Background Image

Heftarchiv – Leseproben

Screenshot

[€ 11.00]  ISBN 978-3-943297-57-7

Printausgabe bestellen

[€ 8,00]

PDF-Ausgabe kaufenPDF-Download für Abonnenten

Sie haben noch kein digitales Abo abgeschlossen?
Mit einem digitalen Abo erhalten Sie Zugriff auf das PDF-Download-Archiv aller Ausgaben von 2019 bis heute.
Digital-Abo • 45 €/Jahr
Mit einem gültigen Print-Abo:
Digital-Zusatzabo • 10 €/Jahr

Leseprobe aus Heft 1/2021

Poschmann, Marion

Unterscheidungskunst. Ein Gespräch mit Yvonne Pauly über poetische Taxonomien


YVONNE PAULY: Seit Ihrem Debüt 2002 sind Sie als Romanautorin und Lyrikerin hervorgetreten und für Ihr Werk vielfach ausgezeichnet worden. Ich erwähne hier nur die Thomas-Kling-Poetik-Dozentur, für die Sie 2016 an Ihre Alma mater, die Universität Bonn, zurückkehrten. Die Antrittsvorlesung wurde unter dem Titel »Kunst der Unterscheidung« publiziert. Da ich 1989 / 90 ebenfalls in Bonn studierte, habe ich schon die ersten Sätze mit besonderem Interesse und nicht ohne Sentimentalität gelesen. Sie beschreiben Ihre beiden Bonner Jahre als ein Leben »mit gesenktem Kopf« und erinnern hauptsächlich »Pflastersteine und Randsteine, (…) das Licht in Unterführungen und (…) den Schotterweg der Poppelsdorfer Allee und die Wirtschaftswege zwischen den Kopfsalatfeldern in Lessenich, (…) die Waldwege im Kottenforst und wie sich all das unter den Fahrradreifen ausnahm«. Der Abschnitt mit der prosaischen Zwischenüberschrift »Straßenbelag« mündet in die Schilderung Ihrer Erweckung zur Dichterin. An besagtem Abend war es bereits dunkel, im Licht der Straßenlaternen schimmerte der Asphalt wie eine Wasserspiegelung. Sie brachten mitten auf der Straße Ihr Rad zum Stehen – und Ihr erstes Gedicht zu Papier. Dieses Gedicht, so schreiben Sie, »glich nichts anderem, was ich je gelesen hatte«. Ich würde gerne mehr über dieses erste Gedicht erfahren: Was zeichnete es aus? Wurde es veröffentlicht?

MARION POSCHMANN: Dieses erste Gedicht hat viel Interesse geweckt, seit ich es in meiner Vorlesung erwähnt habe, aber ich habe es nicht veröffentlicht und möchte das auch weiterhin nicht tun. Es war für mich inmitten der Texte, die ich bis dahin geschrieben hatte, etwas Besonderes, weil von ihm eine eigenständige Kraft ausging. Es gibt beim Schrei ben ja oft so etwas wie eine Keimzelle, einen Kristallisationspunkt, dieser bleibt im fertigen Text aber nicht immer im Vordergrund, manchmal verschwindet er auch wieder oder verwandelt sich so, daß man ihn als Schreibansatz nicht mehr erkennen kann. In dieser untergründigen Position möchte ich jenes erste Gedicht belassen. Friederike Mayröcker hat die Angewohnheit, an manchen ihrer Materialkisten einen Zettel mit dem Wort Tabu zu befestigen, das heißt, Unbefugte haben keinen Zugang. Und vielleicht hat selbst die Dichterin nicht immer das Recht, darauf zuzugreifen. Ich bin seit langem von Freuds Aufsatz »Das Tabu und die Ambivalenz der Gefühlsregungen« fasziniert, in dem es um diese Kraft geht, die einem Objekt zugeschrieben wird: Sie kann überwältigend sein, deshalb ist sie gefährlich, aber man möchte auf jeden Fall an ihr partizipieren. Kurz und gut, dieses sogenannte erste Gedicht möchte ich auf gar keinen Fall preisgeben.

