Leseprobe aus Heft 4/2017
Bürger, Peter
Die Leidenschaft des Denkens.
Annäherungen an Rudolf Borchardt
I
Rudolf Borchardt ist ein Unzeitgemäßer. Er ist uns fremd, weil er sich mit einer Emphase, die uns irritiert, als Deutscher versteht, als deutscher Dichter und Wissenschaftler, dem es aufgegeben ist, die Kultur der Goethezeit der Jugend als lebendiges Erbe zu übergeben. Er stößt uns ab durch die Schärfe seiner Urteile, den unverhohlenen Anspruch auf geistige Führerschaft, vor allem aber durch seinen Antimodernismus. Er ist uns suspekt, weil er politisch für das steht, was wir überwunden haben oder zumindest überwunden zu haben meinen: ein leidenschaftliches Nationalgefühl, den deutschen Sonderweg, die Ablehnung der westlichen Demokratie und den Traum, die deutsche Kultur sei bestimmt, die Welt zu retten.
Er zwingt uns eine Sicht der Moderne auf, gegen die wir uns mit allen Kräften wehren, auch wenn wir uns von einem undialektischen Fortschrittsbegriff längst verabschiedet haben: Moderne als Verfall.
Während Oswald Spengler Aufstieg und Verfall von Gesellschaften nach dem Modell des Lebens von Einzelindividuen denkt und dem Verfall sein Pathos nimmt, indem er ihn zu einer Naturgegebenheit macht, handelt Borchardt von einem tragischen Geschehen, das sich in einem einzigen Land, in Deutschland, ereignet hat. Für ihn hat die deutsche Kultur in der Epoche zwischen Lessing und Hegel einen Höhepunkt erreicht, der in keiner anderen europäischen Kultur eine Entsprechung hat: Sie war »die einzige humane seit dem Untergange der griechischen, und setzte (…) das griechische Phänomen zum ersten Male wieder direkt fort. In ihr wie in der griechischen, zum ersten Male wieder, lag Schöpfung, Sammlung, Forschung, Deutung, Einsicht, Gestaltung und Gesang auf eine noch heimlichere und einsamere Urmacht zurückgefordert und in ihr verinnigt: die menschliche Seele in ihrem Prozesse mit der Ewigkeit.« Die deutsche Kultur der Goethezeit, wie Borchardt sie sieht, ist die der menschlichen Seele, in ihr sind Poesie und Wissenschaft noch eine Einheit, und insofern versteht er sie als das letzte Bollwerk gegen die Trennungsprozesse der Moderne und die totale Säkularisierung der Welt. Das wiederholte »zum ersten Male« wirkt in dem Text wie eine Beschwörungsformel, die die Möglichkeit einer Wiederaufnahme sichern soll. Die geschichtliche Fehlentwicklung, die sich in Deutschland ereignet hat, aber die Welt betrifft, sieht Borchardt dadurch ausgelöst, daß die Kultur der Goethezeit, die in die Tiefe des Volkes hätte hineinwirken müssen, nach 1830 von den »Epigonen« nur archivalisch bewahrt wurde, dadurch aber ihre Kraft verlor, während gleichzeitig die demokratische Kultur der westlichen Nachbarn auf Deutschland eindrang (Heine und das Junge Deutschland) und die Kräfte der klassisch-romantischen Epoche zersetzte. Wo wir die Anfänge einer modernen Literatur in Deutschland zu sehen gewohnt sind, kann Borchardt nur Verfall erkennen, der philosophisch im Positivismus und literarisch im Naturalismus kulminiert. Ihren Grund hat für ihn die kulturelle Katastrophe der deutschen Kultur darin, daß »Deutschland von der Jahrhundertmitte an im Konflikte zwischen der Vollendung seiner kaum begonnenen Bildung und der Vollziehung seiner politischen Einung seine geistige und seine politische Form gleichzeitig zertrümmert und den Gehalt von beiden preisgibt«. Die auf eine Vereinigung der deutschen Länder hindrängende gesellschaftliche und politische Entwicklung hat Borchardt zufolge »die kaum begonnene Bildung«, d. h. die Ausbreitung der Kultur der Goethezeit in die unteren Volksschichten, unterbrochen, wodurch das Land nicht nur seine »geistige Form«, d. h. eine lebendige Kultur, verloren habe, sondern auch die Chance einer aus dieser hervorgehenden »politischen Form«. Im Eranos-Brief zum fünfzigsten Geburtstag von Hugo von Hofmannsthal wird Borchardt den Gedanken auf die Kurzformel bringen, daß der »Einungskampf die Bildung bei uns brach«. Nietzsche hat das ähnlich gesehen. Für ihn besteht die Katastrophe der Einigung darin, daß der militärische Sieg über Frankreich als kultureller verstanden wird, was er nicht war. Aus dieser geschichtsphilosophischen Kritik des Einigungsprozesses leitet Borchardt auch seine Verurteilung der Gegenwart ab.
Als Träger des Widerstands gegen die kulturelle Leere der Zeit sieht Borchardt nur zwei Gestalten: George und Hofmannsthal. Der »triumphierenden Anarchie« stellt er sie in seiner »Rede über Hofmannsthal« als »ihre großen Richter« entgegen. Seine Vorliebe gilt dabei nicht George, dem »machthungrigen keltischen Gewaltmenschen, der sich die Seelen zurechtwarf wie das Tier die gelähmte Beute«, sondern Hofmannsthal, dem »zarten und zähen Halbitaliener, der den heiligen Kern einer eigentümlichen Welt zu verteidigen hatte«.
Es wäre zu einfach, Borchardts Geschichtskonstruktion und die Sonderstellung, die er der deutschen Kultur der klassisch-romantischen Epoche einräumt, als Ausfluß eines übersteigerten Nationalbewußtseins abzutun – und zwar aus mindestens zwei Gründen. Zum einen ist sein leidenschaftliches Eintreten für die deutsche Kultur immer wieder auf Europa hin geöffnet. Zum andern muß man ein Gespür dafür entwickeln, wieviel Trauer in Borchardts Geste des bedingungslosen Engagements für eine hoffnungslos verlorene Sache mitschwingt. Denn diese stellt ja eine ins Tragische gewendete Version des Traums von einer einzig durch den Geist bestimmten gesellschaftlichen Ordnung dar. Darüber hinaus wird man zumindest die Frage stellen müssen, ob der Sonderstellung, die er der Kultur der Goethezeit einräumt, nicht insofern ein Wahrheitsmoment zukommt, als damit tatsächlich eine Besonderheit dieser Kultur beleuchtet wird, die keine Entsprechung z. B. in der französischen hat. Der Gedanke, daß erst eine voll entwickelte Bildung die Voraussetzung für das Gelingen einer politischen Ordnung ist, in der die Subjekte selbstbestimmte freie Individuen wären, nicht Untertanen, liegt Schillers »Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen« zugrunde. Damit erhebt aber die zwischen Jena und Weimar entstandene Kultur den Anspruch, die geistige Basis einer erst zu schaffenden gesellschaftlichen Ordnung zu sein, während die französische Kultur, gerade weil sie »eingebürgert« ist, dieses utopischen Stachels entbehrt. Das »innere Reich« der deutschen Kultur (Robert Minder) wollte das äußere gestalten. Diesen Impuls nimmt Borchardt auf und trauert dessen Nicht-Verwirklichung nach. Einem ähnlichen Gedanken folgt er in seinen Pisa-Aufsätzen, wo er aus der überdimensionalen Anlage von Kathedrale, Baptisterium und Campo santo außerhalb der Stadt die grandiose Vorstellung ableitet, Pisa habe sich als die italienische Hauptstadt einer Fortsetzung des Stauferreichs entworfen, bevor es von dem rivalisierenden Florenz unterworfen wurde.
Nun gibt es freilich noch eine andere Quelle für Borchardts harsche Moderne-Kritik: das altsprachliche Gymnasium. Uneingeschränktes Lob spendet er diesen Anstalten vor allem dafür, daß sie »das sich erst bildende Seelen- und Gemüthafte mit aller Beziehung auf Gegenwart und Zeit« verschonten. Trotzdem darf man nicht annehmen, sein Antimodernismus sei bloß eine aus der Schule mitgeschleppte Einstellung. Es empört ihn, daß eine falsche Umwertung aller Werte stattgefunden hat, daß das, was ihm als nichtig gilt, über »die Kräfte der Vergangenheit« gesiegt hat und sich seines Erfolgs brüstet. Da er eine kausalgenetische Erklärung ablehnt, kann er diese »Revolution ohne Revolution« nur aus der »lautlosen Katastrophe im Tiefenmeere des nationalen Genius« erklären.
Daß er mit seinem Kampf gegen die Moderne bereits mitten in der Gegenwart steht, scheint er lange nicht zu bemerken. Da fällt ihm beim Durchstöbern der Bonner Universitätsbibliothek eine kleine Schrift Herders in die Hände, die seinem orientierungslosen Studieren plötzlich eine Richtung gibt: »Das Volk, dessen Teil ich war, besaß also seine eigene größte Vergangenheit nicht mehr«. Damit hat er sein Thema gefunden. »Nicht das Paradies allein mußte wieder erlebt werden, sondern die Wiederentdeckung des Paradieses. Jenes war eben nur vergessen worden, diese war verwirkt.« Durch die triumphierende Moderne hatten die Deutschen den Anspruch auf eine Wiederentdeckung der Kultur der Goethezeit verloren. »Das verwirkte mußte im persönlichen Handelns- und Leidenswege der arbeitenden Seele einvergütet, gesühnt und verziehen werden«. Durch eigene Schuld war den Deutschen nicht nur ihre Kultur verlorengegangen, sondern auch der Anspruch, diese wiederzuentdecken. Nicht durch positivistische Forschung war er wiederzugewinnen, sondern nur dadurch, daß der einzelne den Verlust noch einmal als Leidensgeschichte für sich durchlebte und dadurch wiedergutmachte (»einvergütete«) und sühnte – darauf hoffend, daß ihm verziehen werde (wer auch immer der Adressat dieses Verlangens nach Verzeihung sein mochte).
(…)
SINN UND FORM 4/2017, S. 458-466, hier S. 458-461