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Heftarchiv – Leseproben

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[€ 9.00]  ISBN 978-3-943297-20-1

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Leseprobe aus Heft 6/2014

Legro, Michelle

Eine Reise nach Japan in sechzehn Minuten. Sadakichi Hartmann und sein Kunstwerk der Düfte


Ezra Pound, Dichter im Exil, geistig verwirrter Faschist und unverdrossener Träumer, befand sich in der produktiven Phase eines Nervenzusammenbruchs, als er 1945 wegen Hochverrats verhaftet und in einem amerikanischen Lager nördlich von Pisa interniert wurde. Fast den ganzen Tag über in einen Käfig von zwei mal zwei Metern gesperrt – das von der Hitze ausgedörrte Gras hatte er im ruhelosen Auf- und Abgehen niedergetreten –, wurde Pound nach einem psychiatrischen Gutachten in ein Offizierszelt verlegt und begann das Pisa- Kapitel seiner »Cantos« zu schreiben, ein episches Gedicht über Leben und Leiden der Boheme, über politische Fehlschläge und odysseisches Suchen. Der Canto birgt eine lange Liste von Menschen, die er in seiner Jugend in New York City gekannt und bewundert hatte, Künstler wie er, die im Krieg einen Großteil ihres Verstandes verloren, aber irgendwie überlebt hatten, nur um zu erfahren, daß ihre Kunst vor ihnen gestorben war. Er nannte diese Leute »die verlorene Legion«, ihr Schutzheiliger war ein Schriftsteller, den er vor Jahren aus den Augen verloren hatte. Im Canto 80 schrieb er:

Und wegen der Verschrobenheiten unseres Freundes Mr. Hartmann,
Sadakichi, ein paar mehr von dem Schlag,
Wenn so was auszudenken wär, hätten das Leben
Manhattans bereichert
Oder jeder andren Stadt und Metropole
Seine frühen Sachen sind wahrscheinlich verloren
Mitsamt den kurzlebigen Zeitschriften

Pound war von seinem großen Werk besessen und verwarf eine Version nach der anderen. Im Canto, der auch die Erinnerung an Sadakichi enthält, gestand er etwas ein, das alle Künstler verfolgt: »Schönheit ist schwer.«
Ungefähr zeitgleich mit Pounds Gefangenschaft wartete der Kritiker und Dichter Sadakichi Hartmann völlig verarmt und depressiv in seinem eigenen inoffiziellen Internierungslager im Reservat der Morongo-Indianer im kalifornischen Banning auf das Ende des Krieges. Sein kleines, schindelgedecktes, verstaubtes Haus stand auf halbem Wege zwischen Los Angeles und Palm Springs, wo Filmstars auf dem Freeway vorbeifuhren, um ein kurzes Wochenende unter dem Sonnenschirm zu verbringen und dann, nach Chlor riechend, zu den Dreharbeiten zurückzukehren. Sadakichi war sechzig, und man konnte kaum noch den gutaussehenden jungen Mann erahnen, der er einst gewesen war, Liebling der Kritiker in Greenwich Village, Geistesverwandter Ezra Pounds, der von ihm entzückt war, als sie einander Anfang des Jahrhunderts zu schreiben begannen. Sadakichi verbrachte seinen Lebensabend alkoholabhängig und kränklich im selbstauferlegten Exil, zunächst abseits von den Freunden in New York, dann von denen in Los Angeles. Er hatte es sich mit fast allen Bekannten verdorben. Sein Trinkkumpan, der Schauspieler John Barrymore, bezeichnete ihn als »eine lebende Mißgeburt ... gezeugt von Mephistopheles mit Madame Butterfly«. Am äußersten Rand seiner Wahlheimat Amerika war Sadakichi nur einen Ozean weit von der Vollendung seines Lebenskreises entfernt. Die Lichter seines Geburtslandes Japan meinte man jenseits des Pacific Coast Highway fast blinken zu sehen. Er hatte nur einmal dorthin zu reisen versucht, vierzig Jahre zuvor, bei einem der verhängnisvollsten und demütigendsten Auftritte seines Lebens. Jahrelang ging ihm ein Duft nicht aus dem Sinn – eher die Idee eines Duftes, ein leiser Hauch, der sich in der kühlen Nachtluft verflüchtigt. Dieser ließ Kontinente zusammenschmelzen und erlaubte ihm, wie ein über Eis schlitternder Schädel unermeßliche Ozeane zu überqueren. Er nannte diesen Duft sein »Parfümkonzert«, die reinste ästhetische Erfahrung in seinem der Ästhetik gewidmeten Leben. Und dieser Duft trug ihn nach Hause.
Wenn Schönheit schwer war, dann wollte Sadakichi Hartmann wahrhaftig sein ganzes Leben der Schönheit widmen und in ihrer Schwierigkeit schwelgen. Carl Sadakichi Hartmann, Sohn eines Hamburgers und einer Bewohnerin Nagasakis, kam um 1867 auf der kleinen Insel Dejima zur Welt, dem einzigen Ort in Nagasaki, wo Ausländer willkommen waren. Bis zur Meiji-Restauration war Japan fast gänzlich für westliche Besucher gesperrt. Frauen aus dem Kaufmannsstand durften auf der Insel arbeiten. Einige erhielten Stellungen bei ausländischen Beamten, zunächst als Dienerinnen, später oft als Geliebte. Eine dieser Frauen war Sadakichis Mutter Osada, die den deutschen Beamten Oscar Hartmann heiratete und bald darauf zwei Söhne gebar. Sie starb vor seinem ersten Geburtstag. Der Junge war von der Vorstellung dieser Unbekannten besessen, er erfand fantastische Geschichten über sie, behauptete, sie habe wegen ihrer Ehe mit einem Ausländer nicht in Nagasaki bestattet werden dürfen und ihre Leiche habe zur Einäscherung fast tausend Kilometer weit nach Kobe überführt werden müssen. Das traf wahrscheinlich nicht zu. 1868 waren Verbrennungen in Japan noch unüblich, und der Transport einer Leiche über eine solche Entfernung wäre fast unmöglich gewesen. Osada wurde vermutlich dort beerdigt, wo sie verstorben war. Nach dem Tod seiner Frau hielt Oscar Hartmann nichts mehr in Nagasaki, und er beschloß, seine zwei Söhne in Deutschland aufzuziehen. Sadakichi verließ Japan im Alter von vier Jahren und kehrte nie zurück.
Als »Madame Butterfly« als Kurzgeschichte im »Century Magazine« erschien, war er dreißig und hatte länger in Amerika gelebt als in jedem anderen Land. Die Geschichte von John Luther Long basierte auf dem Roman »Madame Chrysanthème« von Pierre Loti, der wiederum auf Geschehnissen beruhte, die sich unter Marineoffizieren in Nagasaki ereignet haben sollen. Puccinis Oper wurde erst 1906 in New York uraufgeführt. Inzwischen waren die Hauptfiguren schon fast Mythen, gleichsam Adam und Eva des Japonismus. In der Geschichte entscheidet Leutnant Benjamin Franklin Pinkerton – ein Name wie eine harte Kante am Rande einer sanften Farbe –, während seines Aufenthalts in Japan eine Einheimische zur Frau zu nehmen, ehe er mit einer Amerikanerin einen Hausstand gründet. »Ist’s ein liebliches Mädchen?«, fragt ein Freund Pinkerton in der deutschen Übersetzung von Puccinis Libretto. »’S ist wie ein Sträußel von frischen Blumen«, lautet die Antwort. »Wie ein Sternlein mit gold’nen Strahlen. / Und so billig: Nur hundert Yen!« Pinkertons japanische Frau ist mehr Schatten als Materie: Sie ist ein Duft, der Windhauch eines Schmetterlingsflügels. Ihre Ehe ist eine auf Zeit. Seine richtige Frau soll Amerikanerin sein, eine Frau aus Fleisch und Blut, und erst mit ihr wird sein wahres Leben beginnen. Zu diesem klugen Plan sagt er: »Beugt’s ihn auch nieder / Rafft er empor sich wieder, / Fügt nach dem Sinne / Die halbe Welt sich.«
Sadakichi bezeichnete sich oft als Sohn der Madame Butterfly, als Unschuldigen, als machtloses Opfer einer Tragödie. (Offensichtlich war John Barrymore dieses Vergleichs überdrüssig geworden, als er Sadakichi eine »lebende Mißgeburt« nannte.) Doch wenn Sadakichi mit seinem unruhigen Leben überhaupt jemandem in der Geschichte ähnelte, dann dem teuflischen, pragmatischen Pinkerton, der nach Whisky riecht und von seinem japanischen Trugbild berauscht ist. Er betritt unsere Bühne mit der Behauptung, man müsse sich die Liebe dieser Welt nur nehmen; er trinkt auf seine amerikanische Zukunft. Als Zwölfjähriger erreichte Sadakichi Hartmann 1882 Amerika. Von seinem Hamburger Vater verstoßen, hatte er sich eingeschifft, um bei seinem Großonkel in Philadelphia zu wohnen. Er sprach mit einem starken Akzent, den eine Zeitung später als »halb deutsch, halb undefinierbar« beschrieb. Er war in allem, was er tat, durch und durch deutsch, sarkastisch und ernsthaft, den Kopf ständig wie unter einer kleinen Regenwolke geduckt. Und doch begrüßten ihn Freunde wie Fremde stets freudig wie jemanden, der soeben aus dem Fernen Osten kam. Als neugieriger Autodidakt tat er seinen ersten Schritt zum Aufbau eines einflußreichen Freundeskreises, indem er unangekündigt an die Tür des Dichters klopfte, der auf der anderen Seite des Flusses in Camden, New Jersey, wohnte: »Ich möchte gern mit Walt Whitman sprechen.« Der Dichter – mit langem, grauem Bart und offenem, wallendem Hemd, unter dem seine nackte Brust zu sehen war – begrüßte ihn: »Der bin ich. Und du bist ein Japanerjunge, nicht wahr?« Mochte die Literatur als Eintrittskarte in diese neuartige Gesellschaft dienen, so war Walt Whitman die Amtssprache, und in seinem Hause begann der schlaksige sechzehnjährige deutsche Japanerjunge mit dunklem Anzug und Kneifer seine amerikanische Pilgerfahrt ins dunkle Herz der Boheme. Whitman briet dem jungen Mann ein Ei, beim Frühstück sprachen sie über die Schauspielerei, über Theater, über Shakespeare (Sadakichi meinte, er sei »zu groß gewachsen«, um einen seiner Narren zu spielen), darüber, was es hieß, Amerikaner zu sein, über Japan und die »herrliche Bucht von Nagasaki«, obwohl Sadakichi zugab, sich nicht an viel zu erinnern. Whitman stimmte zu, sie müsse herrlich sein. Er schickte den Jungen mit den Korrekturfahnen eines seiner Gedichte heim und forderte ihn auf, bald wiederzukommen. Als Sadakichi zur Fähre von Camden lief, hielt er folgende Worte in seinen Händen:

Schließlich nicht nur erschaffen, nicht nur gründen,
Sondern aus den Fernen bringen, was bereits erschaffen ist,
Um ihm unsere eigene Identität zu verleihen, durchschnittlich, grenzenlos, frei
Um die träge Fracht mit lebhaftem religiösem Feuer zu füllen,
Nicht abwehren oder zerstören, vielmehr annehmen, verschmelzen, wieder in Ehren setzen,
Ebenso gehorchen wie befehlen, eher folgen als leiten –
Auch dies sind die Lehren unserer Neuen Welt;
Indes, wie gering die Neue schließlich, wie groß die Alte, Alte Welt!

Eine neuartige intellektuelle Einwanderungswelle hatte um die Jahrhundertwende dazu beigetragen, die billigen Mietwohnungen, Nachtcafés und leeren Schaufenster New Yorks zu füllen; eben angekommene russische Juden, Deutsche und Iren zählten ebenso dazu wie gelangweilte Hausfrauen aus Maine und Collegeabsolventen aus Iowa. Es gab eine spezielle Form der Einführung ins Leben der New Yorker Boheme, die sich von der in der Fifth Avenue wohnenden mittels Visitenkarte unterschied: ein unter den Arm geklemmtes Buch, ein für einen Freund abgeschriebenes Gedicht. Die gemeinsame Begeisterung für Tolstoi konnte einem auf einer Gewerkschaftsversammlung die Bekanntschaft mit einem Russen einbringen, ein paar Zeilen Shelley vermochten das Herz eines hartgesottenen Anarchisten zu erweichen.
Doch eigentlich schien die gemeinsame Liebe zu dem Mann, der »Vielheiten enthielt«, zu dem Proto-Bohemekünstler Walt Whitman das Treibhaus zu sein, in dem all diese blühenden Persönlichkeiten gediehen. Indem Sadakichi Whitman vor allen anderen aufsuchte, positionierte er sich geschickt sowohl als Leser als auch als jemand, von dem man lesen sollte. Er meinte, in das Pantheon von Whitmans Gesichtern in »Grashalme« zu gehören ("Das reine, ungewöhnliche, sehnsuchtsvolle, fragende Gesicht des Künstlers«). Sadakichi verfügte über einen reichen Schatz an Charaktermasken, die er sein ganzes Leben hindurch, bis zu allerletzt, wie zu einem Maskenumzug auf- und absetzte ("Das häßliche Gesicht einer schönen Seele, das hübsche, verabscheute oder geschmähte Gesicht«).
