »Zauberberg« und den »Process« gelesen, und zwar in englischer Übersetzung.
Der kalifornische Zirkel um die Familie Mann, zu dem auch Adorno gehörte, war ihm damit schon nähergerückt, als er es jemals hätte ahnen können. In der Rückschau erscheint vieles zielgerichtet und sinnvoll, was im Augenblick des Erlebens nur zufällig gewesen ist, eine Möglichkeit unter vielen. Durch sein früh ausgeprägtes Gespür für maßgebliche Stimmen der internationalen Moderne wurde Enzensberger später als Lyriker, Essayist und Herausgeber wegweisend für das Programm des Suhrkamp Verlags und für mindestens zwei Generationen literarisch Interessierter. Hinzu kam das seltene Talent, gesellschaftliche Debatten zu provozieren und zu forcieren, mit dem er seine anfangs ebenfalls bei Suhrkamp veröffentlichte Zeitschrift »Kursbuch« zwischen 1965 und 1970 zum wohl wichtigsten Organ der Studentenbewegung machte. Enzensbergers Ausnahmebegabung hatte sich bereits zu Beginn seiner Laufbahn gezeigt, besonders bei seinen Radioarbeiten.
Daher wirkt es fast selbstverständlich, daß er in den fünfziger Jahren auf Adorno und Horkheimer stieß, und dies noch bevor er selbst Suhrkamp-Autor wurde. Die »Dialektik der Aufklärung« besorgte er sich in der seinerzeit schwer erhältlichen Ausgabe von 1947, und die Lektüre des grundlegenden Werkes der Kritischen Theorie wurde zum Anlaß jenes Briefes, den er Adorno am 24. August 1956 aus einem nagelneuen Hochhaus im Stuttgarter Süden schrieb. Er markiert den Beginn des eigentlichen Austauschs zwischen beiden. Daß das Denken Adornos und Horkheimers einen fünfundzwanzigjährigen Intellektuellen in der Adenauerzeit herausforderte und inspirierte, ist nicht erstaunlich. Überraschend hingegen, daß der renommierte und durchaus statusbewußte Adorno dem talentierten, aber noch weitgehend unbekannten Enzensberger antwortete, als wäre er ein einflußreicher Kollege. Wie kam es dazu?
Abgesehen davon, daß Adorno der Ton, den der junge Autor anschlug, imponiert zu haben scheint, wird es daran gelegen haben, daß er Enzensberger in den Monaten zuvor bereits persönlich kennengelernt hatte. In dieser Zeit machte Alfred Andersch den Süddeutschen Rundfunk in Stuttgart zu einer wichtigen Adresse für ambitionierte Schriftsteller und Wissenschaftler, die mit ihren Arbeiten über die Fachkreise hinaus wirken wollten. Adorno gehörte mit seinen Radiovorträgen zu Anderschs bevorzugten Mitarbeitern, und Enzensberger war seit 1955 sein Assistent.
Enzensberger hielt es nicht lange auf dem Posten eines festangestellten Rundfunkredakteurs aus. Dennoch verdankt er der Stuttgarter Zeit und seinem ersten Mentor viel: Andersch zeigte ihm, wie man als Redakteur und Schriftsteller professionell arbeiten konnte, und machte ihn, was oft vergessen wird, mit einer Reihe wichtiger deutschsprachiger und internationaler Autoren bekannt. Ihre Texte sendete Andersch nicht nur im Rundfunk, er veröffentlichte sie auch in der von ihm zwischen 1955 und 1957 herausgegebenen Zeitschrift »Texte und Zeichen«, die in manchem dem späteren »Kursbuch« ähnelte.
In einem unveröffentlichten autobiographischen Gespräch erinnerte sich Enzensberger 1974 an seine Anfänge beim Rundfunk und daran, daß es immer ein besonderes Ereignis gewesen sei, wenn Adorno aus Frankfurt zu Aufnahmen nach Stuttgart kam. Der Philosoph sei dabei stets von ausgesuchter Höflichkeit gewesen: »Er trat vor das Mikrophon im Studio, er war leutselig, er hat einen freundlich begrüßt, auch den jungen Redakteur (…). Wenn der dann wirklich etwas Inhaltliches dazu gesagt hat, zu dem Vorhaben, hat er sehr geneigt zugehört (…), manchmal sogar ist er auf den Gedanken eingegangen, der geäußert wurde. Und das war schon ungewöhnlich genug. Und das hat ihn vom Mandarin unterschieden.« (Autobiographisches Interview, geführt von Gaston Salvatore, Abschriften, dritte Mappe, S. 9, DLA Marbach, A: Enzensberger, Hans Magnus) Adorno habe immer frei gesprochen, frei und druckreif, was dem jungen Enzensberger zutiefst imponierte. Im Rhetorischen wurde er für ihn zum unerreichbaren Vorbild. Erst in späteren Jahren seien Enzensberger auch Adornos persönliche Schwächen und Defizite aufgefallen, die Verletzungen, die sein Leben geprägt hatten, und vor allem sein unerfülltes Künstlertum.
Anfang 1960, nach Peter Suhrkamps Tod, wurde Enzensberger auf Siegfried Unselds Wunsch Lektor im Suhrkamp Verlag. Zufälle oder persönliche Beziehungen sorgten dafür, daß er in der Frankfurter Westendstraße in unmittelbarer Nähe der Adornos eine Wohnung fand und von seinem Balkon aus in den Kettenhofweg blicken konnte. In Frankfurt sei er »sein Nachbar« gewesen, erinnerte sich Enzensberger später: »Das heißt, an der anderen Seite des Blocks war die Wohnung von Adorno, eine einigermaßen großbürgerliche Wohnung im Westend in Frankfurt. Und da ergab sich, er nahm auch Notiz davon, das war ja dieser junge Mann da, aus dem Radio, und der ist jetzt hier im Verlag, und der hat auch dieses und jenes veröffentlicht. (…) Und dann wurde man da auch eingeladen. Da gab es diese Abende bei Adorno. Und ich ging auch in die Universität gelegentlich, um ihn zu hören. Und immer war da diese imponierende rhetorische Fähigkeit von ihm, die war einfach unwiderstehlich. Hinreißend. Und er hat nicht memoriert gehabt, es war produziert beim Sprechen.« (Ebd.)
Die Frankfurter Anstellung bei Unseld blieb für Enzensberger kaum mehr als ein Zwischenspiel, genau wie jene beim Süddeutschen Rundfunk. Von 1962 an zog er es vor, mit seiner norwegischen Frau Dagrun und ihrer Tochter Tanaquil auf der abgelegenen Insel Tjøme zu leben. Diesen Rückzug aus Westdeutschland verstand er durchaus auch als Antwort auf den Provinzialismus des Literaturbetriebs, in dem er zugleich immer erfolgreicher agierte. Spätestens der Band »Einzelheiten« aus demselben Jahr machte Enzensberger zum maßgeblichen Essayisten seiner Generation. Eröffnet wird das Buch mit einem Versuch über die »Bewußtseins-Industrie«, den man als eine unmittelbare Reaktion auf die »Dialektik der Aufklärung« lesen kann und der von Adorno genau so verstanden wurde. Nun verwandelte sich die intellektuelle Beziehung zwischen Adorno und Enzensberger tatsächlich in einen Austausch zwischen Gleichgesinnten, die allerdings so weit voneinander entfernt wohnten, daß die Post oft mehrere Tage benötigte. So reichte es nur noch zu gelegentlichen Treffen im Umfeld des Suhrkamp Verlags und zu jenem Briefwechsel, der hier erstmals veröffentlicht wird, soweit er in Hans Magnus Enzensbergers Papieren im Deutschen Literaturarchiv Marbach, im Theodor W. Adorno Archiv, Frankfurt am Main, und im Historischen Archiv des SWR überliefert ist.
In den legendären Anfangsjahren der Zeitschrift »Kursbuch« erschien letztlich nie ein Beitrag Adornos, so sehr sich Enzensberger auch darum bemühte. Reizvoll und politisch akut wäre eine Kritik am Parteiprogramm der SPD gewesen, die sich Adorno im Herbst 1965 vornahm. Darüber, warum er diesen Essay niemals schrieb, kann nur spekuliert werden. Am Willen und an Sympathie für Enzensberger und dessen Projekte scheint es nicht gefehlt zu haben. Wahrscheinlich fühlte sich Adorno tatsächlich aus inhaltlichen Gründen gehemmt, wie Enzensberger in dem autobiographischen Gespräch vermutete. Er erinnerte sich, Adorno bei einer persönlichen Begegnung einmal nach den Gründen gefragt zu haben, im Vertrauen, unter alten Bekannten. Adorno habe auf entwaffnende Weise zugegeben, »Angst« gehabt zu haben vor dieser »Kritik des Godesberger Programms «, mit der er sich in die Tradition von Karl Marx’ Kritik des Gothaer Programms gestellt hätte: »Und so unbegründet, so irrational diese Angst gewesen sein mag, das war eine Antwort, die war sehr gut, weil sie wahr war. Das war der Grund.«
Erinnerungen dieser Art sollte man nicht unbedingt trauen, Enzensberger selbst hat dies 2014 mit seinem autobiographischen Großversuch »Tumult« exemplarisch vorgeführt. Unabhängig davon kann man ihm allerdings getrost zustimmen, daß es eher für als gegen Adorno sprach, sich einer intellektuellen und publizistischen Herausforderung auch einmal nicht gewachsen gefühlt zu haben.
Jan Bürger
SINN UND FORM 5/2021, S.581-613, hier S. 581-584
- 2/2022 | »Ich habe die Hosen voll, wenn ›ich an Deutschland denke in der Nacht‹«. Briefwechsel mit Lotte Lenya. Mit einer Vorbemerkung von Jens Rosteck, S. 670 Leseprobe
Theodor W., Adorno
»Ich habe die Hosen voll, wenn ›ich an Deutschland denke in der Nacht‹«. Briefwechsel mit Lotte Lenya. Mit einer Vorbemerkung von Jens Rosteck
Vorbemerkung
Kurt Weills plötzlicher Tod im einundfünfzigsten Lebensjahr, ausgelöst durch einen Herzinfarkt, am 3. April 1950 warf seine Ehefrau Lotte Lenya (ursprünglich Karoline Wilhelmine Charlotte Blamauer, 1898–1981) völlig aus der Bahn. Zweieinhalb stürmische Jahrzehnte hatten sie verbunden, ein bemerkenswertes Auf und Ab in Liebesdingen, eine veritable Schaffensexplosion, eine beispiellose Premierenserie in Berlin, die glorreiche wie mythenumrankte Brecht-Ära, die schwierige Emigration, der Neuanfang in den Vereinigten Staaten und gleich zwei Hochzeiten. Weills letztes amerikanisches Bühnenwerk, »Lost in the Stars«, erlebte am Broadway nicht weniger als 281 Aufführungen und stand auch in seinem Todesjahr – ohne ihre Mitwirkung – noch immer auf dem Spielplan. Nun dämmerte Lenya, die sich von einer außerehelichen Beziehung zur nächsten gehangelt hatte und sich erst allmählich an ihre neue Rolle als »Witwe Weill« gewöhnte, zwischen Apathie und Hoffnungslosigkeit vor sich hin. In ihrem Domizil Brook House in New City vor den Toren New Yorks suchte die einst so Unternehmungslustige, im Grunde eine echte Großstadtpflanze, nach den bangen, schweren Stunden im Flower Hospital eine Zukunftsperspektive.
Untätig herumzusitzen war ihre Sache nie gewesen, die Bühnenkompositionen ihres in den USA zuletzt so populären Mannes Staub ansetzen zu lassen kam ebenfalls nicht in Frage. Doch stand sie, im Showbusineß ihrer Wahlheimat de facto ein Nobody, vor einem unüberwindbaren Dilemma: »Die Amerikaner«, so urteilte sie im Januar 1959 in dem Aufsatz »Kurt Weill’s Universal Appeal«, »hatten seine Musik geliebt, aber kannten nur seine hiesigen Werke, nichts dagegen aus seinen Jugendjahren. Sie wußten nichts von der Art und Weise, wie er die bittere Realität, die Unsicherheit des Deutschlands in den Zwanzigern in seiner Musik einzufangen verstanden hatte.« In der jungen Bundesrepublik wie in der neugegründeten DDR hingegen galten lediglich Weills Werke aus der späten Weimarer Republik etwas, waren seine im Exil entstandenen Musicals und seine Beiträge für eine erst im Entstehen begriffene »American Opera« weitgehend unbekannt, fanden wenig Anklang oder wurden ignoriert, verschmäht oder gar abqualifiziert. »Also entschloß ich mich, wenn auch sehr widerwillig, dort anzufangen.«
Eine doppelte Herkulesaufgabe zeichnete sich ab – den »amerikanischen«, vorgeblich oberflächlichen und regressiven Weill in Europa und den »deutschen«, vorgeblich anspruchsvollen und progressiven Vorkriegs-Weill in der Neuen Welt bekannt zu machen, um seine innovativen Zeitopern, Operetten und Einakter auch bei den nachfolgenden Generationen durchzusetzen. Hinzu kamen die immensen Schwierigkeiten, mit denen Lenya sich als Nachlaßverwalterin konfrontiert sah. Jahraus, jahrein mußte sie sich fortan mit Urheber- und Aufführungsrechten, Partituren, Verlegern, Produzenten, Abrechnungen, Tantiemen, Details von Schallplattenproduktionen und Vertragsstreitigkeiten herumschlagen. Am wichtigsten war freilich, daß sie wieder an Statur gewann: »Zuallererst mußte ich mir selbst einen Namen machen.« Um englischen Zungen die Aussprache zu erleichtern, hatte sie schon 1937 die Schreibweise ihres – an eine Tschechow-Figur angelehnten – Künstlernachnamens (ursprünglich Lenja) abgeändert. Nun wurde aus Lotte Lenya schlicht Lenya, im Big Apple kam sie mit zwei Silben und ohne Vornamen aus. Weitere Markenzeichen waren ihre markante, zusehends dunkler und rauher werdende Stimme und, wie sie ihrem Briefpartner Adorno sogleich mitteilte, ihr neuerdings rotgefärbtes Haar.
Lenyas tiefe Verunsicherung war persönlicher wie künstlerischer Natur und reichte bis in die Kriegsjahre zurück: Im Frühjahr 1945 hatte Weills Operette »The Firebrand of Florence« nach einem Libretto von Ira Gershwin, in der sie als Duchess aufgetreten war, in Boston und New York City teils vernichtende Kritiken bekommen, und das steckte ihr noch in den Knochen. Ihr Selbstbewußtsein als Weill-Interpretin war ins Wanken geraten, sie hatte sich in der Folgezeit von der Bühne zurückgezogen. Während ihr Mann sich im Kollegenkreis durch Fleiß, Kreativität, Erfindungsgabe und eine erstaunliche Assimilierungsbereitschaft rasch Anerkennung verschaffte und auf dem besten Weg war, ein echter Amerikaner zu werden, hatte sie in der Musical- und Showszene der Neuen Welt nie richtig Fuß gefaßt. Ihr Vortragsstil und ihre Gestik, ihr eigenwilliger Sprechgesang, ihre wienerisch-berlinerische Intonation, ihr teils ruppiger, teils lasziver Ausdruck und ihre unvollkommene Beherrschung des (bei ihr stets akzentbehafteten) Englischen entsprachen nicht der Erwartungshaltung der an Entertainment und Wohlklang gewöhnten US-Theatergänger. Alles, was Lenya ausmachte, befremdete sie. Erst später, als die amerikanische Fassung der »Dreigroschenoper« zum Kassenschlager wurde und sie das Musical »Cabaret« mit aus der Taufe hob, stellte sich der Erfolg ein, und sie konnte einen Triumph nach dem anderen feiern. Dann auch wieder als Filmschauspielerin.
Maßgeblichen Anteil an dieser zweiten, internationalen Karriere, die 1961 in einer Oscar- und Golden-Globe-Nominierung sowie 1963 in der Mitwirkung in einem James-Bond-Film gipfelte, hatte ihr nächster Ehemann, der acht Jahre jüngere Romancier und ehemalige Chefredakteur illustrer Zeitschriften (wie »Harper’s Bazaar« und »Mademoiselle«) George Davis (1906 – 57). Dieser vielgereiste frankophile Europakenner hatte schon Carson McCullers und Truman Capote gefördert und sah sich, obwohl vorübergehend mittellos und beruflich desorientiert, imstande, ihrer Bestimmung als authentische Weill-Interpretin Nachdruck zu verleihen.
Lenyas Isolation und Depression endeten rasch, als sie Davis, der sie schon zu Weills Lebzeiten in verschiedene New Yorker Künstlerkreise eingeführt hatte, im Mai 1950 wiederbegegnete. Seinerzeit hatte er zur legendären und auch experimentellen Wohngemeinschaft in der Brooklyner Middagh Street, dem sogenannten February house, gehört, wo sich Berühmtheiten, Bohemiens und Avantgarde-Figuren wie Benjamin Britten und Peter Pears, Jane und Paul Bowles, Christopher Isherwood, W. H. Auden oder die Thomas-Mann-Kinder Klaus und Erika die Klinke in die Hand gaben. Nun wurde der homosexuelle Davis zu Lenyas ständigem Begleiter und zum zweiten von insgesamt vier Gatten. Das Verhältnis war keineswegs frei von Konflikten, doch mit seiner Hilfe und Begeisterungsfähigkeit vermochte sie den Kopf wieder aus dem Sand zu ziehen. Diese »neue Lenya« war ganz und gar seine Schöpfung. Beide boten alle Kräfte auf, um für Weills genuines Konzept eines zeitgenössischen Musiktheaters jenseits von U- oder E-Kategorien zu kämpfen, es am Leben zu erhalten und ihm ein neues Publikum zu erschließen.
Auf die Eheschließung im Juli 1951, ein zaghaftes Comeback im Sprechtheater und einige Hommage-Konzerte für Weill in der New Yorker Concert Hall folgte die sensationell erfolgreiche Off-Broadway-Produktion der »Threepenny Opera« in einer Fassung von Marc Blitzstein. Sie kam, ab März 1954, auf die Rekordzahl von 2 600 Vorstellungen und brachte Lenya einen Tony Award ein. Das war weit mehr als eine Ehrenrettung für den in Amerika verkannten »Berliner« Weill, und dabei ging das Tandem, was dessen Ästhetik betrifft, keine kommerziellen Kompromisse ein und verwahrte sich gegen leichtfertige Vereinfachungen oder ästhetische Zugeständnisse: Im Frühjahr 1955, fünf Jahre nach seinem Tod, setzte Lenya in Begleitung von Davis erstmals seit 1934 wieder ihren Fuß auf deutschen Boden (und zwar auf beiden Seiten der Grenze), spielte maßgebliche Soloalben ein und überwachte mit ihrer historischen Kompetenz die Produktion weiterer Brecht-Weill-Stücke. In Düsseldorf kam 1955 Weills Musical »Street Scene« als westdeutsche Erstaufführung heraus, an der Städtischen Oper Berlin 1957 seine frühe Oper »Die Bürgschaft«. Mit dem Dirigenten Wilhelm Brückner-Rüggeberg wirkte sie in maßstabsetzenden Gesamtaufnahmen von »Mahagonny« und »Die sieben Todsünden« mit, in den Vereinigten Staaten spielte sie unter Maurice Levine »American Theatre Songs« ein. Zusätzlich beaufsichtigte sie dort die Schallplattenpremiere von »Johnny Johnson«. Auf diese Weise etablierten Davis und Lenya geradezu vorbildlich eine authentische und stimmige Weill-Interpretation, die auch für die folgenden Jahrzehnte verbindlich blieb. Ein Glücksfall.
Vor diesem Hintergrund setzt zum Jahresende 1956 der Briefwechsel mit Theodor W. Adorno ein, der sich über das gesamte Jahr 1957 – den Höhepunkt ihrer Bemühungen um Weills musikalisches Erbe in Deutschland – erstreckt und dann erst wieder im Februar 1960 eine Fortsetzung findet. Die Bekanntschaft der beiden geht auf das Berlin der späten Zwanziger zurück, wie eine handschriftliche Widmung der jungen Lenja (sic!) für »Th. Wiesengrund-Adorno« vom September 1929 auf einem Druckexemplar von Marieluise Fleißers Drama »Pioniere in Ingolstadt« belegt. Sie spielte damals in Brechts umstrittener Inszenierung im Theater am Schiffbauerdamm an der Seite von Peter Lorre und Hilde Körber die Rolle der Alma. »Eine Liebe muß keine dabei sein« – das von Lenja für die Widmung ausgewählte Zitat stammt aus Fleißers Stück.
In den Briefen von 1957 – Lenya und Davis pendeln damals zwischen Deutschland und den USA hin und her – ist viel von Weills Brecht-Vertonungen die Rede, den »Sieben Todsünden«, »Happy End«, der »Dreigroschenoper« und den verschiedenen »Mahagonny«-Fassungen. Zum einen, weil sie zu Adornos bevorzugten Weill-Bühnenwerken zählten, zum anderen, weil Lenya sie just in jenem Jahr einspielte, Songs daraus vortrug oder Pläne für Neuinszenierungen schmiedete. Der Leser begegnet in diesem anregenden Austausch, durchweg in liebevoll-zärtlichem Ton gehalten, gespickt mit geistreichen Aperçus und stellenweise auch mit englischsprachigen Einsprengseln versehen, prominenten Zeitgenossen wie den Tänzerinnen und Choreographinnen Irene Mann und Tatjana Gsovsky, den Regisseuren Harry Buckwitz, Heinz Tietjen und Hans Curjel, der Schauspielerin Hannelore Schroth und einer Dame namens »Helli«, der Brecht-Witwe Helene Weigel also, über deren Gier nach Tantiemen ausgiebig gelästert wird und an deren Unnachgiebigkeit so manches von Lenya und Davis angestoßene Projekt zu scheitern droht. Brechts Tod liegt ja noch nicht lange zurück.
Lenya ist merklich daran gelegen, daß Davis bei »Teddy« bzw. »Teddie« und Gretel einen guten Eindruck hinterläßt – ein Wunsch, der in Erfüllung geht –, und äußert mehrfach ihre Besorgnis um seine Gesundheit. Mehrere Herzattacken und -infarkte in immer kürzeren Abständen sind Vorboten seines Todes am 25. November 1957 in Berlin – zwei Wochen nur, nachdem sie im Westteil der Stadt mit der prestigereichen Friedensglocke ausgezeichnet wurde und nur wenige Wochen, bevor sie die »Dreigroschenoper« einspielt. Eine weitere Aufnahme, für die sie bereits den Vertrag unterzeichnet hat, »Das Berliner Requiem«, wird in Anbetracht der Umstände fallengelassen. Davis ist bei seinem Ableben nur unwesentlich älter als seinerzeit Weill, und Lenya erlebt es als Schock und Katastrophe, zumal die gleiche Todesursache vorliegt. Sie resümiert (1962 in der Theaterzeitschrift »Playbill«): »Mein Herz war gebrochen, aber noch viel schlimmer als damals, als es Kurt zugestoßen war. In diesen sechs Jahren unserer Ehe hatte George mich laufen gelehrt, so wie man es einem kleinen Kind beibringt.« Im vorliegenden Briefwechsel mit Adorno findet Davis’ Tod keine Erwähnung, da Lenya das letzte Schreiben vor der mehrjährigen Pause zweieinhalb Wochen vorher verfaßte. Wieder einmal geht es um eine im letzten Moment nicht zustande gekommene Begegnung: »Schade, daß ich nicht ein paar Tage in Frankfurt bleiben konnte. Aber ich lasse George sehr ungern allein mit seiner Furcht vor dem Alleinsein, das typisch für herzkranke Menschen zu sein scheint. So konnte ich also nur schnell noch Gretel anrufen zwischen Zug und Flugzeug.«
Daß Adorno und Lenya auf solch warmherzige, ja fürsorgliche Weise miteinander kommunizieren und auch in künstlerischer Hinsicht völlig übereinzustimmen scheinen, nimmt, gelinde gesagt, wunder: Im Briefwechsel der Eheleute Weill / Lenya trat nämlich, insbesondere in den frühen vierziger Jahren, ein ganz anderes, negatives Adorno-Bild zutage. Dort firmierte der jetzt so Verehrte als »der Wiesengrund« und wurde mit wenig schmeichelhaften, ja beleidigenden Attributen belegt. Hintergrund war vor allem eine Intervention Adornos im März 1942 zugunsten Brechts, dem eine Neubearbeitung der »Dreigroschenoper« mit exklusiv schwarzer Besetzung in Los Angeles vorschwebte. Weill, dessen Ehrgeiz längst dem amerikanischen Musiktheater galt und dem die Angelegenheit »zum Hals heraushing«, hielt jedoch nichts von Wiederbelebungsversuchen der vermeintlich goldenen Berliner Zeit. Er fürchtete um sein Mitspracherecht und witterte ästhetische Verfälschung, erregte sich in einem auf englisch verfaßten Antwortschreiben über Adornos pauschale Abqualifizierung des Niveaus zeitgenössischer Broadwayproduktionen und sprach ihm jegliches Urteilsvermögen in der Angelegenheit ab. Tags darauf, am 8. April 1942, informierte er Lenya per Brief: »Nun, dem Wiesengrund habe ich einen Brief geschrieben, den er lange Zeit nicht vergessen wird. Ich schrieb ihm: es ist eine Schande, daß ein Mann von seiner Intelligenz so falsch informiert sein soll. Und dann erklärte ich ihm, daß das amerikanische Theater nicht so schlecht ist wie er denkt.« Lenya, die gerade in Atlanta mit Maxwell Andersons Stück »Candle in the Wind« auf Tournee war, erwiderte am 9. April: »Eigentlich zu komisch, um sich darüber aufzuregen. Ich bin so froh, daß Du ihm den richtigen Brief über das amerikanische Theater geschrieben hast. Aber bitte Darling, bestehe darauf, daß sie das außerhalb von Hollywood nicht zeigen dürfen. Gib bloß nicht nach. Zum Teufel mit denen.« Lenya warnte ihn, daß Brecht mit Adornos Schützenhilfe »die Musik in Fetzen schneiden« und das Werk »billig und lächerlich machen« würde. Weill hatte es geärgert, daß Adorno als erklärter Jazzfeind und Verfechter absoluter Musik für Brecht Partei ergriff. Von »Fachleuten «, die sogenannte Unterhaltungsmusik als »dekadent« verunglimpften, habe er keine Belehrungen nötig, wie »wichtig« und »wertvoll« seine »Dreigroschenoper« sei. Die Eheleute zogen in dieser Hinsicht also an einem Strang. Dabei hatte Adorno einlenkend noch um Nachsicht mit einem alten Weggefährten gebeten und den Beweis antreten wollen, daß er in der Zeit seines »Schweigens musiksoziologisch noch nicht ganz vertrottelt« sei. Vergebens.
Für Weill stand seit 1931 fest, daß Adorno einen Großteil seiner Musik ablehnte und ihr die Avantgarde-Tauglichkeit absprach, daher erblickte er in ihm einen ideologischen Gegner seines Schaffens. Der Eindruck verfestigte sich noch mit der Publikation von Adornos »Philosophie der neuen Musik« (1949): In der Dichotomie zwischen dem Neoklassizismus Strawinskyscher Provenienz und der zum Ideal erhobenen Zweiten Wiener Schule Schönbergs war für einen dritten Weg, wie ihn Weill beschritt, kein Raum. David Drew, der Doyen der Weill-Forschung, konstatierte 1975, Adornos Abkehr von seiner Musik habe »lange vorher stattgefunden, nämlich zu einer Zeit, als sie beide noch in Deutschland lebten«. Während er über die »Dreigroschenoper« und »Mahagonny« noch Aufsätze publizierte, schwieg er sich über Weills späteres Werk aus. Drew urteilt: »Weill war ohne Reue als Broadwaykomponist gestorben und als solcher in der amerikanischen Presse geehrt und betrauert worden«, Adorno hingegen habe die »zersetzenden und explosiven Elemente« in Weills Brecht-Phase zum Maß aller Dinge erhoben, sei davon nicht mehr abgerückt und habe ihr Fehlen als Manko empfunden, ohne den veränderten Gesetzmäßigkeiten der in den USA entstandenen Kompositionen Rechnung zu tragen.
Von Ressentiments findet sich in der Korrespondenz zwischen Lenya und Adorno keine Spur, wobei man fragen kann, inwieweit letzterer überhaupt Kenntnis von der früheren Verachtung für seine Person und Haltung hatte. Letztlich trug aber auch Lenya durch ihre meisterhafte, ja prototypische Interpretation weiblicher Figuren aus den Weill-Brecht-Werken (Prostituierte, Halbweltdame, Rächerin, burleske Verführerin) zur Verengung der Rezeption auf jene Phase bei. Im September 1955 nahm sie die Moritat von Mackie Messer, den Weill-Hit schlechthin, in einer Dixieland-Fassung mit Louis Armstrong auf; der in der USA geschätzte »September Song« oder die melancholische Ballade »Speak Low« erreichten nie dieselbe Durchschlagskraft – denn sie erfüllten ja auch kein Klischee. Es ging viel Zeit ins Land, bis Weills amerikanischen Opern, Operetten und Musicals (deren Frauengestalten Lenya eben nicht automatisch auf den Leib geschneidert waren) ein vergleichbarer Rang eingeräumt wurde und auch seine übrigen Werke seit den frühen zwanziger Jahren wieder die Spielpläne erobern konnten. Mittlerweile ist eine gewisse Balance in der Beurteilung des »Berliner«, »Pariser« und »New Yorker« Stils zu beobachten, hat sich die Auffassung einer annähernden Gleichwertigkeit der unterschiedlichen Schaffensphasen durchgesetzt.
In den verbleibenden drei Briefen vom Februar 1960 werden andere Sachverhalte erörtert. Lenya möchte eine Verbindung zum Suhrkamp Verlag herstellen und bittet ihren deutschen Freund um Hilfe, sie setzt sich für David Drew ein und denkt darüber nach, eine autobiographische Skizze zu schreiben. Zur Sprache kommt auch ihre Beteiligung an einem Konzert der Musica-viva-Reihe in München unter der Ägide von Karl Amadeus Hartmann. Freunde des frühen Weill können sich im April 1960 darüber freuen, daß bei einer mehrteiligen Produktion an den Städtischen Bühnen Frankfurt neben den »Sieben Todsünden«, in denen Lenya die Anna I verkörpert, zwei seiner Kurzopern mit auf dem Programm stehen, die Einakter »Der Protagonist« und »Der Zar läßt sich photographieren « (beide auf Libretti von Georg Kaiser).
Lediglich am Rande thematisiert wird in der Korrespondenz ein Gespräch, das die Briefpartner im selben Jahr dem Journalisten und Musil-Herausgeber Adolf Frisé für den Hessischen Rundfunk gewährten. Naturgemäß gilt beider Augenmerk wieder den berühmt-berüchtigten zwanziger Jahren und ihrem Hauptschauplatz Berlin – 1960 schon ein Mythos. Während Adorno sich über »Legenden und Ärgernisse« jener an Widersprüchen so reichen Epoche ergeht, spürt man bei praktisch jeder Verlautbarung Lenyas ihre Unbekümmertheit, ihre Nonchalance und ihre Weigerung, die Dinge zu verklären, sowie ihre Freude, zu diesem Mythos beigetragen zu haben, ohne sich dessen nur ansatzweise bewußt gewesen zu sein. Es lohnt sich (besonders nach Lektüre des Briefwechsels), dieses lebhafte, knapp einstündige Doppelinterview wieder anzuhören, und sei es nur, um sich vom unnachahmlichen Klang der Stimme Lenyas betören und von Adornos leichtfüßiger Eloquenz beeindrucken zu lassen.
Jens Rosteck
(…)
SINN UND FORM 2/2022, S. 180-194, hier S. 180-185
- 6/2022 | »Ich muss mich drum auch hüten, mir Hoffnungen auf Arbeit zu machen«. Briefwechsel mit Ingeborg Bachmann
- 6/2023 | »Ich kann auch den kleinsten Weg nicht anders als allein gehen«. Briefwechsel mit Elias Canetti. Mit einer Vorbemerkung von Sven Hanuschek, S. 670 Leseprobe
Adorno, Theodor W.
»Ich kann auch den kleinsten Weg nicht anders als allein gehen« Briefwechsel mit Elias Canetti
Ein Vulkan an Ressentiment.
Vorbemerkung zum Verhältnis von Theodor W. Adorno und Elias Canetti
Hilde Spiel hat in den Erinnerungen »Welche Welt ist meine Welt?« (1990) von einem Mittagessen in ihrem Garten erzählt: Unter einem Kastanienbaum bewirtete sie Theodor W. Adorno, Elias Canetti sowie Ernst und Lou Fischer, und in der Nacht spaltete ein Blitz den Baum – am nächsten Tag habe sie mit ihrem Mann gewitzelt, die geballte Eitelkeit der beiden Geisteshelden habe wohl noch in der Luft gelegen und die himmlische Entladung auf sich gezogen. Daß zwischen Canetti und Adorno jenseits ihrer gewaltigen Eitelkeiten einiges an Spannungen in der Luft lag, ist dem erhaltenen Briefwechsel nur indirekt zu entnehmen; man verkehrt formvollendet, ja überhöflich miteinander, versichert sich der gegenseitigen Hochschätzung, läßt den direkten Austausch aber auf sich beruhen, nachdem das mehrtägige Kennenlernen brieflich hinreichend nachbesprochen ist.
Das Ereignis, das die Korrespondenz begründet, ist Adornos Einladung, Canetti möge an der Frankfurter Universität über einen frei gewählten Komplex aus seinem philosophisch-anthropologischen Lebenswerk »Masse und Macht« (1960) sprechen, an dem er etwa ein Vierteljahrhundert im Exil gearbeitet hatte. Als er »Das Chaos der Größe« vorschlägt, wünscht Adorno sich angesichts des universitären Publikums einen Titel, der etwas mehr »down to earth« ist, und so wird »Macht und Überleben« daraus.
Canetti reist am 17. Februar 1962 an, er liest und diskutiert im Vorlesungssaal zwei Tage später vor Adorno, seinen akademischen Schülern und studentischem Publikum, wiederum zwei Tage später führen die beiden das bekannte und mehrfach abgedruckte Rundfunkgespräch über »Masse und Macht« – am 21. Februar 1962, aus der Korrespondenz ist das genaue Datum zu entnehmen (bisher wurde es meist falsch auf März 1962 datiert). Abgesehen von den beiden Terminen gibt es wenige Treffen: Gretel und Theodor W. Adorno laden Canetti zum Abendessen ein, Adorno empfiehlt seinem Gast die eigenen Schriften und schickt ihn in Frankfurter Antiquariate. Es geht vor allem um die »Dialektik der Aufklärung« (1947), zu diesem Zeitpunkt nicht im Handel, und die Frage nach möglicherweise parallelen Gedankengängen. Canetti bedankt sich im März 1962 artig bei Frau Gretel und bei Adorno, sie wechseln noch zwei geradezu freundschaftlich klingende Briefe, in denen es vor allem um die kulturkritischen »Prismen« (1955) und ihre Aufnahme in Großbritannien geht, damit bricht die Korrespondenz ab.
Sie steht in einem größeren Zusammenhang, der sich von der Canetti-Seite her umfassend darstellen läßt, auf Adornos Seite bestätigen sich die raren Erwähnungen Canettis im veröffentlichten Werk auch in seiner Korrespondenz. Er hat sich nie so recht auf den anderen eingelassen; das berühmte Radiogespräch der beiden ist auch schon als Beleg für Adornos Autismus gesehen worden, er kreist in seiner eigenen Begriffswelt, obwohl seine Rolle die des Interviewers hätte sein sollen. Dabei war sein Einstieg in Canettis Werk ein sehr persönlicher: Seine Frau Gretel Karplus war eine entfernte Cousine der österreichischen Malerin Marie-Louise von Motesiczky (1906 –1996), einer Schülerin Max Beckmanns; die schmale (unveröffentlichte) Korrespondenz zwischen Adorno und Motesiczky (»Piz«) zeigt, wie engagiert sie versucht hat, ihn mit Canetti zusammenzubringen. Adorno war wohl auch nicht ganz unempfindlich gegenüber diesen Versuchen; eine der wenigen Nennungen Canettis scheint ihr zuliebe erfolgt zu sein – in dem Programmheftbeitrag »Bilderwelt des Freischütz« (1961) verweist er auf den Wald, der in »Masse und Macht« als das »Massensymbol der Deutschen« benannt wird.
Motesiczky war jahrzehntelang Freundin, Geliebte und Mäzenin von Elias Canetti, wie er aus Wien nach London geflohen. Die Korrespondenz der beiden ist 2011 unter dem Titel »Liebhaber ohne Adresse« erschienen, herausgegeben von Ines Schlenker und Kristian Wachinger. Hier ist nachzulesen, daß Motesiczky 1961 mit den Adornos einen Sommerurlaub in Sils Maria verbracht hat, und sie hat auch vorher schon für Canettis Werk geworben. Sie schreibt ihm, Adorno stehe »gemischt« zu »Masse und Macht« und wolle seine Vorbehalte nur mit Canetti selbst diskutieren, tatsächlich hat Adorno ihr von einer Verwandtschaft zu Teilen der »Dialektik der Aufklärung« geschrieben, von »frappierenden Übereinstimmungen« gar. Ihr Eindruck ist, es handle sich dabei nicht um eigentliche Einwände, sondern um Prioritätsfragen. Er solle doch bitte Adorno keine Absage schreiben, solange sie mit ihm und seiner Frau in Sils sei (16. August 1961). Canetti hat da schon zugesagt, nach Frankfurt zu kommen, wenn auch ein Semester später als ursprünglich gewünscht, und er antwortet seiner Geliebten etwas stachelig, sie schaffe einen »Vulkan an Ressentiment« in ihm – falls Adorno in Einzelheiten auf anderen Wegen zu ähnlichen Ergebnissen gekommen sei, bestätige das doch nur seine Ergebnisse und auch seine Selbständigkeit, schließlich kenne er Adornos soziologische Schriften nicht und sei überhaupt der Soziologie ausgewichen (18. August 1961).
Canetti fliegt also bereits mit gemischten Gefühlen nach Frankfurt; in seinem Nachlaß gibt es in einer Adorno-Aufzeichnung die Bemerkung, er sei seit Jahren keinem geistigen Menschen begegnet, mit dem er wirklich habe sprechen können, er bewunderte einzelne Formulierungen in den »Prismen«, sah die umfassende Bildung Adornos und die Leichtigkeit, mit der er sich in Systemen bewegte – all dies trotz des eingepflanzten Ressentiments. Aber seine Einschätzung muß schnell gekippt sein, gleich während des Frankfurter Aufenthalts; er war mit den Veranstaltungen nicht einverstanden, ärgerte sich über Fragen des akademischen Publikums, das er gut abgerichtet fand. Adornos Gesprächsführung im Funk schien ihm perfid, weil sein Gesprächspartner wieder mit der »Dialektik der Aufklärung« ankam, von der er wußte, daß Canetti sie nicht kannte, wohl auch nicht kennen konnte – vor 1969 gab es nur die Exil-Ausgabe im Amsterdamer Querido Verlag (1947), in einer niedrigen Auflage. Obendrein spricht Adorno vom »Skandalon« der »Subjektivität des Ansatzes« von »Masse und Macht« – ein Buch, das sich mit seinem anthropologischen Zugriff in der Tat trotz des wissenschaftlichen Gebirges, auf dem es steht, durch einen antiwissenschaftlichen Gestus, ein Denken in Bildern und seinen Essayismus auszeichnet. Mindestens der letztere dürfte aber Adorno nicht fremd gewesen sein.
Es ist also schon nachvollziehbar, daß Canettis Einschätzung seines Gegenübers rasch ins Negative kippt. In einer Aufzeichnung, die auf 1962 datiert ist und die Canetti nach Adornos Tod in »Die Provinz des Menschen« (1973) veröffentlicht hat, heißt es:
»Er spielt auf zu vielen Instrumenten zugleich. Aber Denken ist nicht Komponieren. Im Denken wird etwas rücksichtslos auf die Spitze getrieben. Der Prozeß der Erkenntnis besteht vorerst darin, daß alles über Bord geworfen wird, um rascher und leichter an das eine geahnte Ziel zu gelangen. A. kann nichts über Bord werfen. Er schleppt sich immer ganz mit. Er gelangt nirgends hin. Alles, was er weiß, ist ihm immer gegenwärtig. Er pocht an alle Türen und tritt nirgends ein. Da er gepocht hat, glaubt er, er ist dort gewesen.«
Nun war das Rundfunkgespräch für die Rezeption von »Masse und Macht« durchaus von einiger Bedeutung; im Jahr der deutschen Erstausgabe war zu Canettis tiefer Enttäuschung sein erklärtes Hauptwerk versunken, fast ohne öffentliches Echo. Sein Buch kam über den Umweg des Erfolgs der englischen Übersetzung zu seiner großen Wirkung im deutschen Sprachraum, und ein weiterer Treppenstein dorthin war das Adorno-Gespräch – die erste deutsche Verlegerin, Hilde Claassen, hat das offensichtlich erkannt. Und es gab eine weitere Einmischung Adornos, die für Canetti wichtig war: Sein Stück »Hochzeit« (1932) erlebte am 3. November 1965 in Braunschweig seine Uraufführung, die einen Skandal zur Folge hatte. Autor und Theater wurden wegen Erregung geschlechtlichen Ärgernisses, vulgo Obszönität, denunziert, die Staatsanwaltschaft ermittelte und stellte noch im Dezember 1965 das Verfahren ein, es wurde keine Anklage erhoben. Das Theater hatte eine Reihe von Prominenten um Stellungnahmen gebeten, die auch in großer Zahl kamen, darunter von Fritz Bauer und Hermann Kesten, Erwin Piscator, Hilde Spiel, Peter Weiss, die grundsätzlichste Einlassung kam von Theodor W. Adorno. Er wies sich als genauer Kenner des Werkes von Canetti aus, »und zwar des sehr bedeutenden wissenschaftlichen (›Masse und Macht‹) ebenso wie des dichterischen (das Hauptwerk ist ›Die Blendung‹)«. Die Vorwürfe des anonymen Denunzianten – seiner Argumentation nach ein autoritärer Charakter – seien lächerlich, das Stück verdiene als Verbindung zwischen Expressionismus und absurdem Theater größtes Interesse und sei in seiner moralischen Absicht ganz unzweideutig: »Wer an diesem Stück Ärgernis genommen hat, der muß schon gekommen sein, um Ärgernis zu nehmen.«
Adorno hatte schnell reagiert, er mußte sich für seine Stellungnahme offenbar nichts neu anlesen, weil er große Teile von Canettis bislang erschienenem Werk kannte – mindestens so gut, daß es für eine solche Stellungnahme ausreichte. Daß er im letzten hier abgedruckten Brief zur Anrede »Lieber Herr Canetti« übergeht und sich wünscht, daß »der Kontakt zwischen uns nicht abreißen soll«, war also vermutlich doch ganz ernst gemeint, entsprechende Äußerungen gibt es auch in Adornos Briefen an Marie-Louise von Motesiczky (wo er von unvergeßlichen Tagen schreibt und der Hoffnung, ihn bald wiederzusehen). Canetti erwidert diese Anrede nicht, und auch die Stellungnahme zu »Hochzeit«, so wichtig sie für ihn in der Situation selbst gewesen war, änderte seine kritische Haltung nicht; er blieb auf Distanz. Durch die Verbindung über Motesiczky haben sich die beiden noch ein paarmal gesehen, etwa 1965 in Paris (vor der Uraufführung); in seinen Aufzeichnungen mokiert Canetti sich über die Weltfremdheit des Philosophen, der hinter jeder Frau, mit der er gern spreche, eine literarische Figur sehe: »Es ist klar, daß er von keinem wirklichen Menschen eine Ahnung hat«, seine einzige Leidenschaft sei sein Ehrgeiz. »Ein Denker, der von nichts Konkretem ausgehen kann, ist für mich keiner, und ein einziges Fragment von einem griechischen Philosophen, von dem sonst nichts besteht, ein einziger Satz ist mir mehr als die ganzen Werke des lebenden Adorno.«
Im Zuge der Recherchen für sein Kafka-Buch »Der andere Prozeß« (1968) las Canetti Adornos »Aufzeichnungen zu Kafka« (1953), ebenfalls 1955 in die »Prismen« aufgenommen. Diesen Text ertrug Canetti offenbar nicht mehr; die meisten seiner Sottisen sind in dem Band »Prozesse. Über Franz Kafka« (2019, herausgegeben von Susanne Lüdemann und Kristian Wachinger) veröffentlicht worden. Adorno habe »Kafka auf sein schmuckes Rad geflochten«, es »ist, als hätte ein Tintenfisch nach Kafka gegriffen«; er habe »sprachliche und gedankliche Elemente von Kraus, Kierkegaard, Freud, Marx, Proust und Gott weiß was noch« hineingebracht, der »abscheulichste Eklektizismus, ein geistiger Snobismus«, und er schwört sich: »nie wieder Adorno!« Daß ihm die »Aufzeichnungen über Kafka« im Weg gewesen sein könnten, weil es tatsächlich Berührungen mit eigenen Gedankengängen gibt, zeigt sich indirekt in einem Gespräch, das Heinz-Klaus Metzger 1967 mit Canetti geführt hat.
Dabei wird es bleiben; Canetti beobachtet Adornos Leben aus der Ferne, es finden sich noch einige einfallsreiche Schimpftiraden in seinen Aufzeichnungen 1969, danach werden sie seltener und knapper, kaum mehr als kurze Bemerkungen. Daß sich Adornos Studenten im Zuge der Achtundsechziger-Revolte gegen ihn aufgelehnt haben, verzeichnet Canetti mit leiser Genugtuung, nicht einmal Adornos Tod wenige Monate später ruft eine Revision der harten Urteile hervor, wenn sie auch lakonischer werden. Die wenigen vom Autor selbst veröffentlichten sind anonymisiert (»A.«), wie er ihn auch zu Lebzeiten nie offen kritisiert hat. Canettis Tiraden sind mitunter treffsicher, strikt subjektiv und polemisch, und sie bewegen sich auf einer schmalen Basis: Er hat Adorno ein paarmal erlebt, hat wenige Jahre äußerst freundlich mit ihm korrespondiert, wie hier nachzulesen ist, und er hat ihn – (fast) nicht gelesen. Auch aus dem Nachlaß wird nicht klar, ob er mehr kannte als die »Prismen«, nicht einmal die »Dialektik der Aufklärung« erscheint als gelesenes Buch in den Nachlaß-Notizen, der »Jargon der Eigentlichkeit« (1964) bloß als Schlagwort, ganz zu schweigen von den Komponisten-Monographien oder Hauptwerken wie der »Negativen Dialektik« (1966) oder der postum erschienenen »Ästhetischen Theorie« (1970). Ob es nun Parallelen zwischen der sich selbst erhaltenden Vernunft, die Adorno in seinem Gespräch mit Canetti für die »Dialektik der Aufklärung« reklamiert, und der Figur des Überlebenden (»Masse und Macht«) gibt, ist ein großes Thema, über welches das Lesepublikum selbst entscheiden möge – dazu braucht es mehr als ein paar Seiten.
Sven Hanuschek
SINN UND FORM 6/2023, S. 790-810, hier S. 790-793
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Aleksić, Dragan
Claudio Magris in Bela Crkva
Es ist leicht
Claudio Magris, Professor für deutschsprachige Literatur an der Universität Triest und Verfasser mehrerer Essays und Romane, verbrachte auf der Suche nach Material für sein Donau-Buch vier Tage in Bela Crkva.
Zusammen mit ihm kam in die Stadt, in der sie geboren war, in der sie ihre Kindheit und Jugend verbracht hatte, viermal verheiratet und viermal verwitwet war (zwei ihrer Ehemänner hatte sie geliebt, die anderen beiden geduldig ertragen, Kinder hatte sie keine), die achtzigjährige Frau Anka, seit Jahrzehnten wohnhaft in Triest. Magris nannte sie Großmutter Anka und behandelte sie mit Sympathie und großem Respekt.
Diese feine, resolute und noch rüstige alte Dame, Tochter des reichen Kaufmanns Milan Vuković, der aus Liebe zu Ungarn seinen Namen Vukovics schrieb, erzählte Professor Magris (sie sprach ihn mit »lieber Claudio« und »lieber Professor« an) und mir ("junger Herr«) von den alten Zeiten in Bela Crkva. Sie tat es vor- und nachmittags von Donnerstag bis Sonntag, während wir durch die Stadt schlenderten und Sehenswürdigkeiten besichtigten. Professor Magris und ich hörten dabei aufmerksam zu und notierten alles eifrig. Nach dem Abendessen kommentierten wir beide bis spät in die laue Nacht im Garten des Restaurants »Klub« Großmutter Ankas Geschichten und tauschten unsere Eindrücke aus. Wir fragten uns, wer von uns beiden und in welcher Form aus ihnen »Literatur« machen würde.
Dem
Einmal saßen wir auf der Terrasse des Restaurants »Park« zwischen der Post und der Bank. Ich las die Zeitung und blickte hin und wieder zu dem in seiner Frühlingspracht schönen Park und zum Musikpavillon in seiner Mitte. Professor Magris bemerkte, er habe in Ungarn und Österreich viele solche Pavillons gesehen. Mit kleinen Buchstaben schrieb er eine Ansichtskarte an seine Frau:
Liebe Marisa,
ich schreibe Dir aus Bela Crkva, der Stadt, die auch Fehertemplom und Biserica Alba heißt und früher auch noch Weißkirchen genannt wurde. Von diesem »Früher« erzählt uns sehr schön Großmutter Anka. Sie ist ganz der Vergangenheit zugewandt (für sie hieß dieses Restaurant, in dem ich gerade an Dich denke, »Café Stadt Wien«). Ich hingegen bin ganz Dir zugewandt. Der junge Schriftsteller, mit dem mich Großmutter Anka bekannt gemacht hat ("damit er mir Gesellschaft leistet«), ist ein aufmerksamer Zuhörer und mir ein guter Führer. Mehrmals hat er mich zum nahegelegenen Dorf Stara Palanka gebracht, wo die Donau die größte Breite auf ihrem ganzen Lauf aufweist. Dort münden der Donau-Theiß-Kanal und ein Fluß mit dem schönen Namen Nera in sie. Dort befindet sich das Dreiländereck Banat–Serbien–Rumänien. An der Stelle weht ein schwerer Wind, schwer wie Schmerz.
Viele Küsse für Dich, Francesco und Paolo.
Euer Claudio
Etwas
Während eines Spaziergangs am Vormittag zeigte uns Großmutter Anka ein orangenfarbenes Haus, in dem Lazar Lungu gewohnt hatte, der größte Schweinehändler des Unteren Banats. Er wollte sie heiraten. »Willst du dein Leben mit Schweinen verbringen, Anka?« fragte ihr Vater sie. »Geld bedeutet viel, sehr viel, aber nicht alles. Such dir einen jungen Mann aus, der dir gefällt, und ich kauf ihn dir.«
In einer Nachbarstraße stand ein großes grünes Haus, in dem Rechtsanwalt Cimer mit seiner Frau gelebt hatte. Sie war die Geliebte von (Großmutter Anka zählt nachdenklich an den Fingern ab) Doktor Putnik, Rechtsanwalt Rajkov, Apotheker Schlezer, Oberst Nemet …
In einem ockerfarbenen Haus mit drei gewöhnlichen und zwei Erkerfenstern lebte früher der alte Tipovajler, Gemeinderatsmitglied und häufiger Gast in Oma Ankas Haus. – »Ein feiner Herr«, sagt sie. 1914, gleich nach dem Ausbruch des Kriegs mit Serbien, kamen eines Nachts führende Deutsche aus Bela Crkva zusammen, um über die Beseitigung der angesehensten Serben zu beratschlagen, die man daran erkennen konnte, daß an ihrer Haustür ein zum Johannestag geflochtener Kranz aus Nelken und gelben Blumen hing. Der Vorschlag fand schnell die Zustimmung der Mehrheit, dann aber ergriff der alte Tipovajler, bekannt für seinen gesunden Menschenverstand, das Wort. Auch er sei dafür und finde die Idee gut, sagte er, wies aber darauf hin, daß Bela Crkva nahe der serbischen Grenze liege. Im Falle, daß das serbische Heer die Stadt im Sturm erobere, müsse man damit rechnen, daß die dort lebenden Deutschen zur Vergeltung liquidiert würden. Daraufhin löste sich die nächtliche Versammlung friedlich auf.
Hinzuzufügen
Ich führte Professor Magris zu den Drei Kreuzen, damit er von dort Bela Crkva, die blauen Karpaten in der Ferne und den schmalen Silberstreifen auf der Donau sah; zu der russischen, der rumänischen, der evangelischen, der katholischen und der orthodoxen Kirche; zum katholischen Friedhof, wo ich ihm die Grüfte der italienischen Familien Testeroni, Gaudencio, Duranti, Morone zeigte, die man im letzten und vorletzten Jahrhundert aus Triest nach Bela Crkva geholt hatte, um die Seidenproduktion voranzutreiben.
Wir suchten das Grab der Dichterin Maria Eugenia delle Grazie auf, der traurigen und einsamen Nachtigall der »kleinen weißen Stadt« im Banat. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts besang diese zurückgezogene und neurotische, zur völligen und beinahe pathologischen Einsamkeit verurteilte Lyrikerin ihre kleine Heimat, den Eisenbahner, der den Namen der Station in verschiedenen Sprachen ausrief, die Konditorei »Turoczi«, für die sie in ihrer Kindheit schwärmte, den mürrischen Herrn Bosić, Inhaber der Gemischtwarenhandlung »Der schwarze Hund«, Frau Radulović, eine bildschöne Serbin, die bei ihren Kutschfahrten durch den Ort allgemeine Bewunderung hervorrief, die berittenen Hajduken, die auf dem Berg begrabenen Janitscharen, die Eisdecke auf der Donau, die zu Frühlingsanfang Risse bekam.
Großmutter Anka zeigte uns das orientalisch anmutende Mausoleum von Präsident Popescu, die prachtvolle Gruft des steinreichen Boboroni, der Müttern Geld gab, damit er deren Töchter entjungfern durfte, und der mit 23 Messerstichen getötet wurde, sowie die Kapelle, die der Apotheker Schmitz jeden Abend aufsuchte, um seiner dort beigesetzten Frau von Ereignissen des Tages zu berichten und sie um Rat zu fragen.
Was
Šešerko war sehr reich, seine Villa stand am Hauptplatz, dort, wo sich der Palast des Präsidenten Popescu mit seiner prachtvollen Kuppel, der Pavillon des ungarischen Garnisonskommandeurs, der Offiziersklub und das Realgymnasium, eines der besten im Königreich Ungarn, befanden. In dieser Villa lebte in einem zimmergroßen Käfig ein Papagei, der singen konnte. Wenn Kinder ihn auf Deutsch baten, etwas zu sagen, schlug er das ebenfalls in deutscher Sprache mit schwäbischem Akzent zunächst ab, lenkte aber am Ende ein und sang auf Ungarisch ein Stück aus der »Csárdásfürstin«. Wenn man ihn um eine Zugabe bat, weigerte er sich zunächst, wieder auf Deutsch, um dann dieselbe Arie auf Ungarisch zu wiederholen. Wenn man ihn jedoch zum dritten Mal aufforderte, wurde er ungehalten und antwortete mit dem Götz-Zitat.
Bereits
An einem Nachmittag führte ich Magris in das nahegelegene Dorf Grebenac, wo Vasko Popa geboren wurde. Wir spazierten auf bunten und staubigen Straßen und unterhielten uns über Popas Poesie, über seine Beschwörung barbarischer Winter und uralter Wölfe.
Am Ausgang des Dorfes, hinter dem Hügel Ćitaće, an der Drum mare genannten Straße aßen wir süße weiße und schwarze Maulbeeren von alten, hohlen Bäumen (aus der Zeit, als jedes Haus zehn Maulbeerbäume pflanzen mußte, damit die Nahrung für Seidenraupen gesichert war, als an Straßenrändern nur Maulbeerbäume wuchsen, als das Banat voller Maulbeergärten war, als man die Saat dazu aus Italien und Japan importierte).
Später saßen wir auf dem steilen Ufer des Kanals unter zitternden Espen und betrachteten das schlammige Wasser, das träge in die Donau mündete, und die darin schwimmenden Gänse, deren Hälse grün, blau, rot waren. Unter dem ständigen, unschuldigen, schnellen Flüstern der hellgrünen Blätter trug ich dem Professor das Gedicht über das Banat von Miloš Crnjanski vor.
Erfunden wurde
Drei Monate, nachdem Claudio Magris und Großmutter Anka Bela Crkva verlassen hatten, schickte ich dem Professor einige Erzählungen, zu denen mich Großmutter Ankas Geschichten inspiriert hatten.
Im Frühjahr des nächsten Jahres traf aus Triest ein Päckchen ein. Darin ein Füllfederhalter von Großmutter Anka und folgender Text: »Lieber junger Mann, ich schicke Ihnen diesen über fünf Jahrzehnte alten Füllfederhalter, auf daß Sie mit ihm noch viele schöne Erzählungen schreiben mögen. Da Sie Linkshänder sind, schreiben Sie langsam und warten geduldig, bis die Tinte getrocknet ist. Sie werden bestimmt alles notieren, was Ihnen nachts im Traum zugeflüstert wird.«
Darin war auch das Buch »Donau« von Claudio Magris. Am Ende der langen und herzlichen Widmung stand: Facile est inventis addere.
Aus dem Serbischen von Mirjana und Klaus Wittmann
SINN UND FORM 3/2013, S. 428-431
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- 5/2002 | Gedichte
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Althusser, Louis
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Altmann, Andreas
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- 1/1976 | Guernica
Alvarez, Santiago
- 3/1973 | Der Traum des Pongo
Amado, Jorge
- 2-3/1963 | Die vollständige Wahrheit über die umstrittenen Abenteuer des Kapitän Vasco Moscoso De Aragao, Kapitän auf Großer Fahrt
- 5/1967 | Die Sonne unserer Epoche
- 4/1973 | Gespräch mit Carlos Rincón
- 1/1977 | Die Gedichte von Agostinho Neto
- 3/1980 | Gespräch mit Alice Raillard Jorge Amado
Amejko, Lidia
- 1/2007 | Breslauer Lebenslauf
Améry, Jean
- 2/1972 | Die tragische Philosophie Jacques Monods. Gespräch mit Ilya Prigogine
Amichai, Jehuda
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Amiel, Irit
- 6/2014 | Nach uns kommt das große Schweigen. Gedichte
- 4/2017 | Mein polnisches Pompeji. Gedichte
- 2/2018 | Leben (vorläufiger Titel)
- 3/2021 | Arbeitstitel: Leben
- 3/2021 | »Neuanfänge sind niemals leicht«. Gespräch mit Bernhard Hartmann, S. 816 Leseprobe
Amiel, Irit
»Neuanfänge sind niemals leicht«. Gespräch mit Bernhard Hartmann
BERNHARD HARTMANN: Als Sie vor gut zwei Jahren einen Unfall hatten, habe ich Ihnen per E-Mail baldige Genesung gewünscht. Sie schrieben mir zurück: »Wir sogenannten Shoah-Überlebenden haben so etwas wie einen Sensor, einen Rettungsknopf in uns. Und immer, wenn uns etwas Schlimmes passiert, drücken wir diesen Knopf und dann ist wieder alles möglich.« Wie funktioniert das?
IRIT AMIEL: Bei mir vor allem so, daß ich nicht den Kopf verliere, wenn etwas passiert. Ich weiß, daß ich meine Kinder anrufen muß, Oni und Dita. Seit einiger Zeit habe ich auch einen echten Notrufknopf, mit dem ich den Krankenwagen alarmieren kann. Den Rest erledigt dann der Arzt … Als ich nach meinem Sturz operiert werden mußte, sah es so aus, als würde ich nicht mehr laufen können. Ich saß im Rollstuhl, aber ich habe mir vorgenommen: »Ich stehe wieder auf.« Und ich bin aufgestanden. Später hat mir ein Physiotherapeut Übungen gezeigt, eine Art Tanz, die mache ich bis heute. Mittlerweile schaffe ich wieder die zwei Kilometer in den benachbarten Park. Nicht mehr laufen? Oh nein! Man darf sich nicht unterkriegen lassen. Auch nicht von der Panik, von der Angst, die uns ständig im Nacken sitzt. Außerdem habe ich Glück mit den Menschen. Vor zehn Jahren habe ich eine junge Polin kennengelernt, die zum Judentum konvertiert ist und einen Israeli geheiratet hat. Sie war nett und sehr fromm, eine bessere Jüdin als ich. Jetzt ist sie meine Assistentin. Als ich im Krankenhaus lag, suchten wir nach einer Pflegerin, damit ich weiter in meinem Haus leben konnte. Viele Bewerberinnen sprachen vor allem davon, was wie zu sein hätte, was sie bräuchten, wann sie freihaben wollten und so weiter. Bis eine Srilankerin hereinkam, sich an mein Bett setzte, kein Wort redete und mich einfach ansah, bis sie irgendwann sagte, sie würde gern bei mir bleiben, solange ich lebe. Und ich sagte: »Das möchte ich auch.« Seitdem leben wir zusammen hier.
HARTMANN: Sie wurden 1931 als Irena Librowicz in Tschenstochau geboren. Erinnern Sie sich, wie das Leben Ihrer Familie und die polnisch-jüdischen Beziehungen vor dem Krieg aussahen?
AMIEL: In Tschenstochau lebten vor dem Krieg 35 000 Juden, das war knapp ein Viertel der Stadtbevölkerung. Und beileibe nicht alle waren religiös. Meine Familie war assimiliert, bei uns wurde polnisch gesprochen. Die polnisch-jüdischen Beziehungen waren nicht sonderlich gut, an den Universitäten gab es die Ghettobänke, wer Arzt oder Lehrer werden wollte, mußte sein Judentum aufgeben. Sonst hätte er nicht studieren können. Es gab vor dem Krieg einen starken Antisemitismus in Polen und es gibt ihn bis heute, obwohl fast keine Juden mehr dort leben, weil sie von den Deutschen ermordet wurden, teils unter aktiver und bereitwilliger Mithilfe der Polen. Wie 1939 die Atmosphäre in Polen war, müssen Sie bei den Historikern nachlesen. Mir fällt es schwer, darüber zu sprechen, ich war acht, als der Krieg ausbrach.
HARTMANN: In Ihrer Autobiographie »Arbeitstitel: Leben« schreiben Sie mit großer Zuneigung über Ihre Eltern, aber auch mit einer gewissen Distanz. An einer Stelle sagen Sie, wenn nicht Krieg und Shoah gewesen wären, hätten Sie als Erwachsene sicher mit ihnen über Ihre Erziehung diskutiert, die Sie »nicht auf das Leben, auf eine selbständige Existenz vorbereitet« habe.
AMIEL: Das ist nicht leicht zu erklären, denn meine Eltern waren außergewöhnliche Menschen. Sie stammten aus Großfamilien, meine Mutter hatte sieben Geschwister, sie wußte, wie schwer es war, auf Mutters Schoß zu gelangen. Sie glaubte, man könne nur ein Kind wirklich lieben. Meinen Vater vergötterte ich, ich vertraute ihm alle Geheimnisse an. Die beiden wollten ihr Kind schützen, sie schickten es nicht zur Schule, sondern engagierten eine Hauslehrerin, damit es nicht mit dem Antisemitismus konfrontiert würde, nicht mit der Wirklichkeit, damit es sich sicher fühlte … Vor diesem Hintergrund war es um so bemerkenswerter … bemerkenswerter und mutiger, daß sie mich im September 1942 am Tag der Aktion auf die andere Seite schickten, elf war ich damals …
HARTMANN: Der »Tag der Aktion« war der Tag, an dem die Deutschen ins Ghetto kamen und Menschen verhafteten, um sie nach Treblinka zu deportieren. Damals schmuggelte Ihr Vater Sie durch ein Loch in der Wand eines Hauses an der Grenze zur sogenannten arischen Seite aus dem Ghetto.
AMIEL: Wir hatten schon vorher mehrfach versucht, aus dem Ghetto zu fliehen. Ich hatte gute Überlebenschancen, weil ich nicht jüdisch aussah. Ich hatte helles Haar, einen Zopf, mein Kindermädchen hatte mir die katholischen Gebete beigebracht. Einige frühere Versuche waren gescheitert, denn es war nicht so, daß man bei Kaffee und Gebäck zusammensaß und in Ruhe überlegte, vielleicht machen wir dies oder das. Man mußte je nach Situation schauen, was möglich war. Und an Jom Kippur ging es los, denn sie quälten uns mit Vorliebe an den Feiertagen. Und keiner, wirklich keiner ahnte … Ich erinnere mich, daß mein Bekannter Michał angefahren kam und rief: »Hört zu, sie töten die Juden!« Keiner wollte ihm glauben, die Leute sagten: »Er is meschigge gewordn.« Denn sie erinnerten sich an die Deutschen aus dem Ersten Weltkrieg, da hatte es noch geheißen: »Bitte sehr« und »Danke sehr«. Auch mein Vater zog später Arbeitsschuhe an, weil er dachte, er führe zur Zwangsarbeit.
HARTMANN: In Wirklichkeit fuhr er nach Treblinka, wo er wie Ihre Mutter ermordet wurde. Zuvor gelang es ihm aber noch, Sie vor der Deportation zu retten. In »Arbeitstitel: Leben« beschreiben Sie die Szene dieser Rettung als zweite Geburt.
AMIEL: Ja, man könnte sie aber auch ganz anders erzählen. Etwa so: Was empfindet ein Kind, wenn es weggegeben wird? Was empfindet es sein Leben lang? Es denkt sein Leben lang, Vater hat mich gerettet, und deshalb lebt jetzt der und der und der – es gibt ein Gedicht, in dem ich aufzähle, wer ihm alles das Leben verdankt. Aber es könnte auch denken, er hat es sich leichtgemacht, er hat sich mit seiner über alles geliebten, schönen und sinnlichen Frau davongemacht und ihr gesagt: »Wir können uns noch so eine Irenka machen.« Irenka hat nicht so gedacht, aber bei Saul Friedländer habe ich irgendwann gelesen, daß er seinen Eltern lange böse war, weil sie ohne ihn in die Öfen gegangen waren. Als ich das las, dachte auch ich kurz, mein Vater hätte mich verraten, weil er mich nicht mitnahm. Aber nur kurz …
HARTMANN: Nach der endgültigen Flucht aus dem Ghetto lebten Sie unter falscher Identität erst auf dem Land und später in Warschau, wo Sie 1944 Augenzeugin des Warschauer Aufstands wurden. Ihr Onkel Marian Hassenfeld half Ihnen, so gut er konnte. Sie hätten nach dem Krieg bei ihm bleiben können, aber Sie wollten nach Palästina.
AMIEL: Bei Kriegsende wußten wir noch nicht, was den Juden angetan worden war. Wir wußten von Deportationen, Lagern und Zwangsarbeit, aber bis wir die ganze Wahrheit erfuhren, habe ich jeden Tag auf meine Eltern gewartet, einen Monat lang. Währenddessen ging ich zur Schule, aber das war stinklangweilig. Ich war belesen, weil ich in jedem meiner Verstecke gelesen hatte. Wo immer sich ein Buch fand, las ich … Ich hatte verschiedene Möglichkeiten. Mein Onkel wollte mich adoptieren, aber dafür fand ich mich zu alt. Ich hätte zu Verwandten nach Kuba gehen können, und in den USA lebte eine Schwester meiner Mutter, die von der Aussicht auf Familienzuwachs freilich wenig begeistert war. Meine bevorzugte Option war eine Kibbuz-Gruppe, die erste, die gleich nach Kriegsende in Warschau entstanden war. Dort waren unter anderem meine Freundinnen, die fast alle Zwangsarbeiterinnen bei der HASAG (Hugo und Alfred Schneider AG) in Tschenstochau gewesen waren, und dort wollte ich auch hin. Allerdings stellte sich heraus, daß diese Gruppe schon nach Palästina aufgebrochen war. Doch es sollte eine neue Gruppe gebildet werden. So begann meine Reise. Ich bin von zu Hause weggelaufen, anfangs wurde ich sogar von der Polizei gesucht …
HARTMANN: Es war nicht leicht, nach Palästina zu kommen. Sie mußten sich zum Mittelmeer durchschlagen, großenteils zu Fuß, dann wurde Ihr Schiff von den Briten abgefangen und Sie saßen fast ein Jahr in einem Displaced-Persons-Lager auf Zypern fest. Insgesamt dauerte die Reise zweieinhalb Jahre. Haben Sie unterwegs nie den Mut verloren?
AMIEL: Ich war damals in einem Alter, in dem der Mensch glaubt, er sei zu allem imstande. Und ich hatte die für junge Leute typische Abenteuerlust. Zugleich war ich verzweifelt, weil ich begriffen hatte, daß es in Polen nie anders sein würde – ich wollte dem Antisemitismus entkommen, den ich nach dem Krieg erlebt hatte. Und natürlich wollte ich die Welt verbessern und beim Aufbau eines jüdischen Staats mithelfen. Die Araber und alles andere haben mich damals nicht interessiert, nur die Juden. Ich war fest überzeugt und bin es bis heute, daß es einen Ort geben muß, an dem ein Jude, dem es schlechtgeht, Zuflucht finden kann. Israel muß existieren. Selbst wenn es dazu zwei Staaten geben müßte, was auch seine Risiken hätte.
HARTMANN: Nach der Ankunft in Palästina haben Sie, wie Sie in »Arbeitstitel: Leben« schreiben, »Irenka begraben und Irit erschaffen«. Wie haben Sie die erste Zeit im neuen Land empfunden?
AMIEL: Es war ein Neuanfang und Neuanfänge sind niemals leicht. Mitten im Leben. Die Israelis damals … Der Mensch sieht immer nur das, was um ihn herum ist. Was anderswo geschieht, sind Zeitungsmeldungen. Menschen werden ermordet, aber man sieht es nicht mit eigenen Augen, man schüttelt den Kopf und sagt, wie schrecklich … Aber es ist nicht dein Leben, nicht du mußt dich verstecken, weil du sonst umgebracht wirst. Es war nicht einfach, diesen Israelis zu begegnen, die … Wir kamen aus religiös geprägten Familien, zwar nicht mehr durch unsere Eltern, aber durch die Generation unserer Großeltern. Und hier war alles ganz anders. Hier gab es Kibbuze und einen berühmten Schriftsteller, Moshe Shamir, der über seinen im Unabhängigkeitskrieg gefallenen Bruder schrieb: »Elik nolad min ha yam. Elik wurde aus dem Meer geboren.« Das bedeutete, er hatte keine fromme Großmutter, keinen Großvater mit Bart, sondern gehörte zu denen, die früher hergekommen waren und die Geschichte dieses Landes verändert hatten. Sie waren melakh ha’aretz, das Salz der Erde. Ihre Eltern waren aus allen möglichen Käffern in Polen und anderswo ausgewandert, aber sie hatten inzwischen eine völlig neue Generation herangezogen. Für uns war das alles zu viel auf einmal. Wir wurden nicht freundlich oder mit Neugierde aufgenommen. Am Anfang mochte uns niemand. Die Leute waren skeptisch, sie fragten: Wieso hast ausgerechnet du überlebt? Was hast du getan, um am Leben zu bleiben? Das war nicht einfach. Trotzdem habe ich nie bereut, daß ich hierhergekommen bin.
(…)Aus dem Polnischen von Bernhard Hartmann
SINN UND FORM 3/2021, S. 308-317, hier S. 308-311
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Angarowa, Hilde
- 3/2021 | Die Rückkehr. Aus einem Reisetagebuch (1957). Mit einer Vorbemerkung von Andreas Tretner, S. 392 Leseprobe
Angarowa, Hilde
Die Rückkehr. Aus einem Reisetagebuch (1957)
Vorbemerkung
Annähernd dreißig Jahre war Hilde Angarowa, geborene Schießer, Deutschland ferngeblieben, bis sie sich im März 1957 das erste Mal wieder nach Berlin, Hauptstadt der DDR, wagte. »Germania begrüßt seine treulose Tochter«, so eröffnet sie ihr Reisetagebuch. Als junge Bildhauerin hatte sie 1929, frohgemut und frischvermählt mit einem rotblonden Sibirjaken, die Stadt gen Moskau verlassen; zurück kam sie als gestandene Übersetzerin russischer Literatur.
Ihre »Lehrjahre« für diesen Beruf erscheinen beispiellos dramatisch, hart an den Abgründen deutsch-russischer Geschichte im 20. Jahrhundert. Sie war schon da, als die Garde deutscher Kommunisten nach der Machtergreifung ins sowjetische Exil kam, war dabei, als die Sowjetunion in den Großen Terror driftete und ihre deutschen Kampfgenossen als Spione abservierte, wurde kalt erwischt vom Pakt zwischen Hitler und Stalin und davon, daß dieser Verbündete alsbald ihre neue Heimat überfiel.
An der Seite ihres Mannes, Alexej Angarow, der eine steile Parteikarriere machte, war sie bis 1933 im Marx-Engels-Institut Komsomolsekretärin gewesen und hatte dessen »Säuberung« miterlebt. Der Versuch, sich als Kulturarbeiterin »unter Tage«, beim U-Bahn-Bau, auf die eigenen Füße zu stellen, war beendet, als 1935 ihre Tuberkulose wieder ausbrach. Sie fand eine Anstellung als Redakteurin in der von der Komintern betriebenen Verlagsgenossenschaft für ausländische Arbeiter (Vegaar), wo sie schon bald ihr erstes Buch übersetzte, erlebte deren Schließung und die Ausmerzung des halben Personals. Auf die Scheidung von ihrem Mann, der später als »Volksfeind« erschossen wurde, folgte die Bezichtigung, Frau eines Volksfeinds gewesen zu sein, die sie zum Glück nur den Job kostete. Nachdem die Vegaar als sowjetischer Verlag für fremdsprachige Literatur wiederauferstanden war, erkämpfte die Angarowa ihre Wiederanstellung, begann zu übersetzen, hörte nie wieder damit auf.
Und hatte seit 1933 aus der Ferne mitansehen müssen, wie ihre gutbürgerliche jüdische Familie im brandenburgischen Cottbus, dem sie mit achtzehn den Rücken kehrte, ins Verderben gerissen wurde: Keine fünf Wochen nach der »Machtergreifung« der Nazis rotteten sich die ersten aufgeputschten Parteigänger vor dem Modekaufhaus des Vaters zusammen, wenig später war der Boykott jüdischer Geschäfte durchgesetzt, an den Schaufenstern klebten die gelben Plakate. Die Schießers wurden enteignet und ins »Judenhaus « umquartiert; langes Warten auf die Ausreise, während die ersten Transporte zur Deportation rollten; im letzten Moment gelang es dem vorausgeeilten Bruder, die Eltern nach Argentinien zu lotsen; nicht mehr zu helfen war der Schwester in Köln, die mit Mann und Kindern nach Litzmannstadt (Łódź) deportiert und in Kulmhof umgebracht wurde.
Eine Zeitenwende später ist Hilde zurück im geteilten Berlin, bei der Dachdeckerwitwe Liebig in der Taubenstraße, Nähe Gendarmenmarkt, in Pension. Vier Wochen auf Einladung der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft (DSF) – Parlamentärin gewissermaßen der Sieger und Befreier, die nunmehr als Großer Bruder der »guten Deutschen « anzusehen sind, in diese Rolle muß sie erst noch finden. Zusätzlich »geködert« mit einem Übersetzerpreis nebst 3500 Mark Prämie. Zwei ihrer in Moskau erschienen Übersetzungen gilt es für Neuausgaben in DDR-Verlagen zu redigieren, neue Aufträge zu akquirieren, die Stadt ihrer Jugend ans Herz zu drücken – und noch das:
»Hansel, ich will nach Cottbus, du bist zwar ein großer Mann, aber vielleicht kommst du mit. Er sagt, nein, warum denn? Ich sag, wie bei einer Operation: wenn einer die Hand hält, wird es leichter.« Wessen Beistand wird hier erbeten?
Hansel, das ist der Dichter Johannes R. Becher, seit drei Jahren Kulturminister der DDR. Hilde Angarowa zählte zu den vielen Frauen in Bechers Leben; eine der am wenigsten bekannten, wenngleich vielleicht die längste Beziehung von allen. Die beiden hatten sich Mitte der zwanziger Jahre kennengelernt, kaum daß sie in Berlin war, und im Sommer 1926 in Karl Raichles anarchistischer Künstlerkolonie im schwäbischen Urach, Bechers alljährlichem Sommerrefugium zu jener Zeit, zueinandergefunden.
Sieben zwischen 1928 und 1939 von ihm an Angarowa gesandte Briefe befinden sich im Becher-Archiv der Akademie der Künste, zwei davon gedruckt in Rolf Harders Briefausgabe von 1993. Die Angarowa hat sie nach seinem Tod an Lilly Becher übergeben, mit der sie befreundet war; eine bemerkenswerte Geste – Liebesbriefe immerhin, an eine Konkurrentin. Hildes Briefe hat der Dichter wohl nicht aufbewahrt; einige liegen als Entwurf in ihrem Nachlaß in Bremen, Forschungsstelle Osteuropa.
Als die beiden sich 1933 in Moskau wiedersahen, war Angarow schon wieder aus ihrem Leben verschwunden, sie allein mit Kind, krank und in existentieller Not. Die fragile, explosive Gemeinschaft der Politexilanten in einem Klima zunehmender politischer Repression, Intriganz und Verdächtigung ließ offenbar auch libidinöse Verwicklungen zu – schwer vorstellbar dennoch, welcher Raum ihrer Beziehung blieb, da Becher seit 1935 mit Lilly verheiratet war, außerdem bald schon liiert mit Josephine Boss, der Frau des Gynäkologen Dr. Adolf Boss, der in Workuta im Lager einsaß, während sie zu ihrer Sicherheit eine fiktive Ehe mit Bechers Mitarbeiter Franz Leschnitzer eingegangen war. »Bitte sei mir nicht bös, wenn ich unser nettes, aber belangloses erotisches Intermezzo beende«, beschied Angarowa Becher 1939 kühl, jedoch: »Ich möchte Dich als Freund nicht gern verlieren. Wir kennen uns aus Deutschland. Und alles was ich noch aus Deutschland hab, sei es ein Kochtopf, ein Hemd oder ein Mann, das halte ich hoch in Ehren.« Und später, aus der Lungenheilanstalt: »Ich verzichte auf das Vergnügen deiner intimeren Bekanntschaft, wenn die dich hindern sollte, mir praktisch ein Freund zu sein.« Sie verlange keine Protektion, keine Befürwortung von Unfähigkeit, nur eine unvoreingenommene Beurteilung ihrer Arbeit. Es ging ums Überleben, und die Exilzeitschrift »Internationale Literatur«, der Becher vorstand, hätte ein Rettungsanker sein können.
Mit Bechers unverzüglicher Rückkehr nach Deutschland 1945 waren sie einander aus den Augen geraten. Nun also ein spätes Wiedersehen in Berlin. »Goldene Hochzeit«, wie sie an einer Stelle ihres Tagebuchs frotzelt. Gleich am zweiten Tag bestellt er sie zu sich ins opulente Büro am Molkenmarkt. Im Nu ist die alte Vertraulichkeit wiederhergestellt. »Dünn ist er geworden und wieder anders.« Becher erholt sich von einer Krebsoperation, ist streng auf Diät.
Ein Jahr ist vergangen seit der Geheimrede Chruschtschows, ein halbes seit den Ereignissen in Budapest. Der Harich-Prozeß ist gerade eine Woche her. Während Hilde in Berlin weilt, findet das ZK-Plenum statt, auf dem Mielke die Attacke gegen Janka fährt. Der Kampf um Lukács, Bechers letzte Schlacht, läuft noch, er wird sie verlieren, sich im September von ihm lossagen; nur nützen wird es nichts mehr. Er wird abdanken.
Im März ist Becher faktisch bereits entmachtet. Er hat jetzt anscheinend Zeit für die Angarowa, sie kommt ihm gerade recht. Der Minister setzt sich ans Steuer seines gletscherblauen EMW 327 und fährt mit Hilde an den Ort ihrer Kindheit.
Zuvor lädt er sie zu sich nach Bad Saarow, ins »Traumgehäuse«. »Hinterm See klang eine Glocke, lange und fern. ›Du, das ist Vineta!‹, sagte Hans. Und dann im Bungalow, wir zwei allein: ›Mach das Huhn warm, deck den Tisch, nimm dir eine Spargelkonserve.‹ – Den ganzen Abend nur ernste Gespräche.«
Wozu der Dichter sich zum Minister machen ließ, will sie wissen. Ob er sein Volk umformen wolle? »I wo! Macht, Stellung, Ansehen, solch ein Leben.« Und er tischt ihr die Geschichte vom Vater auf, dem königlich-bayrischen Oberstaatsanwalt, dem er es nachträglich habe beweisen wollen. Sie ist sich nicht sicher, wie ernst er es meint. »Wenn ich je gekämpft hab – und ich hab nicht gekämpft, ich hab geschrieben«, erläutert er, »so war das Ziel, ein Häuschen im Grünen zu haben wie dieses, ein Motorboot, ein Segelboot, ein Auto. Aber das wollte ich nicht für mich allein, sondern für alle, darauf kommt es an, und daraus ergibt sich das andere.« Spontan entwirft sie ihr Gegenbild: »Ich hab mir das nie so überlegt, aber wenn ich es jetzt formuliere, wirds ungefähr so: Ich möchte, daß keiner mehr erniedrigt wird, daß jeder das Beste aus sich macht, das in ihn hineingelegt ist, daß sich jeder freuen kann, wenn Sonne auf Bäume scheint und Musik spielt. Das Häuschen kommt nachher … Ich komme dir wohl sehr komisch vor?« Etwas verstiegen, befindet er und bringt die Rede auf Brecht, Thomas Mann und andere, über die er in ähnlicher Weise, im Zusammenhang mit Bankkonten, spricht. »Versuch mal, von der Seghers zwanzig Mark zu borgen!« Wenn jemand mit ihm über seine Gedichte reden wolle, laufe er weg oder schmeiße ihn raus.
Viel sprechen sie in diesen Tagen über Politik, wohl mehr als ihm lieb ist; die Angarowa ist begierig auf Informationen aus erster Hand. Klartext schon bei der ersten Begegnung im Büro: »Er sagt: Du denkst wie Lilly, ich denk anders. Bei ihm war Ordnung, jetzt geht’s hin und her.« Bei ihm, das meint: unter Stalin.
Dem hohen Amt zollt die Freundin Respekt: »Kulturminister in diesem verworrenen zwiegespaltenen Land, wo sich so vieles vielleicht für die Welt entscheidet, dazu kann man kein Michailow sein.« Sein sowjetischer Amtskollege, ein blasser Funktionär. »Bei uns sind die Reserven enorm, da buttert man lustig hinein, ab mit Schaden, Deutschland muß auf kulturellem Gebiet die Pfennige zählen.« Dazu die massive Abwanderung der Leute in den Westen. Die Leute gehen, weil sie nicht wollen, daß ihnen jemand in ihr Leben hineinredet, so einfach erklärt Becher es ihr.
Dennoch, und wohl nicht zufällig nach einer Vorstellung von Brechts »Galilei«, regt sich Zweifel: »Ob mein guter Freund, der Geist über den Wassern, mit seinem Augenzumachen und ›wir waren anders informiert‹, Stalinallee und ›Dank euch, ihr Befreier‹, immer eine sehr eindeutige und mutige Rolle spielt?«
Wieviel weiß Angarowa über die Vorgänge, die Becher zusetzen, wieviel läßt er sie wissen? Während der Prozeß gegen Aufbau-Chef Janka vorbereitet wird, arbeitet sie mit der Lektorin Karin Berndt in den Räumen des Verlags an der Redaktion ihrer FedinÜbersetzung. Die Schockstarre der Belegschaft nach der Verhaftung ihres Chefs kann ihr nicht verborgen bleiben. Davon steht nichts im Tagebuch. »Ich hatte eine Stunde bis zum ›Diner‹ mit Gysi und las inzwischen das Material über die Harich-Affäre.« Welches Material? Ein Verhandlungsprotokoll, das Stenogramm der ZK-Tagung aus Bechers Hand – oder doch nur das, was das Neue Deutschland darüber schrieb?
Ein paarmal nimmt er sie mit in sein Haus am Pankower Majakowskiring, hinter schwarzrotgoldenen Schlagbäumen. Welche Verse des russischen Revolutionsdichters der Übersetzerin in diesem Moment einfallen, ist klar. »Mein Sowjetpaß: Sesam öffne dich … Ich hebe ihn, und der VP oder Offizier, wahrscheinlich letzteres, gibt salutierend freie Fahrt. Im Presseklub, für den man einen Ausweis haben muß, zeige ich, nur als Experiment, stumm den roten Paß. Bitte sehr, die Dame. Nicht ganz in Ordnung.«
Und das Staunen geht weiter: »In seinem Haus gibt es ein Zimmer, er nennt es bescheiden ›mein Archiv‹. Es ist aber der Grundstock zu einem Bechermuseum mit Glasschautischen etc. Ich behielt mein ernstes Gesicht.«
Die Krankheit habe ihn sehr mitgenommen, erzählt er. »Aber dann suchte er sich ein Grab aus, neben Brecht, machte sein Testament und wurde ruhig. Das Grab habe ihn ruhig gemacht. Ich sagte: Gojim Naches. Aber er rührte mich sehr.«
Allmählich gewinnt sie den Eindruck, »daß er sich doch als alter Goethe fühlt«.
Für ihr Moskauer Leben scheint sich Becher weniger zu interessieren. »Wohnst du noch immer in dieser entsetzlichen Wohnung irgendwo da draußen?« fragt er sie einmal. »Eins hab ich begriffen«, notiert sie sarkastisch: »Man darf keinen deutschen Postsekretär in eine unserer Wohnungen lassen.«
Auffälligste Leerstelle in ihren Aufzeichnungen: Die »alten Wunden«, die traumatischen Erlebnisse der dreißiger Jahre in der Sowjetunion scheinen sie weitgehend beschwiegen zu haben. Wie viele Erklärungen sie einander noch schuldig gewesen sein mögen (sie hatte im Frühjahr 1942 nach seinem Suizidversuch die verbundenen Handgelenke gesehen): kein Thema mehr – oder immer noch keines.
»Ich muß nicht mehr schweigen«, hatte er unter dem Eindruck von Chruschtschows Rede geschrieben. »Ich brauche nicht das Gefühl zu haben, weiterhin mitschuldig zu werden dadurch, daß ich schweige. Es gilt nur noch die Sprache zu finden, um all das Ungeheuerliche beredt zu machen.« Ein Buch sei zu schreiben, »soll ich nicht weitere Schuld auf mich laden und mich durch irgendeine obskure Hintertür aus dem Leben hinausschwindeln«. Inzwischen hatte er diese Passagen aus den Korrekturfahnen seines »Poetischen Prinzips« wieder herausgestrichen. Und den enthaltenen Romanentwurf über einen 1937 im Moskauer Exil entstehenden Roman? So wenig, wie es ihn 1937 hätte geben können, würde es ihn 1957 ff. geben, das wußte Becher längst. Er stand schon vor besagter Hintertür, als Angarowa ihn traf.
Und sie selbst? Wo die Begegnung mit den »Genossen« der Moskauer Emigration sich nicht vermeiden ließ, umging sie diese Themen oder vertraute sie dem Tagebuch nicht an. Das erstaunt nicht, andere taten es genauso, viele schwiegen bis zuletzt. Angarowas Nachlaß enthält kaum einen Verweis auf die Vorgänge jener Zeit. Zu lange konnte die Aufbewahrung solcher Dokumente irreparable Folgen haben.
Erst im Mai 1989 äußerte sich Hilde Angarowa einmal im Gespräch mit zwei Filmemachern, Konrad Hermann und Hans Peter Klausnitzer, sehr markant über das, was damals geschehen war: »Es war, als ginge man auf einer ganz, ganz dünnen Eisdecke, und neben einem bricht einer durch. Und das Eis schließt sich wieder. (…) Wir haben gesagt: Wie schön ist jeder Tag, den du mir schenkst, Marie-Luise, das war damals ein Schlager in Deutschland – wobei wir mit Marie-Luise den NKWD meinten. So war das.« Der Film hieß »Die Angst und die Macht« und handelte von Johannes R. Becher.
In Berlin 1957 hat die Angarowa anderes im Sinn. Das Tagebuch spiegelt einen rauschhaft intensiven Monat, Hingabe an ein »geborgtes Leben«. Es gibt viel zu tun und noch mehr zu bedenken. Als erstes schafft sie sich die von der DSF bestellte Aufpasserin vom Leib, so resolut, daß sie Bewunderung erntet. Absolviert ein beachtliches Besuchsprogramm bei alten Bekannten ihrer Berliner Jugend (Lu Märten, Magdalene Müller-Martin, Grete Weiskopf, Gerhart Eisler), sucht die Begegnung mit Kunstschaffenden, die sie interessieren: Atelierbesuche bei dem Bildhauer Fritz Cremer, dem Architekten und Designer Franz Ehrlich, dessen Funkhaus in der Nalepastraße sie bewundert. Diskutiert wie nebenher mit den Kolleginnen und Kollegen bei »Kultur und Fortschritt«, Lektorat Sowjetliteratur, über »richtiges Übersetzen«, gibt dem DSF-Vorstand einen Nachhilfekurs zur neuesten Sowjetliteratur, speist in Bechers Beisein mit Klaus Gysi. Erlebt die Weigel als Mutter Courage im Berliner Ensemble und den Hauptmann von Köpenick Heinz Rühmann in den Zentrum-Lichtspielen Münzstraße. Das notdürftig hergerichtete Pergamonmuseum, die wieder in Betrieb genommene Nationalgalerie (»eine Freude, die Kokoschkas, Schmidt-Rottluffs, Feiningers … wenn auch teelöffelweise, wiederzusehen «), wo sie Lesser-Urys Nachtbilder für sich entdeckt. Im Regierungskrankenhaus läßt sie nach ihrer Tuberkulose sehen. (Böser Schreck, am Ende Entwarnung.)
Klammen Herzens besichtigt sie die Ruinen am Potsdamer Platz: »Und dann das Grausigste. Eine weite, unaufgeräumte Ansammlung riesiger Steinbrocken und Trümmer, starrend, schief übereinander getürmt, Wüstenei, unabsehbar. Gelber Granit, noch die Strebenform im Profil zu erkennen. Wertheim. Darüber zartrot, ins Lichtblau gehend, der Abendhimmel. Drunten schon zwielichtiges Dunkel in diesem Gewirr von Untergang, und über alldem fast unwirklich ganz rein und einsam in der Stille Vogelsang.«
Sie streift durch die Straßen, Cafés, betrachtet die »neuen Deutschen«, die alten und die jungen, findet sie erstaunlich nett. »Ich sehe bisher überhaupt nicht diesen Typ an nichts mehr glaubender, ausgehöhlter Zyniker wie so oft bei uns. Famose Menschen, ernst, dabei mit Humor und Kultur, sehr wohlerzogen, aber natürlich.« Manchmal muß sie ihre Euphorie regelrecht zügeln: »Ein höfliches aufgeschlossenes Völkchen, das nur alle Vierteljahrhundert seinen Vernichtungsrappel kriegt.« Sie inspiziert die neuen deutschen Kleider, die Wohnungen. Setzt die Honorare auf ihrem DM-Konto in Mode und Gebrauchsgüter um, fünf Koffer voll, für sich und die Lieben daheim. Und horcht bei alledem in sich hinein, wie sehr sie hier noch dazugehört. »Dort bin ich verzaubert«, stellt sie überrascht fest, »aber zu Hause bin ich hier … Fühle mich ganz hineingehörig, bloß einen Kopf größer.«
Ob hierzubleiben lohnte? In den letzten Tagebuch-Eintragungen spielt sie mit dem Gedanken, was wäre, wenn. »Wenn einem Menschen und Erlebnisse zufliegen und man wieder schmal, jung und elastisch, mit einem wunderbaren Körpergefühl im Wagen des Geliebten sitzt und die Buntheit Berlins und sein Frühlingsgrün an einem vorübergleiten …« Aber das ist, so weiß sie, eine Schimäre. Der Alltag würde anders aussehen. »Ellbogenbegabte Konkurrenz und das Zerren um den Knochen.« Sie fühlt sich von der Zunft geachtet, mitunter hofiert – und hat zugleich das Gefühl, bei der Auftragsvergabe hintanzustehen, den Abstand nicht mehr wettmachen zu können.
Ganz abgesehen von den Daheimgebliebenen: Tochter Nina, Enkel Sergej, den Moskauer Freunden – deutsche Bauhäusler, in der Sowjetunion gestrandet wie sie: die Fotografin Leoni Neumann-Labas, der Architekt Philipp Tolziner, der nach zehn Jahren Gulag in der DDR Arbeit zu finden gehofft hatte … Es ging wohl nicht. »Wieder einmal innerlich zwischen allen Stühlen wie in fast allen Grundfragen des Lebens.«
Mit Stephan Hermlin bespricht sie die Möglichkeit, zwischen beiden Ländern zu pendeln. Daraus wurde nichts.
»Bleib gesund, Hansel, und schon Dich, Du mußt älter als Goethe werden«, schreibt sie Becher zum Abschied. Auch das hat nicht geklappt. Anderthalb Jahre später wurde er pompös zu Grabe getragen, sie war nicht dabei. Die Angarowa blieb auf ihrem Moskauer Außenposten eine Übersetzerin russischer Literatur ins Deutsche, noch bis in die Wendezeit hinein. Sie starb 1999, mit einundneunzig Jahren.
Den nachfolgenden Text hat Hilde Angarowa unmittelbar nach dem Besuch in Cottbus, jener »Operation« am wehen Herzen mit Becher als Hilfssanitäter, in ihr Tagebuch geschrieben. Lediglich ein paar Absätze wurden zur besseren Lesbarkeit eingefügt.Andreas Tretner
(…)
SINN UND FORM 3/2021, S. 392-401, hier S. 392-397
Angelaki-Rooke, Katerina
- 3/1988 | Gedichte aus Griechenland - Jene Melancholie
Ani, Al
- 5/1971 | Gespräch mit Wilhelm Girnus
Anonym
- 5/1949 | Gedichte des Su Tun P'o (1036 - 1101)
- 4/1951 | Lieder vom Huaifluß
- 4/1951 | Chinesisches Volkslied. Heb die Fliesen auf und sieh nach!
- 3-4/1953 | Kasachische Volksmärchen
- 5/1953 | Sorbisches Volkslied
- 1/1955 | Die lange Wanderschaft. Rumänische Volksgesänge vom Heimgang des Menschen
- 1/1960 | Gedichte aus Französisch-Äquatorialafrika
- 2/1962 | Im Himmel gibt es keinen Jadekaiser. Neue chinesische Volkslieder
- 3/1964 | Kurdische Lyrik
- 3/1973 | Mythen
- 3/1973 | Fabeln
- 3/1973 | Politische Songs aus Lateinamerika
- 4/1973 | Ketschua-Lied
- 4/1979 | Das Verhör
- 2/1984 | R. K. Das Theater Athol Fugards
- 6/1991 | Konflikt mit KuBa. Kurt Barthels »Dorfgeschichte 1960«
Anonymus
- 3/1973 | Mythen
- 3/1973 | Fabeln
- 3/1973 | Politische Songs aus Lateinamerika
- 4/1973 | Ketschua-Lied
- 4/1979 | Das Verhör
- 2/1984 | R. K. Das Theater Athol Fugards
- 6/1991 | Konflikt mit KuBa. Kurt Barthels »Dorfgeschichte 1960«
Ansull, Oskar
- 1/2018 | Aspekt einer schwierigen Identitätsfindung. Karl Emil Franzos, Walter Benjamin, Ludwig Strauß, Paul Celan
Antonow, Sergei
- 5/1967 | Gespräch mit Wilhelm Girnus
Antoon, Sinan
- 1/2018 | Die schmale Stelle am Tor. Gedichte
Apitz, Bruno
Apitz, Renate
Apollinaire, Guillaume
- 4/1968 | Der neue Geist und die Dichter
- 2/2008 | Die Quais und die Bibliotheken, S. 212 Leseprobe
Apollinaire, Guillaume
Die Quais und die Bibliotheken
Ich gehe möglichst selten in große Bibliotheken. Lieber spaziere ich über die Quais, diese herrliche öffentliche Bibliothek. Aber manchmal besuche ich die Nationalbibliothek oder die Mazarine, und im Musée social in der Rue Las-Cases traf ich einen seltsamen Leser, einen Bibliotheksliebhaber. »Vom Herumlaufen in fremden Städten wurde ich oft furchtbar müde«, sagte er, »und um mich zu auszuruhen, um mich zu Hause zu fühlen, ging ich eine Bibliothek.«
"Daher kennen Sie wohl so viele.«
"Sie bilden den größten Teil meiner Reiseerinnerungen. Ich will nicht von den Pariser Bibliotheken reden, wo ich viel Zeit verbracht habe: nicht von der herrlichen Nationalbibliothek mit ihren noch unbekannten Schätzen und den mit den Initialen E.F. (für Empire français) versehenen Tintenfässern; nicht von der Mazarine, in der ich zauberhafte Gelehrte kennenlernte: Léon Cahun, den Verfasser erstrangiger Romane, die viel zu wenig gelesen werden, André Walckenaer und Albert Delacour - erstere sind schon tot, letzterer hat mit dem Schreiben wohl auch die Bibliotheksbesuche aufgegeben; und ich will nicht von der abgelegenen Bibliothèque de l'Arsenal reden, die eine der wertvollsten Gedichtsammlungen der Welt besitzt, und auch nicht von der bei Skandinaviern so beliebten Bibliothèque Sainte-Geneviève.
Wegen ihrer Helligkeit ist die Bibliothek von Lyon wohl eine der angenehmsten. Sie hat mehr Tageslicht als alle Pariser Bibliotheken. In der kleinen Bibliothek von Nizza habe ich Nostradamus‹ »Geschichte der Provence« verschlungen und mich ins Sarazenenlager Fraxinet begeben, derweil draußen der Karneval im Gange war mit Musik und Konfettiregen.
Die Bibliothek von Quimper hat eine Muschelsammlung. Als ich einmal dort war, kam ein gutgekleideter Mann herein und schaute sie sich an. ›Haben Sie diesen Kinderkram bemalt?‹ fragte er den Konservator mit lauter Stimme. ›Nein, mein Herr‹, antwortete der ruhig, ›die Natur selbst hat diese Muscheln mit den feinsten Farben geschmückt.‹ - ›Wir werden uns nie verstehen‹, erwiderte der elegante Besucher, ›ich räume das Feld.‹ Und ging.
Eine Oxforder Bibliothek (ich weiß nicht mehr welche) hat alle ihre Werke über Sexualität verbrannt, darunter »Die Physik der Liebe« von Remy de Gourmont und »Kraft und Stoff« von Ludwig Büchner.
In Berlin sah ich kürzlich in der Bibliothek allerhand Pedanten, doch ich machte mich mit einem Leser bekannt, dessen Gesicht mir sympathisch war. Er erläuterte mir die literarischen Vorlieben der jungen Deutschen, und ich übergebe ihm das Wort: ›Die beliebtesten französischen Autoren‹, sagte er, ›sind André Gide, Verhaeren, Maeterlinck und Paul Claudel. Was die deutsche Literatur betrifft, brauche ich über Dehmel oder Mombert nichts zu sagen, da sie in Frankreich sehr bekannt sind. Von den älteren Schriftstellern schätzen wir einige, die man in Paris kaum kennt. Der kranke Peter Altenberg lebt seit zwei Jahren in einem Sanatorium bei Wien. Peter Hille, ein Bohemien, hat zu Lebzeiten kein einziges Buch herausgebracht. Seit seinem Tod tauchen immer wieder Manuskripte auf, die er mit anderen Habseligkeiten bei seinen Wirtinnen zurücklassen mußte; es sind schon vier Bücher veröffentlicht. Paul Scheerbart, inzwischen fünfzig, schreibt kosmische, planetarische Novellen. Karl Kraus ist ein exzellenter Prosaist, der vielbeachtete Essays geschrieben hat. Seine Hauptwerke sind »Die chinesische Mauer« und »Sprüche und Widersprüche«. Vor kurzem hat er eine Schrift gegen Heine verfaßt. Ich gehöre zur Gruppe des »Sturm«, den Herwarth Walden leitet, ein temperamentvoller, kämpferischer Mann, der sich mutig für junge Künstler einsetzt. Zu diesen zählt Albert Ehrenstein, dessen Begabung zu großen Hoffnungen berechtigt. Er versteht nichts von Musik und ist ein erbitterter Gegner des Berliner Tageblatts. Peter Baum ist ein hochempfindsamer lyrischer Erzähler. Auch er hält sich was darauf zugute, von Musik keine Ahnung zu haben. Der Dichter Paul Zech war früher Bergmann in Holland und Westfalen. Alfred Döblin ist Nervenarzt und schreibt Erzählungen. Er war einer der glühendsten Anhänger des Futurismus. All diese Autoren wohnen in Berlin und versammeln sich im Café Josty um Herwarth Walden. Es gibt noch andere, wie Franz Kafka in Prag und Thaddäus Kittner aus Wien.‹ Aber lassen wir Berlin und die Literatur und kommen wir wieder zu den Büchereien.
In der Jenaer Universitätsbibliothek wurden Heines Werke auf Beschluß des Senats aus dem Lesesaal entfernt und sind nur noch im Magazin mit Sondererlaubnis einzusehen.
In Kassel hoffte ich immer dem Geist des Marquis de Luchet zu begegnen, der die Bibliothek Ende des 18. Jahrhunderts leitete und im Handumdrehen durcheinanderbrachte, indem er Wicquefort zu den Kirchenvätern stellte und Barbarismen wie »exeuropeana« auf die Zierleisten schrieb, was nicht nur die Latinisten in Kassel, sondern auch die in Göttingen und Gotha empörte. Letztere machten einen solchen Skandal, daß Luchet abtreten mußte.
Die Bibliothek von Neuchâtel in der Schweiz liegt am schönsten von allen, die ich kenne. Sämtliche Fenster gehen auf den See. Ein bezaubernder Ort! Der Lesesaal ist herrlich. Er ist mit den Porträts berühmter Bürger der Stadt geschmückt. Obendrein kann man in Ruhe lesen, denn man trifft kaum jemanden. Der Leiter - traditionell ein Theologe - schläft auf seinem Pult. Es gibt eine reiche Sammlung französischer Bücher des 17. und 18. Jahrhunderts. Wer Titel haben will, die schwer zu finden sind, darf sie selber suchen. Die Bibliothek rühmt sich ihrer Rousseau-Handschriften, die in einem großen gelben Umschlag Aufbewahrt werden. Nur sie bekommt man ohne weiteres, so stolz ist man darauf.
In der Bibliothek von Sankt Petersburg erhielt man den Mercure de France nicht im Lesesaal. Die Privilegierten lasen ihn im Dienstzimmer. Ich habe dort wundervolle kyrillische Schriften auf Birkenrinde gesehen. Die Bibliothek hatte von neun Uhr morgens bis zehn Uhr abends geöffnet. Viele arme Studenten kamen hierher, um sich aufzuwärmen. Der Lesesaal war geradezu ein Hort revolutionärer Gesinnung. Andauernd störten Razzien die Studierstimmung und alle mußten ihren Ausweis zeigen. Zwölfjährige Mädchen lasen dort Schopenhauer. Später kamen unter dem Eindruck von Arzybaschews »Sanin« auch elegante Damen, um die neuesten französischen Symbolisten zu lesen.
Die Lektüre des »Sanin« zeitigte groteske Folgen. Gymnasiasten und Gymnasiastinnen zwischen vierzehn und siebzehn gründeten Sanin-Clubs. Jeder brachte einen Kerzenstummel mit. Es wurde gesungen und getrunken, und wenn die letzte Kerze ausging, begann die Orgie. Kurz vorm Krieg gab es in dieser Altersgruppe eine bedauerliche Selbstmordepidemie.
[...]
Aus dem Französischen von Gernot Krämer
SINN UND FORM 2/2008, S. 212-214 - 6/2009 | Erinnerungen an Auteuil
Appelfeld, Aharon
- 2/2003 | Die Erzählung von Kain und Abel
- 2/2018 | Am Rande unserer Stadt
- 2/2018 | »Deutsch sollte meine Sprache sein, sie wurde es leider nicht«. Ein Gespräch mit Achim Engelberg über Literatur, Vergangenheit und Gegenwart , S. 201 Leseprobe
Appelfeld, Aharon
»Deutsch sollte meine Sprache sein, sie wurde es leider nicht«. Ein Gespräch mit Achim Engelberg über Literatur, Vergangenheit und Gegenwart
ACHIM ENGELBERG: Etliche Autoren, die über den Völkermord an den europäischen Juden oder die Schrecken der Lagerwelt des 20. Jahrhunderts schrieben, begingen Selbstmord, etwa Primo Levi oder Jean Améry. Andere wie Jorge Semprún brauchten einen zeitlichen Abstand, um von ihren Leiden erzählen zu können. Nach dem Tod von Imre Kertész sind Sie einer der letzten, die die Schoah in den Mittelpunkt ihres Werkes stellen.
AHARON APPELFELD: Mit Kertész war ich eng befreundet. Ich konnte kein Ungarisch und er kein Hebräisch, aber unsere gemeinsame Sprache war Deutsch, wir kamen beide aus der österreich-ungarischen Kultur. Primo Levis Werke und die der anderen habe ich gelesen. Sie waren älter als ich, zehn oder zwanzig Jahre. Ein beträchtlicher Unterschied. Ich war damals noch ein Kind und konnte keine Memoiren schreiben, dazu muß man bewußt erlebt haben, was geschehen ist. Deshalb stellte sich die Frage für mich etwas anders. Ich konnte nur Literatur schreiben, keine Erinnerungen. Ich fing mit Gedichten an, die aber keinen Wert haben, weil ich in meiner Heimatstadt Czernowitz nur ein Jahr zur Schule gegangen bin. Nach Palästina kam ich 1946, mit fast vierzehn Jahren. Ich konnte weder die Sprache, noch verfügte ich über Bildung. Und es war anstrengend, Hebräisch zu lernen. In einem Kibbuz, wo man uns zu Bauern machen wollte, schrieb ich erste Erzählungen. Ohne meine Eltern, ohne die Familie war ich ziemlich verloren. Vieles war mir fremd. Czernowitz war zwar keine große, aber eine schöne Stadt. Die Lyrikerin Rose Ausländer lebte in derselben Gasse wie ich, es gab außerdem viele Dichter, Schriftsteller, Künstler und eine deutschsprachige Universität. Die meisten Schüler auf dem Gymnasium waren Juden.
In Israel konnte ich mich nicht einfügen in dieses heroisierte, optimistische Leben, die ideologisierte Kultur. Ich trug an meiner Last. Dort aber hieß es: Vergeßt, laßt die Vergangenheit hinter euch, lebt in der Gegenwart. Ich wollte aber mit meinen Eltern leben, den Großeltern, den Bekannten. So geriet ich in Opposition zum damaligen Israel. Glücklicherweise fand ich mit Mitte Zwanzig meinen Vater wieder. Wir hatten beide lange befürchtet, der andere könnte nicht überlebt haben. Mein Vater war in Czernowitz ein tüchtiger Geschäftsmann gewesen, nun hatte er alles verloren. Ich hatte inzwischen auch studiert und gute Lehrer gefunden: Gershom Scholem, Martin Buber oder Samuel Bergman waren assimilierte Juden, die sich mit dem jüdischen Schicksal auseinandersetzten. Später wurden sie meine Freunde. Scholem war nicht nur Historiker, sondern auch Schriftsteller. Sein »Sabbatei Zwi. Der mystische Messias« ist große Literatur. Auch Buber war ein Meister.
ENGELBERG: Mittlerweile sind Sie selbst ein klassischer israelischer Schriftsteller.
APPELFELD: Aber damals war ich noch zu sehr mit der Vergangenheit verbunden. Ich schuf mir erst meine Welt, ich war eher ein deutscher Autor. Deutsch war ja meine Muttersprache.
ENGELBERG: Hatten Sie Mentoren? Wie äußerten sich Ihre Lehrer zu Ihrer Literatur?
APPELFELD: Buber war mein erster Leser. Ich war 27 oder 28 Jahre alt, als ich ihm eine Erzählung gab. Es ging um Leute, die die Schoah überlebt hatten und einsam und verloren nach Israel gekommen waren. Sie konnten hier weder mit ihrer Vergangenheit noch in der Gegenwart leben, sie hatten keine Zukunft. Buber gefiel das Faktische, daß es wenige Adjektive, keine Idealisierung und nichts Didaktisches gab. Ich kam aus der Kafka-Kleist-Tradition. Sie waren meine großen Meister. Ich las beide sehr langsam auf deutsch. Besonders Kafka war mir nah, weil er mit seinem Judentum kämpfte, ähnlich wie Jean Améry. Das Judentum mit seiner langen Geschichte verbindet uns.
ENGELBERG: Wenn Sie ein neues Buch beginnen, was steht am Anfang?
APPELFELD: Gefühle, Stimmungen, Bilder. Es sind Details zu unserem Haus in Czernowitz oder dem in den Karpaten, wo ich meine Großeltern besuchte. Das führt mich voran, Seite um Seite, Kapitel um Kapitel. Wenn ich ein Buch schreibe, habe ich eine Idee. Das heißt nicht, daß ich diese leicht definieren kann. Es beginnt mit etwas Kleinem, einem Tisch etwa, doch dann kommt die allgemeine Idee. Es ist eine Reise. Nehmen wir diesen Raum. Hier gibt es viele Sachen – die Bilder von meinem Sohn Meir hängen an den Wänden –, aber um ihn so zu beschreiben, daß er dem Leser vor Augen steht, brauche ich nur zwei Details. Diese muß man aber erst einmal finden. Ich bin kein nostalgischer Schriftsteller, aber ich liebe meine Figuren. Deren Vorbilder habe ich kennengelernt, während des Krieges und danach. Viele lebten und leben hier in Israel. Das ist die Quelle.
ENGELBERG: Ich las, daß Sie im Kaffeehaus schreiben. Ist das immer noch so?
APPELFELD: Seltener. Ich schreibe nur in Kaffeehäusern ohne rauschende Musik, davon gibt es immer weniger. Das ist aber die Bedingung für mich. Die richtigen Kaffeehäuser verbinden mich mit denen zu Hause in Czernowitz. Da gab es viele – wie in Wien.
ENGELBERG: Sie schreiben aber immer noch mit der Hand, anschließend mit der Maschine?
APPELFELD: Ich glaube, jeder Schriftsteller, vielleicht jeder Künstler sollte das Physische, das Sensuelle mit Papier und Handschrift empfinden. Ich schreibe alles zuerst mit der Hand, aber jetzt benutze ich keine Schreibmaschine mehr, sondern eine Frau kommt und ich diktiere und korrigiere gleichzeitig. Jedes Buch benötigt einige Fassungen. Die Sätze sollen schön sein.
ENGELBERG: Sie erschrieben sich eine Welt aus Worten, ein Werk von fünfundvierzig Bänden. Trotz mancher Kritik haben Sie Buch um Buch veröffentlicht. Wann kam der Durchbruch?
APPELFELD: Am Anfang gab es in Israel diese primitive Reaktion auf meine Literatur: »Du lebst noch dort, nicht hier.« Sie wollten den großen starken Juden. Ich hatte es schwer, bis sie begriffen, daß ich über Leute schreibe, die wie ich hier in Israel leben. Damals waren rund fünfzig Prozent der Bevölkerung Überlebende der Schoah. Der Durchbruch kam allmählich, vor allem nach der ersten englischen Übersetzung. Der renommierte Kritiker Irving Howe schrieb eine Rezension des Romans »Badenheim«, das Buch erschien auf der Titelseite der New York Times Book Review.
ENGELBERG: Howe war zwar in der New Yorker Bronx geboren, aber seine Eltern kamen aus Osteuropa, genauer: aus Bessarabien. Viele der Gründungsväter Israels stammen, politisch wie kulturell, aus dieser Region. Tel Aviv nannte man in den fünfziger Jahren auch »Lodz am Mittelmeer«.
APPELFELD: Es war nicht nur Lodz. Sie kamen aus verschiedenen Ländern. Viele waren Verlorene, sie tranken reichlich Wodka, spielten Karten, gingen zu Prostituierten. Es war eine Reaktion auf die Lager, aus denen sie kamen. Aber sie wurden zu meinen Helden.
ENGELBERG: Über zwanzig Jahre waren Sie Professor in Be’er Sheba, der Hauptstadt der Negev-Wüste, wo Sie noch einmal ein ganz anderes Milieu kennenlernten.
APPELFELD: Meine Vorlesungen waren gut besucht. Ich verglich die jüdischen Literaturen verschiedener Kulturen, wobei mich vor allem die deutsche interessierte, Kafka, Heine, insbesondere seine Prosa. Ich schrieb auch einige Aufsätze, etwa über Isaac Bashevis Singer, der rechtzeitig aus Polen in die Vereinigten Staaten ausgewandert war.
ENGELBERG: Er siedelte sein Werk in ähnlichen Gegenden an wie Sie, hat ähnliche Trennungen wie Sie erlebt. Seinen Sohn, der mit seiner Mutter nach Moskau, später nach Palästina emigriert war, sah er zwei Jahrzehnte lang nicht. Seine Nobelpreisrede hielt er 1978 auf Jiddisch.
Plötzlich ertönt eine Sirene. Wir stehen auf. Es ist Jom haSikaron, der Gedenktag an die gefallenen israelischen Soldaten und Opfer des Terrorismus, auf den der Unabhängigkeitstag folgt. Aharon Appelfeld ist sichtlich bewegt und bleibt die zwei Minuten, in denen der Ton zu hören ist, stehen.
APPELFELD: Letzte Woche war Jom haScho’a, der Gedenktag an die Schoah.
Heute nun dieser Tag. Das weckt viele Erinnerungen.
[…]
SINN UND FORM 2/2018, S. 168-175, hier S. 168-171
Appen, Karl von
- 1-2-3/1957 | Stimmen der deutschen Bühne zum Tode Brechts
- 4/1970 | Malerei und Bühnenbild im Beziehungsfeld der Künste
Aragon
- 1/1949 | Gedichte aus der Résistance
- 3/1950 | Gedichte
- 3/1951 | Prolog zu »Les Communistes«
- 1/1953 | Zum Tode Paul Eluards. Trauerreden auf dem Père-Lachaise
- 6/1953 | Barbentane
- 1/1955 | Intermezzo
- 4/1957 | Yannis Ritsos' »Mondscheinsonate«
- 3/1958 | Von der Rolle des Schriftstellers. Aus der Moskauer Rede
- 5-6/1959 | Das Palais Royal im Licht
- 1/1961 | Saint-John Perse: »...denn es geht um den Menschen«
- 4/1962 | Aus der Dichtung: Fernand Léger
- 5-6/1962 | Rede in Prag
- 4/1963 | Er starb lebendig
- 5/1964 | Um ein wahres Bild. Aus einem Gedenkartikel für Maurice Thorez
- 3/1966 | Der venezianische Spiegel
- 3/1966 | Meine Romangestalten und die Wirklichkeit. Gespräch mit Francis Crémieux
- 4/1970 | Hölderlin
- 6/1981 | Mini mini mi
- 5/2011 | Heinrich von Kleist, S. 805 Leseprobe
Aragon, Louis
Heinrich von Kleist
Am 21. November 1811 entdeckte das Hausmädchen beim Gasthaus »Zum Stimming«, etwa anderthalb Kilometer von Potsdam entfernt in Richtung Berlin, ein Paar, das sich in einem Wäldchen am Ufer des Wannsees den Kaffee hatte servieren lassen. Mann und Frau waren von Kugeln durchbohrt, aber lächelten. Es waren die Ehefrau des Schatzmeisters der Brandenburgischen Landesbrandversicherungsanstalt, Henriette Vogel, und ihr Gefährte, der vierunddreißigjährige Dichter, Dramatiker und Romancier Heinrich von Kleist.
Es handelte sich nicht um das Schlußkapitel einer unglücklichen Liebe. Zwischen beiden hatte sich kein Roman abgespielt. Der Doppelselbstmord war seit langem beschlossen, die Begründung für jeden eine andere: Sie litt an einer unheilbaren Krankheit; er verzweifelte an einem Leben, in dem literarische Mißerfolge, eine verfahrene materielle Situation und eine durch die frühromantische Werther-Mode verstärkte Neigung zur Melancholie vor dem Hintergrund der vaterländischen Misere zusammenwirkten.
Wann immer von Kleist die Rede ist, der Vorfall am Wannsee wird das Gesagte unweigerlich überschatten. So wie bei Nerval die Laterne immer präsent ist, an der er sich erhängt hat. Oder wie Chattertons Selbstmord selbst bei denen bekannt ist, die seine Verse nie gelesen haben. In Frankreich werden die patriotischen Ausfälle des Dichters gegen Napoleon und seine Armee den Fall zusätzlich belasten. Denn so sind wir nun mal: Wir können es nicht ertragen, daß man von Franzosen begangene Verbrechen auch Verbrechen nennt, und unsere Historiker, unsere Kritiker betrachten den deutschen Patriotismus als abscheulichen Nationalismus, zu jener Stunde, da unsere Vorfahren ein überfallenes Land tyrannisierten, wohingegen unser eigener aggressiver Nationalismus ihnen höchstens als natürliche Folge der natürlichen Gefühle erscheint, die Jeanne d'Arc oder die Soldaten des Jahres II der Republik beflügelten.
Dabei ist Heinrich von Kleist eine ziemlich singuläre Figur, ein bewunderungswürdiger und bemitleidenswerter Mensch, dessen unentschlossenes und widerspruchsvolles Leben aber keineswegs vorbildlich war. Er ist ein Spiegel seiner Zeit, und deren Widersprüche lassen sich an seiner Geschichte ablesen. Das Exzessive seiner Werke wird nur dann verständlich, wenn man sie in den historischen Rahmen einfügt, in dem sie entstanden sind. Man sollte die Schwankungen dieses Geistes, die Etappen seines Lebens stets vor der Kulisse jener dreißig Jahre verfolgen, die zu den leidvollsten, bewegtesten der Weltgeschichte zählen: zwischen dem alten Friedrich von Preußen und Napoleons Herrschaft über Europa, mit den von ferne lodernden Flammen der Französischen Revolution und dem Gepolter der einstürzenden Bastillen, zwischen Kant und Fichte, der philosophischen Entwicklung der deutschen Weltanschauung, der wissenschaftlichen Morgenröte des neunzehnten Jahrhunderts mit Lamarcks erstem Schlag gegen die Doktrin der Unwandelbarkeit der Arten, der französischen Invasion und dem Erwachen der Romantik.
Geboren wurde Heinrich von Kleist im Herbst 1777 in Frankfurt an der Oder, als Sohn eines brandenburgischen Offiziers, dessen adeliges Erbe unter sieben Kinder verstreut wird. Selbstverständlich ist er zum Soldatenleben bestimmt: 1792 tritt der Fünfzehnjährige unter Friedrich Wilhelm II. in die Armee ein. 1799 verläßt er sie nach sieben Dienstjahren. In dieser Zeit, in der er im Krieg gegen die Franzosen eingesetzt wird, zeigt Kleist wenig Begeisterung für den Militärstand. Unmittelbar nach der Schlacht bei Valmy schreibt er folgendes Gedicht:
Der Höhere Frieden
Wenn sich auf des Krieges Donnerwagen,
Menschen waffnen, auf der Zwietracht Ruf,
Menschen, die im Busen Herzen tragen,
Herzen, die der Gott der Liebe schuf:Denk ich, können sie doch mir nichts rauben,
Nicht den Frieden, der sich selbst bewährt,
Nicht die Unschuld, nicht an Gott den Glauben,
Der dem Hasse, wie dem Schrecken, wehrt.Nicht des Ahorns dunkelm Schatten wehren,
Daß er mich, im Weizenfeld, erquickt,
Und das Lied der Nachtigall nicht stören,
Die den stillen Busen mir entzückt.Selten wurde eine Prophezeiung vom Propheten selbst so widerlegt! Von ihm, der seiner Schwester Ulrike am 25. Februar 1795 schrieb: »Gebe uns der Himmel nur Frieden, um die Zeit, die wir hier so unmoralisch töten, mit menschenfreundlicheren Taten bezahlen zu können!« Doch auch der Frieden, der im April 1795 zwischen Friedrich Wilhelm II. und der Französischen Republik in Basel unterzeichnet wurde, machte das Militärleben nicht annehmbarer für den jungen Mann, der 1798 im Entwurf eines Briefs, in dem er den König um seinen Abschied bitten wollte, schrieb: »Die größten Wunder militärischer Disziplin, die der Gegenstand des Erstaunens aller Kenner waren, wurden der Gegenstand meiner herzlichsten Verachtung; die Offiziere hielt ich für so viele Exerziermeister, die Soldaten für so viele Sklaven, und wenn das ganze Regiment seine Künste machte, schien es mir als ein lebendiges Monument der Tyrannei.«
1799 verläßt er das Heer, erfüllt vom Wunsch zu studieren, von einer glühenden Leidenschaft für die Wissenschaft. Er vertritt eine Art Stoizismus, der dem Menschen sein Glück zum Ziel setzt, dieses Glück aber von der sittlichen Leistung des Individuums abhängig macht. Er läßt sich an der Universität in Frankfurt an der Oder immatrikulieren. Er ist Theist, löst sich aber von der gängigen Religion. Zu diesem Zeitpunkt erfolgt die Verlobung mit Minchen oder Minette, Wilhelmine von Zenge, die bis zum Frühjahr 1802 hält. Eine sonderbare Verlobung übrigens, eine sonderbare Liebe, ebenso abstrakt wie die Moral des Studenten, und eher ein Ausblick auf das Leben, das Kleist sich vorstellt, als ein Ereignis dieses Lebens.
Damals ist Kleist besessen von seiner Weiterentwicklung und wissenschaftlichen Bildung, er lehnt es ab, eine Arbeit anzunehmen, sich auf einen Beruf zu beschränken. Und so erscheint ihm die Heirat mit Minette erst sehr viel später möglich, wenn er sich festgelegt, eine Stelle und die Mittel zur Gründung eines Hausstands hat. Zu diesem Zeitpunkt sieht sich unser der Armee entronnener Pazifist als »Weltbürger«. Nichts läßt den Nationalisten ahnen, der er vier Jahre später sein wird.
[...]
SINN UND FORM 5/2011, S. 689-697
Aragon, Louis
- 1/1949 | Gedichte aus der Résistance
- 3/1950 | Gedichte
- 3/1951 | Prolog zu »Les Communistes«
- 1/1953 | Zum Tode Paul Eluards. Trauerreden auf dem Père-Lachaise
- 6/1953 | Barbentane
- 1/1955 | Intermezzo
- 1/1961 | Saint-John Perse: »...denn es geht um den Menschen«
- 4/1962 | Aus der Dichtung: Fernand Léger
- 5-6/1962 | Rede in Prag
- 4/1963 | Er starb lebendig
- 5/1964 | Um ein wahres Bild. Aus einem Gedenkartikel für Maurice Thorez
- 3/1966 | Der venezianische Spiegel
- 3/1966 | Meine Romangestalten und die Wirklichkeit. Gespräch mit Francis Crémieux
- 4/1970 | Hölderlin
- 6/1981 | Mini mini mi
- 5/2011 | Heinrich von Kleist, S. 836 Leseprobe
Aragon, Louis
Heinrich von Kleist
Am 21. November 1811 entdeckte das Hausmädchen beim Gasthaus »Zum Stimming«, etwa anderthalb Kilometer von Potsdam entfernt in Richtung Berlin, ein Paar, das sich in einem Wäldchen am Ufer des Wannsees den Kaffee hatte servieren lassen. Mann und Frau waren von Kugeln durchbohrt, aber lächelten. Es waren die Ehefrau des Schatzmeisters der Brandenburgischen Landesbrandversicherungsanstalt, Henriette Vogel, und ihr Gefährte, der vierunddreißigjährige Dichter, Dramatiker und Romancier Heinrich von Kleist.
Es handelte sich nicht um das Schlußkapitel einer unglücklichen Liebe. Zwischen beiden hatte sich kein Roman abgespielt. Der Doppelselbstmord war seit langem beschlossen, die Begründung für jeden eine andere: Sie litt an einer unheilbaren Krankheit; er verzweifelte an einem Leben, in dem literarische Mißerfolge, eine verfahrene materielle Situation und eine durch die frühromantische Werther-Mode verstärkte Neigung zur Melancholie vor dem Hintergrund der vaterländischen Misere zusammenwirkten.
Wann immer von Kleist die Rede ist, der Vorfall am Wannsee wird das Gesagte unweigerlich überschatten. So wie bei Nerval die Laterne immer präsent ist, an der er sich erhängt hat. Oder wie Chattertons Selbstmord selbst bei denen bekannt ist, die seine Verse nie gelesen haben. In Frankreich werden die patriotischen Ausfälle des Dichters gegen Napoleon und seine Armee den Fall zusätzlich belasten. Denn so sind wir nun mal: Wir können es nicht ertragen, daß man von Franzosen begangene Verbrechen auch Verbrechen nennt, und unsere Historiker, unsere Kritiker betrachten den deutschen Patriotismus als abscheulichen Nationalismus, zu jener Stunde, da unsere Vorfahren ein überfallenes Land tyrannisierten, wohingegen unser eigener aggressiver Nationalismus ihnen höchstens als natürliche Folge der natürlichen Gefühle erscheint, die Jeanne d'Arc oder die Soldaten des Jahres II der Republik beflügelten.
Dabei ist Heinrich von Kleist eine ziemlich singuläre Figur, ein bewunderungswürdiger und bemitleidenswerter Mensch, dessen unentschlossenes und widerspruchsvolles Leben aber keineswegs vorbildlich war. Er ist ein Spiegel seiner Zeit, und deren Widersprüche lassen sich an seiner Geschichte ablesen. Das Exzessive seiner Werke wird nur dann verständlich, wenn man sie in den historischen Rahmen einfügt, in dem sie entstanden sind. Man sollte die Schwankungen dieses Geistes, die Etappen seines Lebens stets vor der Kulisse jener dreißig Jahre verfolgen, die zu den leidvollsten, bewegtesten der Weltgeschichte zählen: zwischen dem alten Friedrich von Preußen und Napoleons Herrschaft über Europa, mit den von ferne lodernden Flammen der Französischen Revolution und dem Gepolter der einstürzenden Bastillen, zwischen Kant und Fichte, der philosophischen Entwicklung der deutschen Weltanschauung, der wissenschaftlichen Morgenröte des neunzehnten Jahrhunderts mit Lamarcks erstem Schlag gegen die Doktrin der Unwandelbarkeit der Arten, der französischen Invasion und dem Erwachen der Romantik.
Geboren wurde Heinrich von Kleist im Herbst 1777 in Frankfurt an der Oder, als Sohn eines brandenburgischen Offiziers, dessen adeliges Erbe unter sieben Kinder verstreut wird. Selbstverständlich ist er zum Soldatenleben bestimmt: 1792 tritt der Fünfzehnjährige unter Friedrich Wilhelm II. in die Armee ein. 1799 verläßt er sie nach sieben Dienstjahren. In dieser Zeit, in der er im Krieg gegen die Franzosen eingesetzt wird, zeigt Kleist wenig Begeisterung für den Militärstand. Unmittelbar nach der Schlacht bei Valmy schreibt er folgendes Gedicht:
Der Höhere Frieden
Wenn sich auf des Krieges Donnerwagen,
Menschen waffnen, auf der Zwietracht Ruf,
Menschen, die im Busen Herzen tragen,
Herzen, die der Gott der Liebe schuf:Denk ich, können sie doch mir nichts rauben,
Nicht den Frieden, der sich selbst bewährt,
Nicht die Unschuld, nicht an Gott den Glauben,
Der dem Hasse, wie dem Schrecken, wehrt.Nicht des Ahorns dunkelm Schatten wehren,
Daß er mich, im Weizenfeld, erquickt,
Und das Lied der Nachtigall nicht stören,
Die den stillen Busen mir entzückt.Selten wurde eine Prophezeiung vom Propheten selbst so widerlegt! Von ihm, der seiner Schwester Ulrike am 25. Februar 1795 schrieb: »Gebe uns der Himmel nur Frieden, um die Zeit, die wir hier so unmoralisch töten, mit menschenfreundlicheren Taten bezahlen zu können!« Doch auch der Frieden, der im April 1795 zwischen Friedrich Wilhelm II. und der Französischen Republik in Basel unterzeichnet wurde, machte das Militärleben nicht annehmbarer für den jungen Mann, der 1798 im Entwurf eines Briefs, in dem er den König um seinen Abschied bitten wollte, schrieb: »Die größten Wunder militärischer Disziplin, die der Gegenstand des Erstaunens aller Kenner waren, wurden der Gegenstand meiner herzlichsten Verachtung; die Offiziere hielt ich für so viele Exerziermeister, die Soldaten für so viele Sklaven, und wenn das ganze Regiment seine Künste machte, schien es mir als ein lebendiges Monument der Tyrannei.«
1799 verläßt er das Heer, erfüllt vom Wunsch zu studieren, von einer glühenden Leidenschaft für die Wissenschaft. Er vertritt eine Art Stoizismus, der dem Menschen sein Glück zum Ziel setzt, dieses Glück aber von der sittlichen Leistung des Individuums abhängig macht. Er läßt sich an der Universität in Frankfurt an der Oder immatrikulieren. Er ist Theist, löst sich aber von der gängigen Religion. Zu diesem Zeitpunkt erfolgt die Verlobung mit Minchen oder Minette, Wilhelmine von Zenge, die bis zum Frühjahr 1802 hält. Eine sonderbare Verlobung übrigens, eine sonderbare Liebe, ebenso abstrakt wie die Moral des Studenten, und eher ein Ausblick auf das Leben, das Kleist sich vorstellt, als ein Ereignis dieses Lebens.
Damals ist Kleist besessen von seiner Weiterentwicklung und wissenschaftlichen Bildung, er lehnt es ab, eine Arbeit anzunehmen, sich auf einen Beruf zu beschränken. Und so erscheint ihm die Heirat mit Minette erst sehr viel später möglich, wenn er sich festgelegt, eine Stelle und die Mittel zur Gründung eines Hausstands hat. Zu diesem Zeitpunkt sieht sich unser der Armee entronnener Pazifist als »Weltbürger«. Nichts läßt den Nationalisten ahnen, der er vier Jahre später sein wird.
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SINN UND FORM 5/2011, S. 689-697
Archangelski, Alexander
- 5/1994 | Preissaison für russische Romane
Arendt, Erich
- 6/1950 | Gedichte
- 3/1954 | Gedichte
- 3/1956 | Über Asche und Zeit Dein Lächeln
- 6/1957 | Flug-Oden
- 3/1962 | Delos
- 3/1964 | Vicente Aleixandre
- 3-4/1965 | Miguel Hernández
- 3/1966 | Gedichte
- 5/1975 | Gedichte
- 2/1978 | Gedichte
- 5/1979 | Gedichte
Arendt, Hannah
- 3/2010 | Hannah Arendt und Hilde Domin. Briefwechsel 1960-1963
Arghezi, Tudor
Arnason, Jonas
- 1/1963 | Skrín
Arndt, Artur
- 5/1991 | Gespräch mit Hermann Kant
Arnheim, Rudolf
- 1/1987 | Gret Palucca zum fünfundachtzigsten »Technische Improvisationen«
Arnim, Bettina von
- 1/1953 | Briefe und Konzepte aus den Jahren 1849 - 1852
- 3-4/1953 | Briefe und Konzepte aus den Jahren 1809 - 1846
- 4/1988 | Briefe und Konzepte 1837 bis 1846
Arnold, Ingo
- 2/1989 | Gespräch mit Reiner Bredemeyer und Sebastian Kleinschmidt
Aron, Thomas
- 1/1983 | Literatur als Ausdruck und Gestaltung der Wirklichkeit
Arp, Hans
- 3/2005 | Korrespondenz mit Wilhelm Fraenger
Arpino, Giovanni
- 1-2/1965 | Aus gekränkter Ehre
Arquint, Tatjana
- 6/2019 | Der Blaubart aus Küsnacht. Zwei Erzählungen
Artel, Jorge
- 2/1951 | Lateinamerikanische Lyrik
Asgari, Marjan
- 4/2020 | Die Liste
Ashbery, John
- 2/1995 | Gedichte
Askan, Katrin
- 2/1998 | An der Kandare
Aslanoglou, Nikos Alexis
- 3/1988 | Gedichte aus Griechenland - Gefährliches Alter
Astel, Arnfrid
- 5/2024 | Den Augenblick beim Schopf fassen. Ein Gespräch über Literatur im Radio, das Glück der Spontaneität und Freundschaften mit Schriftstellern. Gespräch mit Ralph Schock, S. 697 Leseprobe
Astel, Arnfrid
Den Augenblick beim Schopf fassen. Ein Gespräch mit Ralph Schock über Literatur im Radio, das Glück der Spontaneität und Freundschaften mit Schriftstellern
RALPH SCHOCK: Wir führen jetzt ein kleines Gespräch und ich zücke einen Zettel, den ich, um dieses Gespräch ein wenig zu strukturieren, vorbereitet habe. Das hast du nie gemacht. Ich habe einen Großteil deiner Gesprächssendungen im Studio mitgekriegt, aber du hattest nie einen Zettel dabei. Warum eigentlich nicht? Ist das Snobismus?
ARNFRID ASTEL: Nein. Ich bin kein sehr systematischer Mensch. Das habe ich ja mal in einem Buch geäußert, das Steffen Aug im Pocul-Verlag herausgegeben hat. Es heißt »Im Chaos schwimmt der aufgeräumte Kopf«. Man kann natürlich Ordnungen schaffen, und das ganze Leben, der ganze Staat und alles um uns herum besteht aus dieser Ordnung. Nur im Kopf wird nichts vernetzt. Ich habe nicht die Kraft, außerhalb meines Kopfes Ordnung zu schaffen, und daher rette ich mich in einen gewissen Hochmut, der aber auch irgendwie begründet ist. Ich habe mich natürlich mit den Autoren beschäftigt und mußte mich deshalb nicht so intensiv auf die Sendungen vorbereiten, weil ich nur Leute gesendet habe, deren Literatur ich einigermaßen kannte. Und dann vertraute ich auf die Situation: Den Augenblick beim Schopf zu fassen war für mich am wichtigsten, und nur so gelingen mir solche Sendungen. Am schwierigsten war es für mich, wenn ich mal einen Zettel hatte, vom Ablesen wieder ins Gespräch zu kommen, und umgekehrt. Daran scheitere ich, das kann ich gar nicht. Und dann gibt es ja diesen Druck, diesen Horror vacui, der im Rundfunk größer als im Fernsehen ist – im TV kann man wenigstens gucken, was die Petra Gerster anhat, und sich in ihre blauen Augen, ihre wunderbaren Twinsets und dergleichen vertiefen. Im Hörfunk geht das nicht. Und deshalb ist der Horror vacui, die Angst, daß einem nichts einfällt, besonders stimulierend. Also fällt dir etwas ein, etwas anderes kannst du dir gar nicht erlauben.
SCHOCK: Ich wußte gar nicht, daß du in der Situation Angst hast … Ich habe mehrfach miterlebt, wie der Einstieg vor sich ging: erst das Parlando, das Vorgespräch in der Kantine, dann der Gang ins Studio. Du hast den Beginn des Gesprächs inszeniert. Böse Zungen behaupten, daß du erst angefangen hast, wenn dein Gesprächspartner aufgeregt war. Meistens schafften es die Gäste, eine Zeitlang gelassen zu bleiben. Aber du hast erst angefangen, wenn du ganz ruhig geworden warst und dein Gesprächspartner irgendwie nervös, weil es nicht losging. Manchmal hast du auch gesagt, man könnte das Mikrophon in der Kantine auf den Tisch stellen, das wäre das Allerbeste. Trotzdem gibt es einen Unterschied zwischen dem Parlando in der Kantine und dem Beginn einer Gesprächssendung im Studio. Den hast du ganz bewußt gestaltet und immer wieder hinausgezögert. Deine Vorgespräche sind legendär.
ASTEL: Was du zuerst gesagt hast – daß ich gewartet hätte, bis mein Gesprächspartner verunsichert war –, halte ich für üble Nachrede, das hat keinen Fuß in der Realität.
SCHOCK: Vielleicht zwei?
ASTEL: Vielleicht zwei, natürlich, die wichtigen Sachen sind einem selbst ja nicht bewußt. Wenn das stimmen sollte, wäre es schlimm. Es geht aber nicht darum, daß du eine Sendung abliefern mußt, sondern darum, daß du dich wirklich für den Autor und seine Literatur interessierst. Und wenn man etwas wissen will, ist man nicht verlegen, danach zu fragen. Ich habe immer gefragt, was ich wissen wollte. Das ist ein einfaches Rezept. Wenn man nichts wissen will, ist es natürlich schwierig.
SCHOCK: Hast du manchmal getürkte Fragen gestellt? Hast du etwas gefragt, was du schon wußtest, um jemanden ins Sprechen zu bringen oder aus der Reserve zu locken?
ASTEL: Rhetorische Fragen kommen vor. Es war immer mein Ziel, mit den Autorinnen und Autoren freundschaftlich zu verkehren. Auch in der Zeit vor dem Rundfunk, in der ich viele Literaturkritiken schrieb, habe ich nur rezensiert, was ich gut fand. Ich habe nie einen Verriß geschrieben. Und so war es
eigentlich auch mit den Sendungen.
SCHOCK: Einspruch, euer Ehren. Mir fällt eine Formulierung ein, die ich, weil sie so unglaublich war, nie vergessen werde. Du hast ein Gespräch mit einem Autor geführt, dessen Namen ich nicht sage. Du warst erkennbar wenig begeistert von dem Text, hast einige abgegriffene Formulierungen, Bilder und so weiter aufgegriffen und dann hinterhältig gefragt: Woher, lieber Autor, nimmst du das Vertrauen, daß diese abgegriffenen Bilder bei dir poetischen Glanz entfalten?
ASTEL: Aber er hat es nicht gemerkt.
SCHOCK: Das ist ja noch hinterhältiger!
ASTEL: Er hat es nicht gemerkt – und weiß es bis heute nicht. Es besteht natürlich die Gefahr, daß man sich hinter dem Rücken des Autors mit den klügeren Zuhörern verbündet. Die Kritik wurde ja sanft geäußert, im Ton der Bewunderung: Ich beneide dich um dein Selbstvertrauen in solche Formulierungen.
SCHOCK: Ich möchte dich nach den Kriterien fragen, wie du die Autoren ausgewählt hast. Unser Kollege Peter König hat heute einen Satz über dich gesagt, den ich auch unterschreiben würde: Ruhm war ihm verdächtig.
ASTEL: Stimmt.
SCHOCK: Gleichwohl hattest du immer wieder Gesprächspartner wie Enzensberger, Rühmkorf, Walser, Sarraute, etc. Aber warum waren Autoren, die weniger bekannt sind, für dich wichtig? Warum hast du sie eingeladen? Was hat dich an ihnen mehr interessiert als an den bekannten?
ASTEL: Ich denke, es ist nicht Aufgabe eines Redakteurs, die ohnehin bekannten Leute immer wieder zu senden. Also Grass, Lenz, Böll und so weiter. Die Böll-Sendung war eine Ausnahme. Bölls Dichtung kennt niemand, die ist völlig unbekannt geblieben. Mit Hans Magnus Enzensberger ist es eine andere Sache. Er ist öffentlichkeitsscheu und negiert eigentlich den Literaturbetrieb, ist aber einer seiner bekanntesten Vertreter. Mit ihm habe ich übrigens schon früh korrespondiert für die »Lyrischen Hefte«. Ich hatte mit ihm immer schöne Gespräche. Er wußte es zu schätzen, daß ich nichts für meine eigene Karriere von ihm wollte. Das hat er mir auch mal gesagt. Ich wollte nur Sendungen mit ihm machen. Und im Gegensatz zu seiner sonstigen Scheu vor dem Literaturbetrieb hatte er diese Hemmungen mir gegenüber nicht.
SCHOCK: Die Frage war aber, warum du oft ganz am Anfang ihrer Laufbahn Autoren eingeladen hast, von denen gar nicht absehbar war, daß sie einmal bekannt würden: Nicolas Born, Hubert Fichte und so weiter.
ASTEL: Weil mich ihre Literatur interessiert hat. Ich hatte etwas von ihnen zu lesen bekommen. Oder sie sind mir vor die Füße gelaufen. Das sind Zufälle. Und wenn du, wie ich, als Student eine Zeitschrift machst, die »Lyrische Hefte« heißt, gehst du nicht zu den bekannten Leuten, wenn dich selbst keiner kennt. Also habe ich gemacht, was ich aus meiner Umgebung kannte.
SCHOCK: Wann ist eine Sendung nach deiner Einschätzung schiefgegangen? Hast du dafür Kriterien?
ASTEL: Peinlich sind Sendungen, in denen du einem Autor ins linke Nasenloch einfädeln mußt, was du ihm aus dem rechten zu ziehen gedenkst. Also mit Autoren, die nicht von sich aus reden oder eingeschüchtert sind von dem Medium. Das Reden habe ich ja nicht beim Rundfunk gelernt, ich habe schon vorher immer geredet. Nur am Anfang habe ich mich dort nicht getraut, weil beim Rundfunk noch ganz andere Sitten herrschten. Das freie Reden mit ungeschnittenen Sendungen, in denen nicht jeder Versprecher getilgt wird, war unüblich. Ich habe das mitgemacht und gemerkt, daß das Ungeschnittene eigentlich das Interessante ist. Sozusagen die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden. Man weiß vorher nicht, was man sagen wird. Es sei denn, man hat einen Zettel.
SCHOCK: Was hältst du eigentlich von der Idee, daß du im Grunde ein Prediger bist, der sich Woche für Woche Autoren als austauschbare Adressaten seiner Predigten eingeladen hat?
ASTEL: Es ist mir sehr peinlich, aber das stimmt leider. Ich bin schon so eine Art Prediger ohne theologische Examina und deshalb nur nachmittags zugelassen. Ich predige gern. Ich teile auch gern mit, was ich von anderen gehört habe, und finde das nicht schlimm. Es geht ja ums Gespräch. Zu meinem siebzigsten Geburtstag hast du mit Michael Buselmeier ein Buch mit dem Titel »Seit ein Gespräch wir sind« herausgebracht. Das Motto stammt aus Hölderlins »Friedensfeier«: »Viel hat von morgen an / Seit ein Gespräch wir sind und hören voneinander / Erfahren der Mensch; bald sind wir aber Gesang.« Das klingt vielen Leuten sicher hochtrabend, aber es ist wichtig, im Gespräch zu sein. Und wenn wir tot sind, leben wir allenfalls in der Literatur oder in den Gesängen nach uns fort. In einem Brief an Böhlendorff schreibt Hölderlin: »Schreibe doch nur bald, ich brauche Deine reinen Töne. Die Psyche unter Freunden, das Entstehen des Gedankens im Gespräch und Brief, ist Künstlern nötig. Sonst haben wir keinen für uns selbst.« Den Gedanken für uns selbst haben wir erst, wenn wir ihn im Gespräch äußern. Diese Überlegung ist natürlich eine Utopie von Freundschaft, die meistens nicht eingelöst wird, aber einlösbar ist. Man kann sich unterhalten. Wir haben uns auch in der Kantine immer wunderbar unterhalten. Und ich erinnere mich an die Zeit, in der wir, weil wir es mit der Mittagspause nicht so genau genommen haben, dort ungeheure Tischgespräche geführt haben. Die hätte man auch senden können.
SCHOCK: Ich erfahre es manchmal als bedrückend, sogar peinigend, daß man als Literaturredakteur in einer Doppelfunktion agiert. Man ist mit den Autoren mehr oder weniger bekannt, befreundet, gelegentlich auch verfeindet. Wie bist du damit umgegangen, wenn du von befreundeten Autoren Manuskripte bekamst, die du nicht überzeugend fandest? Die Leute leben ja vom Schreiben und wollen im Winter nicht frieren. Ernst-Jürgen Dreyer, der 1980 für seinen Roman »Die Spaltung« den Hermann-Hesse-Preis bekam, überwies das ganze Geld seinem Zahnarzt, bei dem er Schulden hatte.
ASTEL: Es ist für einen Redakteur, der Gelder zu vergeben hat und Entscheidungen treffen kann, natürlich schwierig, unabhängig zu bleiben. Wichtig ist herauszukriegen, worin die Freundschaft besteht. Wenn Autoren bloß deshalb mit dir befreundet sind, weil du gelegentlich Sendungen mit ihnen machst, sind sie keine echten Freunde.
SCHOCK: Sind dir bestimmte Sendungen besonders in Erinnerung geblieben?
ASTEL: Ja, viele. Eine wunderbare Sendung war zum Beispiel die mit Wolfdietrich Schnurre. Warum war das Gespräch phantastisch? Weil der Mann phantastisch ist! Ich hatte ihm gesagt: Ich würde gerne eine Sendung mit Ihnen machen. Sie lesen, was Sie wollen, und ich will es vorher nicht mal wissen. Da hat er mich in der Sendung mit einem langen Text überrascht, »Der Mann mit dem Waldläufergang«. Es kam heraus, daß es ein Nachruf auf seinen Vater war, den er aber am Grab nicht lesen konnte, weil es ihn zu sehr ergriffen hat. Wolfdietrich Schnurre war nicht nur ein interessanter Schriftsteller, sondern auch eine interessante Person. Andere verschwinden ja hinter ihren Büchern und haben auch nichts dagegen, weil sie vielleicht merken, daß sie das Niveau ihrer Literatur nicht halten können. Aber es ist natürlich wunderbar, wenn da in der Qualität praktisch kein Unterschied mehr ist.
SCHOCK: Ein anderer Autor, dessen Sendung du zum Jubiläum des Saarländischen Rundfunks wiederholt hast, war Thaddäus Troll. Warum?
ASTEL: Ich hatte ihn nicht eingeladen, hörte aber, er sei gerade im Funkhaus. Da habe ich ihn einfach gefragt: Wir haben morgen ein Studio, hätten Sie nicht Lust, eine Sendung mit mir zu machen? Sie können lesen, was Sie wollen. Er las dann einen Nachruf auf sich selbst, der ungefähr so beginnt: »Heute nachmittag um drei wurde auf dem Steigfriedhof in Stuttgart Thaddäus Troll beerdigt. An seinem Grab spielte eine Jazzband ›New Orleans Function‹ von Satchmo, von Louis Armstrong.« Und es ging so weiter, er hat seine eigene Beerdigung geschildert. Bevor die Sendung ausgestrahlt wurde, hat er sich umgebracht. Er hatte wohl eine Krebsdiagnose. Im Gespräch war er sehr heiter. Er war einer von diesen Leuten, die oft als Humoristen verkannt werden. Daß jemand ohne zu lamentieren seinen eigenen Nachruf im Radio vorliest und sich dann umbringt – ich muß schon sagen: Das ist nicht von Pappe.
SCHOCK: Zum Schluß noch diese Frage: Du hast bei Vorgesprächen mit den Autoren zum Warmwerden oft übers Wetter geredet. Aber manchmal hast du auch ironisch gefragt: Haben Sie eine Botschaft an die Menschheit? Die hatten keine, aber du hattest immer eine.
ASTEL: Natürlich! Als Prediger.
SCHOCK: Hast du heute eine Botschaft an die Menschheit?
ASTEL: Bleibt, wie ihr seid, aber nicht ganz so schlimm. Das sage ich mir selber auch.
SINN UND FORM 5/2024, S. 697-700
Asturias, Blanca
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Asturias, Miguel Angel
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- 1/1966 | Aus den Phantasien des Pater Mateo Chimalpin
- 3/1973 | Juandel
- 1/1974 | Unser Amerika
At-Tikbali, Halifa
- 5/1971 | Die Hochzeitsnacht
Athanassiadis, Nikos
- 3/1967 | Angela
Atwood, Margaret
- 4/1985 | Verletzungen
Auden, Wystan Hugh
- 5/1965 | Aus der Budapester Pen-Diskussion über Tradition und Moderne
- 4/2003 | Die See und der Spiegel. Ein Kommentar zu Shakespeares »Der Sturm«
- 3/2019 | Geheimnisse. Gedichte
Auderska, Halina
- 2/1980 | Smaragdaugen
Auer, Annemarie
- 5-6/1958 | Weg und Ankunft. Zu den beiden letzten Versbänden Johannes R. Bechers
- 2/1964 | Ein kunstvolles Geschöpf seines Autors. Zum Gattungsproblem bei Ludwig Renn
- 4/1969 | Ein Genie und sein Sonderling - Elias Canetti und die Blendung
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- 3/1971 | Theorie als Erlebnis
- 6/1971 | Der freundliche Baron
- 2/1972 | [Zur Literaturkritik] Martin Reso, A. Endler und die Literaturwissenschaft; Wilhelm Girnus, Nachbemerkung der Redaktion; Redaktion Sinn und Form, Wilhelm Girnus, Erste Gedanken zu Problemen der Literaturkritik; Reinhard Weisbach, Im Zeichen der letzten Konsequenz; Fritz Mierau, Zwei ergiebige Vorschläge; Annemarie Auer, Einige weitere Konsequenzen
- 5/1976 | Trobadora unterwegs oder Schulung in Realismus
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- 6/1983 | Aus der Arbeit des Kritikers
- 1/1985 | Die Zakischen
Aufenanger, Jörg
- 6/2018 | Arthur Adamov oder der Blick ins Nichts
- 2/2020 | Französische Künstler in deutschen Kriegsgefangenenlagern. Braudel, Gracq, Messiaen, Brassens
- 1/2024 | Antonin Artaud in Berlin 1930 –32
Augé, Marc
- 5/2013 | Alter, Zeit und Gedächtnis
Ausländer, Rose
- 6/1988 | Gedichte und Prosa
Avasthi, Ramanath
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Avineri, Shlomo
- 1/1993 | Gedanken über Osteuropa
Awonor-Williams, George
- 2-3/1963 | Afrikanische Lyrik
Awwad, Taufik Jussuf
- 5/1971 | Der Kaffeeverkäufer
Axelsson, Linnea
- 3/2019 | Ædnan
Axioti, Melpo
- 4/1957 | Miconos