PAULY: In der Folge geht es in der Bonner Poetik-Vorlesung um die Geschichte naturkundlicher Wissensordnungen. In der Biologie versteht man unter Taxonomie die Lehre von der Einordnung der Lebewesen in ein Schema hierarchischer Klassifikation. Die wissenschaftliche Nomenklatur als Grundlage dieses Ordnungssystems geht auf Carl von Linné zurück. Er versah Mineralien, Pflanzen und Tiere mit binären lateinischen Bezeichnungen, in denen ein Substantiv die Gattung und ein Adjektiv die Art angibt. Die Linnésche Taxonomie wurde nach und nach auf andere Wissensbereiche angewandt, so von Luke Howard, einem Zeitgenossen Goethes, auf die Wolken.

POSCHMANN: Das besondere Verdienst von Howard bestand darin, daß es ihm gelang, sich vom illustrativen Erscheinungsbild der Wolken zu lösen und das Augenmerk auch auf die Bedingungen ihrer Entstehung zu richten. Er sah nicht länger Schafe, Elefantenwolken oder Schwertfischwolken am Himmel, sondern er begriff, daß es sich bei Wolken um ein fluides System handelt, das nicht in Analogie zu festen Körpern zu denken ist, sondern aus Übergängen besteht. In einem Geniestreich übertrug er das Linnésche Taxonomiesystem auf die Wolkennamen. Es gibt einen Hauptnamen für die Grundform, also Cumulus (Haufenwolke), Stratus (Schichtwolke), Cirrus (Federwolke), Nimbus (Regenwolke), sowie Zwischenformen wie Cumulonimbus, die Gewitterwolke. Neben der Gattung kann die Art differenziert werden, etwa castellanus, floccus, nebulosus. Dieses System macht Ähnlichkeiten kenntlich, bezieht aber auch die Möglichkeit von Veränderung und deren Richtung mit ein. Wolkennamen sind temporär, dieselbe Wolke kann nach ein paar Stunden anders heißen. Ihr neuer Name ist aus dem ersten nicht ableitbar, aber es gibt Regeln ihrer Verwandlung, weil es nicht beliebig viele Veränderungsmöglichkeiten von einer Wolkenart zur anderen gibt.

PAULY: Eben jenes Bemühen um die Klassifikation von Übergängen, die Bannung des Fluiden, die Bestimmung des Unbestimmten macht das Geschäft des Naturforschers anschlußfähig für die Dichtung. Auf Grundlage der biologischen entwerfen Sie im Schlußteil der Vorlesung das Konzept einer poetischen Unterscheidungskunst.

POSCHMANN: Es handelt sich dabei um das Paradox, daß eine poetische Taxonomie klassifiziert, was sich nicht klassifizieren läßt. Worte ähneln insofern den Wolken, als ihre Bedeutung schwanken kann, sich verwandeln, sich auflösen. Auch die Gegenstände der Dichtung sind wolkenhaft, es sind immaterielle Größen wie Wahrnehmungseffekte, Gedanken und Gefühle, so daß der Dichter letztlich vor der Aufgabe steht, Wolken mit den Mitteln der Wolken zu bestimmen. Und wenn wir über Dichtung sprechen, verhält es sich ähnlich, man redet über einen ungreifbaren Text, der etwas Ungreifbares zur Grundlage hat. Jeder Dichter verfolgt dabei ein anderes Verfahren, beschreibend, konstruierend, montierend, assoziierend, evozierend, und daraus entsteht jeweils eine private Taxonomie, eine eigene Ordnung aus persönlichem Wortgebrauch, subjektivem Blick auf die Welt.

PAULY: Es liegt nahe, an dieser Stelle nach der Ordnung Ihres lyrischen Werks zu fragen: Wo differenzieren Sie besonders fein, wo weniger? Welches Netz werfen Sie über die Wirklichkeit, welche Sicht der Dinge wird in Ihren Gedichten offenbar? Vielleicht ist es sinnvoll, mit dem Leitkonzept der Taxonomie insofern Ernst zu machen, als wir uns an das hierarchische Schema halten und bei der Betrachtung Ihres Werks vom Großen zum Kleinen gehen, also bei der Makrostruktur ansetzen. Harald Hartung hat in der Besprechung Ihres zweiten Gedichtbands »Grund zu Schafen« 2004 darauf hingewiesen, »daß wir es mit einer Autorin zu tun haben, die methodisch arbeitet und in Serien denkt«. Das ist ein Grundzug Ihres lyrischen Werks, der Sie von anderen zeitgenössischen Dichtern unterscheidet.