An Arbeit oder besser gesagt einer Anstellung war Hartmann nicht sonderlich interessiert. Nachdem er nach Paris gereist war und den symbolistischen Dichter Stéphane Mallarmé kennengelernt hatte (sowie als Mitarbeiter einer Zeitschrift rausgeflogen war), veröffentlichte er mit dreiundzwanzig »Christus: Ein dramatisches Gedicht in drei Akten«, das »Publishers’ Weekly« als »sinnliches und fast blasphemisches Drama« bezeichnete. Das Stück wurde umgehend verboten und von der Neuenglischen Gesellschaft zur Bekämpfung des Lasters sogar öffentlich verbrannt. Sadakichi wurde verhaftet und verbrachte Weihnachten im Gefängnis. Mit Mitte zwanzig verlor er seinen Job bei dem Architekten Stanford White, nachdem er diesem gesagt hatte, seine Gebäude könnten »nur Tauben verbessern«. Er schlug sich mehr schlecht als recht durch, indem er jede Woche zwei Kolumnen für die deutschsprachige »New Yorker Staats-Zeitung« schrieb, die drittgrößte Tageszeitung der Stadt. Er schrieb über Schauspieler, Landstreicher und Maler – Leute aus der künstlerischen und sozialen Randzone des New Yorker Lebens. (Schriftsteller landeten in der sozialen Schichtung irgendwie immer obenauf.) Seine Kolumnen unterschrieb er stets mit Pseudonymen: Caliban, Hogarth, Chrysantheme; der Rohling, der Satiriker, das Sinnbild Japans. Manchmal verärgerten seine Texte die Freunde, einschließlich seines Mentors Whitman, doch er setzte sich auch für neue Künstler wie Thomas Eakins und Alfred Stieglitz ein. Sadakichi machte als Dichterfürst einer kleinen Schar Intellektueller in Greenwich Village eine sagenhafte Karriere. In einem Artikel von 1916 bezeichnete man ihn als »die bizarrste Gestalt unter den amerikanischen Gelehrten (...) Er ist Baudelaire, Gérard de Nerval, Verlaine (...) er ist Dichter, Künstler, Autor, Kritiker, Dozent und Berufsästhet«. Er war noch ein Flaneur, als die Zeit der Flaneure längst vorüber war, und die meisten Menschen wußten nicht recht, was sie von ihm halten sollten. Freundschaften pflegte er mit Leidenschaft, bis zum Bruch. Er platzte in das Leben anderer hinein und verschwand schnell wieder – ein stürmischer, unvergeßlicher Charakter. Er verlor seine Freunde, wie er sie gewann, folgte aber damit bloß dem Lebensrhythmus der New Yorker Boheme. Der Herausgeber und Kritiker Max Eastman schrieb in seiner Rezension eines Romans aus dem Milieu russischer Juden: »Sie brennen lichterloh (...) Ihre Natur genügt sich selbst. Sie leben und sind Quell des Lebens.«
Alle, die dieses moderne Leben führten, waren auf der Suche nach einer Lebensform, einem Vorbild, nach dem man leben konnte, einer Maxime, für die es sich zu leben lohnte. Diese »Geschöpfe der Selbstverstärkung« beneideten einander um ihre Energien, schreibt die Historikerin Christine Stansell in ihrem Buch »Amerikanische Modernisten: Das New York der Boheme und die Erschaffung eines neuen Jahrhunderts«. Es genügte nicht, Kunst zu schaffen. Die Künstler hatten ein Leben ständiger Inspiration zu führen, für sich selbst und ihre Freunde, und waren in einem endlosen Kreislauf des Lesens, Schreibens und Publizierens miteinander verbunden. Den Bewohnern von Greenwich Village war das Wort ihr täglich Brot: Es war Berufung und Beschwörung. Das geschriebene Wort war das Medium der Veränderung, der Kriegsruf für Feministinnen, Kommunisten und Anarchisten – andere Kunstformen waren überflüssig. Sadakichi hatte mehr mit dem dekadenten Helden aus Joris-Karl Huysmans’ 1884 veröffentlichtem Roman »Gegen den Strich« gemein, ein Werk über einen Dilettanten, der meditatives Nichtstun zur Kunstform erhebt. Dieser träumt hinter den bedrückenden Mauern seines Landsitzes davon, die Zimmerdecken verschiedenartig zu gestalten oder seine Schildkröte mit Juwelen zu verzieren. Ohne Bindung an Familie, Nation, Glaube oder Bräuche, wollte auch Hartmann die Welt langweiliger Alltäglichkeiten in seinem eigenen, verträumten – wenn auch etwas pingelig eingerichteten – Winkel hinter sich lassen. In seinen Kritiken schrieb er über die Schönheit, die Lyrik, interessierte sich für Teetassen und Vasen, für Schauspieler und ihre Schminke, für mit Schweiß vermischte süße Düfte.
Das wesentliche Merkmal der Boheme war die Unzufriedenheit, der Wahn, alle anderen lebten »wirklich«. Ezra Pound schrieb: »Wäre man nicht man selbst, hätte es sich gelohnt, Sadakichi zu sein.« Einige seiner Freunde beschuldigten Sadakichi, er ziehe bewußt Vorteil aus ihrem Erfolg, andere wiederum sahen in ihm einen zutiefst neugierigen Menschen, nach außen hin zwar arrogant, im Grunde aber doch bescheiden. Wenn Freunde und Bekannte von ihm sprachen, klang es zuweilen wie ein Nachruf: »Sadakichi ist ein toter Autor«, schrieb ein Freund, »doch nur seine Kunst ist ›bestattet worden‹, während er noch höchst lebendig ist – zumindest zeitweise«. Fast sein ganzes Leben lang perfektionierte Sadakichi sein seltsames Talent, schon in die Geschichte einzugehen, obwohl er noch gar nicht tot war: »Eine der am meisten übergangenen Gestalten unter den amerikanischen Künstlern und Gelehrten.« In fast allem, was er tat, brachte er es zur Vollkommenheit, außer in dem einen, worauf es wirklich ankam – Kunst zu schaffen, die ihn überlebte. Obwohl sich viele junge Männer bemühten, Whitman als Mentor zu gewinnen, sah dieser gerade im neunzehnjährigen Sadakichi etwas Besonderes: »Ich setze mehr Hoffnung in ihn, habe mehr Vertrauen in ihn als in jeden anderen dieser Jungen. Sie alle scheinen ihn für einen Schwindler oder zumindest einen Effekthascher oder Abenteurer zu halten. Ich sehe das anders. Ich erwarte Gutes von ihm – ganz besonders Gutes ...« Whitman hatte Hartmanns Sicht darauf beeinflußt, wie ein Künstler durchs Leben zu gehen habe: Er sollte den Risiken des Lebens offenen Herzens entgegensehen. Daher auch das furchtbare Schicksal der Mitglieder von Pounds verlorener Legion: »Sie starben eben / Sie starben, weil sie’s eben nicht aushielten.«
Im Herbst 1902, als Sadakichi etwa fünfunddreißig war, kündigten die Zeitungen an, der exzentrische Kunstkritiker Mr. Sadakichi Hartmann werde in wenigen Monaten eine kurze Vorstellung mit dem Titel »Eine Reise nach Japan in sechzehn Minuten« präsentieren. Das Stück wurde als eine »Melodie in Düften« beschrieben.
Um die Jahrhundertwende experimentierte man hektisch mit den menschlichen Sinnen. 1895 wurde die Farborgel patentiert, ein Instrument mit farbigen Flächen, die sich parallel zur Musik veränderten und aufleuchteten. Wenige Jahre später sollte eine der ersten elektrischen Orgeln, das Telharmonium, in einem eigens dafür errichteten Konzertsaal in New York erstmalig präsentiert werden. Man hatte die Musik mechanisiert, gespeichert und durch Drähte geschickt – es gab keinen Grund anzunehmen, daß sie nicht auch in parfümierte Luft umgesetzt werden könnte. Doch niemand hatte je von einem Parfümkonzert gehört. Das war eine so verstiegene Erfindung, daß sich die Zeitungsschreiber vor Aufregung mit Tinte naß machten und doch in der zweiten Spalte schon wieder Gleichgültigkeit demonstrierten. »Alle Liebhaber guter Gerüche sollten das Konzert besuchen«, begann ein Feuilleton. Doch »könnte es sein, daß der Geruchssinn des New Yorker Publikums allmählich abstumpft und immer schärfere Gerüche benötigt«. Man schlug Mr. Hartmann vor, einen Ausflug zu Brooklyns Gowanuskanal zu unternehmen.
Sadakichi war kein Chemiker. Er wußte wenig über die Erzeugung von Gerüchen, nur über den Eindruck, den sie in seinen Träumen hinterließen. »Der Geruchssinn ist der emotionalste aller menschlichen Sinne«, schrieb er. »Rascher als jeder andere ruft er emotionale und intellektuelle Assoziationen hervor ...«. In den Monaten der Planung war Sadakichi in bezug auf die Vorstellung ungewöhnlich verschwiegen. Er hatte das Theater gebucht und ein paar Freunden davon erzählt, die ihm halfen, die Intensität der Düfte zu prüfen, die er einsetzen wollte. Das regte die Phantasie der Öffentlichkeit an: Würde es mit Rosen vollgestopfte Violinen geben, mit zwei brüchigen Zimtstangen geschlagene Rhythmen? Wie würde die Musik riechen, oder besser gesagt, wie würden die Gerüche klingen?
Der letzte Abend im November 1902 war ungemütlich und kalt – am nächsten Tag sollte es einen Schneesturm geben. Das Parfümkonzert war der Höhepunkt einer zwanglosen Sonntagabend-Show, die in dem riesigen Unterhaltungskomplex »New York Theatre« am Broadway zwischen der vierundvierzigsten und fünfundvierzigsten Straße stattfand. Es war ein außergewöhnlicher Vergnügungspalast mit Varieté, Dachgarten, Bowlingbahn, Türkischem Bad und zwei Theatern. Das Programm des Abends war nicht eben bemerkenswert: eine Ragtime-Kapelle, gefolgt von zwei schwarzgeschminkten Varietésängern. Nur der letzte Programmpunkt des Abends versprach etwas aufregend Neues: »Eine Reise nach Japan in sechzehn Minuten«, aufgeführt von einem Mr. Hartmann mit Unterstützung zweier »Geishas«.
Als dieser auf die leere Bühne schlurfte, hinter sich zwei stark gepuderte Frauen, hatte er noch das lange, schmale Gesicht seiner Jugend mit dem ausdrucksstarken, breiten Mund. Doch verrieten seine Züge jetzt etwas Endgültiges, wie bei einem ehemaligen Kabuki-Darsteller, der noch immer mit seinem Make-up verheiratet ist. Mit seinen offenkundig japanischen Zügen und dem blütenweißen Hemd, an dem sein Erkennungszeichen, eine riesige gelbe Chrysantheme, steckte, wirkte er nervös und verlegen. Auch seine beiden Geisha- Assistentinnen schienen sich unbehaglich zu fühlen. Als es im Saal ruhig wurde, räusperte sich Sadakichi und begann in seinem gebrochenen Englisch mit deutschem Akzent zu sprechen. Er erklärte, er wolle das Publikum auf eine Reise von einigen tausend Meilen mitnehmen. »Und«, sagte er, »als Transportmittel ins Märchenland werden uns Düfte dienen. Cook hat niemals mehr Passagiere mit weniger Gepäck befördert.«
Das Publikum hatte ein Instrument erwartet, das gleichzeitig Orchester und Ozeandampfer war. Etwas Großes, Elektrisches, Goldglänzendes, mit Schiffsglocken und Pfeifen, winzigen Schaltern und einem Mahagonisitz, auf dem dieser Mann hocken und mit Elfenbeinknöpfen hantieren würde, bis jeder sein Duftkonzert riechen könnte und über Land und See zu den Lavendelfeldern Frankreichs getragen würde, zu den Küsten des Ägäischen Meers und weiter. Doch kein solches Orchester war auf der Bühne zu sehen, kein einziges Instrument; dort standen nur zwei Mädchen mit dickem Make-up in Kimonos neben zwei Ventilatoren und zwei Kisten mit parfümgetränkten Laken.
»Der erste Duft ist der von Rosen, der uns umgibt, wenn der Dampfer vom Kai ablegt.« Er gab den Geishas ein Zeichen, die das Laken vor den Ventilator hielten, als wäre es eine Vorstellung mit der Laterna magica. Aus dem Orchester ertönte ein weiches Hornsignal, um deutlich zu machen, daß man sich auf einem Dampfer befand. Innerhalb einer Minute füllte sich der Zuschauerraum unbestreitbar mit Rosenduft, der den typischen »Raucherabteil-Geruch« des Theaters überdeckte und den Mief der Kleider auf den billigen Rängen neutralisierte. Die Vorstellung folgte der Logik, daß der Geruch bestimmte Erinnerungen wachrufen würde, ganz ähnlich, wie das Sadakichis Meinung nach die Musik vermochte. »Jeder hat schon einmal erlebt, daß ein plötzlich wahrgenommener Duft – zum Beispiel einer Blume, die auf dem Hof wuchs, wo wir unsere Kindheit verbrachten – unsere Gedanken schneller und lebhafter in die Vergangenheit zurückversetzt als jedes andere Medium der Kunst.« Die Nase, erklärte er, sei das am wenigsten geförderte unserer Sinnesorgane. Die Augen haben gelernt, eine Marmorskulptur zu bewundern, die Ohren, eine raffinierte Symphonie aufzunehmen. Die Nase aber sei ein wildes Tier, das Nahrung, Gefahr oder einen attraktiven Geschlechtspartner erschnüffle. »Es ist seltsam, daß ein Sinn, der so leicht auf Reize anspricht, in diesem primitiven Schlummerzustand gehalten wurde, denn unsere Riechnerven könnten zweifellos so weit entwickelt werden, daß die künstlerische Manipulation von Düften ähnliche ästhetische Genüsse hervorriefe wie die Musik oder die bildende Kunst.« Neurowissenschaftler haben dem Phänomen inzwischen einen Namen gegeben: den Proust-Effekt. Der legendäre Biß in eine teegetränkte Madeleine inspirierte eine Reihe von Untersuchungen über die Verknüpfungen zwischen Geruch und Erinnerung. Das Riechzentrum im Gehirn besitzt eine enge Verbindung zu den Erinnerungszentren, und Wissenschaftler haben herausgefunden, daß die olfaktorischen Komponenten eines Erlebnisses oft die dauerhaftesten Eindrücke sind – solche von Bildern, Geräuschen und taktilen Wahrnehmungen verblassen dagegen schnell. Die Gerüche, an die man sich am besten erinnert, sind die ältesten, intensivsten, gefühlsbeladensten. Es war nur natürlich, daß ein Künstler wie Sadakichi, der in einer Kultur des Gesamtkunstwerks aufwuchs, etwas schaffen wollte, in dem Kunst und Leben verschmolzen. Bei sorgfältiger Inszenierung könnte ein Konzert von Gerüchen die schlafenden Erinnerungen wecken, so daß man die verlorene Zeit praktisch noch einmal erleben würde.
Zu jener Zeit betrachtete man den Versuch, durch Gerüche Gefühle oder Erinnerungen wachzurufen, meist als billigen Zaubertrick. Die Zeitungen spekulierten, das Parfümkonzert könnte eine ganze Industrie von Erinnerungshilfen ins Leben rufen. »Produktion von Anti-Heimweh-Parfüms folgt auf neueste New Yorker Marotte«, hieß eine Schlagzeile der »Chicago Daily«. In dem Artikel stand, Bürger der Stadt könnten mit Geruchskapseln verreisen, so daß sie bei Langeweile in Paris oder Rom nur ein Päckchen mit der Aufschrift »Schlachthöfe extrastark« zu öffnen hätten, um flugs nach Hause versetzt zu werden.
1906 hoffte man in einem Kino in Pennsylvania, das Interesse an einer Wochenschau zur Rosenparade zu steigern, indem man im Zuschauerraum Rosenöl versprühte, worauf sich sämtliche Gäste beschwerten. Bei dem Film »Scent of Mystery« (Der Duft des Rätsels, 1960) setzte man zum ersten und letzten Mal eine Erfindung namens »Smell-O-Vision« ein, ein patentiertes System mit der Filmhandlung synchronisierter Gerüche. In Disneylands kalifornischem Abenteuer-Themenpark, der fast hundert Jahre nach Sadakichis Vorstellung eröffnet wurde, werden die Besucher mit einem leichten Zitrusduft besprüht, während sie scheinbar über einen Orangenhain schweben.
Die Erfindung des Parfümkonzerts war eine hervorragende Leistung; mit der Ausführung verhielt es sich anders. Sadakichi behauptete, sein Konzert stelle einen technologischen Fortschritt dar, ein solches Vorhaben sei bis dato niemals vollständig realisiert worden, vor allem mangels eines Apparates, der »Gerüche mit hinreichender Kraft von der Bühne bläst, um einen großen Raum fast augenblicklich zu füllen und beim Publikum die gewünschten Eindrücke zu erzeugen«. Ein solcher Apparat sei kürzlich erfunden worden. Der »Apparat«, ein elektrischer Ventilator, blies nun ein beißend starkes Rosenparfüm ins Parkett, das sich schnell über den Orchesterraum ausbreitete und zum Balkon aufstieg. Ein Mann rief, daß er »den Geruch der Speigatten« nicht möge und »zu viele an Bord schon seekrank« seien. Sadakichi erwiderte, man komme nun in England an und nehme den Geruch der dort heimischen Wildrosen wahr. Jemand rief, dieser gruselige Geruch erinnere ihn daran, daß seine Gasuhr einmal undicht war. Die Stimmung schlug um. »Nun erreichen wir Deutschland«, fuhr Sadakichi fort. Die Mädchen führten ein zweites Leintuch an den Apparat, und eine als lang empfundene Minute später verbreitete sich unverkennbar Veilchenduft. »Wir alle erinnern uns doch, wie es ist, wenn man an einem schönen Morgen am Rheinufer Veilchen pflückt«, sagte er. »Das Veilchen ist die deutsche Blume.« Doch niemand im Theater erinnerte sich ans Veilchenpflücken. Veilchen standen für Seife und billiges Eau de toilette, Bonbons und die Hure der vergangenen Nacht. Rosen, das waren Frauen im Fuchspelz und mit Perücke oder Ehemänner, die um Vergebung baten. Die Düfte, die Landschaften des kleinstädtischen Europa heraufbeschwören sollten, hatten kaum Wirkung auf das Publikum. Die Sehnsucht danach verspürte nur Sadakichi selbst.
Die Vorstellung sollte sechzehn Minuten dauern, wurde aber schon nach vier Minuten abgebrochen. »Unter Trampeln und Spottrufen begann das Publikum, das Theater zu verlassen«, schrieb ein Reporter. »Die arme ›Chrysantheme‹, wie sich der Erfinder selbst nennt, wirkte bleicher als das Hemd, das er trug. Er stammelte noch ein paar Worte und floh.« Eine andere Zeitung berichtete: »Er verbeugte sich mit dem Ausdruck tiefer Qual und bat mit versagender Stimme darum, daß man ihn nun entschuldigen möge; er könne unter diesen Bedingungen das Konzert nicht fortsetzen.« Sadakichis große und markante Züge waren so leicht zu lesen wie ein Zifferblatt. In seinem Schmerz ähnelte sein Gesicht auf fast komische Weise der starren Maske eines Tragöden. Als sich die Türen des Theaters öffneten, entwichen die Düfte in die Nachtluft. Es begann zu schneien, und bald war die Stadt mit dickem, weißem Puder bedeckt. Alles geriet in Vergessenheit außer dem Schnee; die Umrisse der Stadt wurden zu Schnee, der Geruch der Luft wurde zu Schnee, es gab nichts mehr, das nicht weich, ruhig und still war.
Sadakichi Hartmann kam nur einmal, in dem 1913 erschienenen Essay »Im Land der Düfte«, auf das Thema zurück. Darin stellte er recht bedrückt fest, daß das Konzert nie das hätte sein können, was er sich vorgestellt hatte: ein Orchester von Düften, das über bloße Assoziationen hinausging und Landschaften und Feenreiche heraufbeschwor. »Die Unverbundenheit der verschiedenen Wellen angenehmer Empfindungen macht es unmöglich, die Sache zur gleichen Perfektion wie in Musik und Malerei zu bringen.« Der Duft war einfach Mittel zum Zweck. Was er an jenem Abend wirklich angestrebt hatte, war ein Konzert des reinen Gefühls, Wellen angenehmer Empfindungen, die sich über dem Publikum brechen wie ein großer symphonischer Akkord. Unwillentlich hatte er seinem Publikum gesagt, was es fühlen sollte, und dachte, da er es selbst so intensiv fühlte, würde womöglich etwas davon überspringen und sein Ziel erreichen. Während Proust in Paris drauflosschrieb, verlor Sadakichi zunehmend das Vertrauen in seine olfaktorische Theorie. »Das fehlende Gedächtnis ist zweifellos der Grund für die Flüchtigkeit aller Geruchseindrücke; es raubt uns den ›Nach-Duft‹, jene mentale Wiederholung des Genusses, die bedeutenden Anteil am ästhetischen Vergnügen hat.«
1916 schloß Sadakichi mit seiner Jugend im Osten ab. Er war kurz, aber folgenreich verheiratet gewesen und hatte mit seiner Frau fünf Kinder gezeugt, dazu noch ein uneheliches aus einer Affäre. Die nächste Partnerin heiratete er nicht, zeugte aber sieben weitere Kinder. Wie Pinkerton in »Madame Butterfly« schien auch er sich mit Frauen auf »japanisch« zu verbinden ("Für neunhundert und neunundneunzig Jahre: / Freilich darf ich kündigen / jeden Monat«) und die Warnung von dessen Freund Sharpless zu mißachten. »So leichtgeschürzte Weisheit / Macht’s Leben uns wohl heiter / Doch läßt sie’s Herze kalt.« Und wie Pinkerton ließ er sie fast alle sitzen.
Sadakichi ging in den Westen, gründete in San Francisco eine Theatertruppe und zog dann weiter nach Los Angeles, wo er mit dem gut vernetzten John Barrymore auf ganz ähnliche Weise Freundschaft schloß wie Jahre zuvor mit Walt Whitman. In Hollywood kannten ihn die Schauspieler, Produzenten und Regisseure als den traurigen Clown aus Barrymores Kreis. Es fiel schwer sich vorzustellen, daß er je so jung und gutaussehend wie die Filmstars gewesen war, die er in Hollywood unterhielt. Er ließ sich die Haare lang wachsen, trug überweite Kleidung und gab sich als groteske Figur. Seine Visitenkarte zeigte einen langgliedrigen Mann in schwarzem Mantel und Melone, die dünnen, spinnenartigen Arme standen vom buckligen Rumpf ab. Sadakichi hatte die Zeichnung selbst gemacht, und ein Freund meinte, er sehe darauf aus wie »ein Teufel auf Fronturlaub«. Ein anderer fand, daß er »die warmen Zufluchtsorte mittelmäßiger Menschen« bewohne: »Er setzte Liebeserfüllung mit Vergessen und Tod gleich (...) er scherzte über das Leben, brachte einen Trinkspruch auf den Tod aus.« Leute vom Film, die sein Scharfsinn beeindruckte, luden ihn zu sich ein – der alternde Dichter und Kritiker verlieh den Cocktailpartys in Brentwood einen intellektuellen Anstrich. Er war der geheimnisvolle Asiat und spielte pflichtschuldig seine Rolle. Douglas Fairbanks hatte ihm 1924 in seinem Mantel-und-Degen-Film »Der Dieb von Bagdad« eine im Abspann nicht erwähnte Rolle als Hofzauberer des Mongolenprinzen gegeben. Als Entgelt verlangte Sadakichi nur 250 Dollar und jede Woche eine Kiste Whisky.
Als der Krieg kam, wurde der Sohn von Mephistopheles und Madame Butterfly von den US-Behörden behelligt, weil er gleich ein doppeltes Gift im Blut hatte, und zog sich in die kleine Hütte zurück, die er sich in Banning gebaut hatte. Er starb im Herbst 1944, als in Europa der Krieg in seine letzte Phase ging. Schwer zu sagen, was aus der Ruhestatt seiner Mutter geworden ist; im Sommer nach Sadakichis Tod wurde die Fat-Man-Bombe über Nagasaki abgeworfen, legte die gesamte Stadt in Schutt und Asche und wohl auch alle Spuren ihres kurzen Lebens. Hier endet Pinkerton und beginnt Sadakichi. Seine lebendigen amerikanischen Frauen waren für ihn weniger wirklich als diese japanische Geistergestalt. Seine wahre Liebe galt Erinnerungen, die er niemals gehabt hatte: die herrliche Bucht von Nagasaki, die wilde Chrysantheme, der Körper seiner Mutter, der unbeerdigt über ein uraltes Land reist. Es gibt keine Düfte, die ein ungelebtes Leben in Erinnerung rufen können.
Ein Foto zeigt ihn mit siebenundsiebzig, an ein verrostetes Tor vor seiner Ein-Raum-Hütte gelehnt, mit langem, an der Taille geschnürtem Jackett, steifem Kragen und Schlips. Ein grauer Filzhut mit schwarzem Band schützt das faltige Gesicht vor der Wüstensonne. Als er das Foto sah, betitelte er es mit tiefster Melancholie »Auf der Straße Ausschau haltend nach Besuchern, die nie kommen«.

 

Aus dem Englischen von Alexander Brock

SINN UND FORM 6/2014, S. 738-749