POSCHMANN: Bei meinen Gedichtzyklen bzw. Gedichtgruppen, denn Zyklus impliziert für mich etwas Abgeschlossenes, das sich gerundet hat, während eine Gruppe offener ist und gegebenenfalls noch ergänzt werden kann, bei diesen Zyklen oder Gruppen also gibt es zunächst meist eine formale Ähnlichkeit. Ich arbeite mit ganz unterschiedlichen Formen, klassischen Metren, Oden, Sonetten, freien Versen, in einer Gedichtgruppe konzentriere ich mich in der Regel auf eine formale Herangehensweise. Bei den Madonnen im Zyklus »Barocke Serie« aus meinem Debütband »Verschlossene Kammern« sind das freie Verse, die indirekte Rede wird als Stilmittel eingesetzt und die Titel der einzelnen Gedichte nehmen ikonographische Bezeichnungen für bestimmte Bildtypen auf, die im Zusammenhang mit der Madonnendarstellung kanonisiert sind. Also etwas die Madonna im Rosenhag, mit dem Einhorn, die Mater Dolorosa oder die Schutzmantelmadonna. Ich fand das damals unter taxonomischen Gesichtspunkten interessant. Man stellt die Madonna dar, aber immer mit bestimmten Attributen, und zeigt damit eine Gestalt unter verschiedenen Aspekten, mit ganz unterschiedlichen Eigenschaften oder Zuschreibungen, was ja sofort die Frage aufwirft: Wo ist der gemeinsame Nenner? Ist das die Madonna in jeweils anderem Gewand, oder sind das doch verschiedene Figuren? Die Jungfrau, der Meerstern, die Gottesmutter. Was ist zum Beispiel eine Gottesmutter ohne Kind? In den Verkündigungsbildern ist gerade dieses Noch-Fehlen, die Leerstelle, die Offenheit entscheidend. Tatsächlich gibt es in der ikonographischen Tradition auffallend viele Bildtypen, die die Madonna ohne Kind zeigen. Etwa die »Madonna auf der Mondsichel«. Das wäre ein Titel zu einem Gedicht, das ich gern noch schreiben und das gut in diese Serie passen würde. Im nachhinein habe ich mich manchmal selbst gefragt, warum ich das nicht längst getan habe, aber wenn man eine Kategorie aufmacht, muß man sie mit etwas füllen, und mir kam es, wenn ich mich richtig erinnere, so vor, als sei mit dieser Überschrift alles gesagt. Dafür habe ich, und damit kommen wir zu den ersten Querverbindungen, in einem anderen Band das Gedicht »Königin der Nacht«. Aber für das Konzept der Serie sind die Titel entscheidend. Das habe ich auch in andern Fällen so gehandhabt, etwa im Band »Geliehene Landschaften«. Dort gibt es ein Kapitel mit der Überschrift »Bernsteinpark Kaliningrad«, und alle Gedichte tragen die Namen von Bernsteinvarietäten. Zum Beispiel »Knochen«, »Bunt«, »Flom«, »Antik«, »Schwarzfirnis«, »Kumst«, sehr evokative Titel, bei denen aber vermutlich die wenigsten wissen, welche Art Bernstein man sich darunter vorzustellen hat. Das gibt mir dann eine gewisse Füllungsfreiheit, während die Reihe der Titel schon fast ein eigenes Gedicht ergibt.

SINN UND FORM 1/2021, S. 73-85; hier S. 73-76

Das Gespräch wurde am 23. Juni 2020 im Rahmen einer Kooperation des Literaturhauses Berlin mit der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften ursprünglich online, als "Audio-Korrespondenz", publiziert und ist in dieser Form nach wie vor über die Mediatheken beider Einrichtungen zugänglich. Integraler Bestandteil dieser Fassung waren 13 Abbildungen taxonomischer Arrangements, die Yvonne Pauly nach dem Modell naturkundlicher Sammlungen zum lyrischen Œuvre Marions Poschmanns entworfen hatte; fünf dieser Bilder zeigen wir hier: