Background Image

Heftarchiv – Leseproben

Screenshot

[€ 9.00]  ISBN 978-3-943297-05-8

Printausgabe bestellen

Leseprobe aus Heft 3/2012

Pfeifer, Anke

Gespräch mit Mircea Cărtărescu


ANKE PFEIFER: Sie gelten als einer der bedeutendsten rumänischen Gegenwartsautoren und sind auch jenseits der Landesgrenzen sehr bekannt. Seit dreißig Jahren veröffentlichen Sie Lyrik, Prosa und Essays. Vor zwei Jahren haben Sie die umfangreiche Trilogie »Orbitor« beendet, die zum Teil auch schon auf deutsch vorliegt. Als der abschließende dritte Band erschien, sagten Sie, dieses Romanwerk sei das beste Buch, das Sie schreiben konnten, und was nun komme, sei nur noch ein Anhang. Sind Sie immer noch dieser Meinung?

MIRCEA CĂRTĂRESCU: Es wäre sehr traurig, wenn ich das immer noch glaubte. Als ich es seinerzeit sagte, lastete auf mir der kolossale Druck der vierzehn Jahre, die ich an »Orbitor« geschrieben hatte. Ich verspürte eine akute Erschöpfung, die über ein Jahr anhielt. Nach dieser Trilogie, in der ich versuchte, mich eins zu eins abzubilden, wobei ich nicht weiß, ob mir das gelungen ist, war es wirklich schwierig, weiter zu schreiben. Inzwischen habe ich es jedoch geschafft, das Buch zu vergessen, und bin versessen darauf, etwas Neues zu schaffen.

PFEIFER: Ich nehme an, es wird sich wieder um Prosa handeln, sagten Sie doch kürzlich bei einer Lesung in Berlin, daß Sie keine Poesie mehr schreiben.

CĂRTĂRESCU: Poesie bedeutet zweierlei. Einerseits eine bestimmte Art und Weise, die Welt zu verstehen, sie mit den Augen eines Kindes zu sehen, vor aller intellektuellen Erfahrung. So gesehen gibt es Dichter, die nie ein Gedicht geschrieben haben. Ich habe versucht, für immer Kind oder Heranwachsender zu bleiben, gerade aus diesem Bedürfnis nach Poesie heraus, das ständig in mir ist. Ich lese viel, ganz unterschiedliche Sachen, und überall suche ich die Poesie. Selbst wenn ich einen realistischen Roman, ein Buch über Biologie oder Theologie oder auch die Bibel lese – bei allem interessiert mich hauptsächlich diese besondere poetische Weise, die Dinge zu betrachten. Aber Poesie bedeutet auch noch etwas anderes, nämlich ein literarisches Genre mit spezifischen Regeln, wobei mir die offensichtlichste Regel am wichtigsten erscheint: daß die Zeilen am linken Seitenrand beginnen und nicht bis zum rechten gefüllt werden. In diesem Sinne schreibe ich keine Verse mehr, wohl aber Poesie in Form von Romanen, Essays, Tagebüchern. Ich fühle, daß ich genau zu dem Zeitpunkt mit der Lyrik aufhörte, als ich nicht mehr in der Lage war, konzentriert und wahrhaftig Gedichte zu schreiben. Daher bin ich froh, daß ich die Kraft hatte, auf dieses Genre zu verzichten. Neben den sechs oder sieben Lyrikbänden aus meinem frühen Schaffen gibt es noch einen, den ich bisher nicht publiziert habe. Es war der letzte, den ich seinerzeit geschrieben hatte, und derjenige, bei dem mir wirklich klarwurde, daß sich meine poetischen Quellen erschöpft hatten. Damals war ich unzufrieden und habe ihn nicht publiziert. Heute möchte ich ihn als eher psychologisches denn ästhetisches Dokument herausgeben. Als ich ihn nach so langer Zeit in einem Schuhkarton entdeckte und wieder las, schien er mir überraschenderweise frisch und interessant, weil er wie heutige Lyrik klang. Und so habe ich gedacht, daß eine Veröffentlichung durchaus interessant sein könnte. Der Band heißt »Nimic« (Nichts) und ist ein Kontrapunkt zu dem in meiner Jugend entstandenen Band »Totul« (Alles).

PFEIFER: »Levantul« (Levante), ein Poem, das Sie für Ihr bestes lyrisches Werk halten, erschien 1990 und war auch Ihr letztes. War Ihr Abschied von der Lyrik gerade zu diesem Zeitpunkt Zufall oder hatte er auch mit anderen Dingen zu tun, zum Beispiel mit den tiefgreifenden Veränderungen im damaligen Rumänien?

CĂRTĂRESCU: »Levantul« war ein Abschied von der Jugend und eine Art Quintessenz von Formen der rumänischen Literatur, die vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart Geltung hatten. Das Buch hat gleichsam eine Kunstepoche beendet, sagen wir, die Moderne der rumänischen Lyrik, und etwas anderes eingeleitet, sagen wir, die Postmoderne. Es ist neben »Nostalgia« und »Orbitor« mein bestes Buch. Aber die Tatsache, daß ich zur Prosa gewechselt bin, ist auch einer äußeren Ursache geschuldet, nämlich der Existenz zweier verschiedener Literatenkreise, in denen ich gleichzeitig verkehrte. Es gab den von Nicolae Manolescu geleiteten »Cenaclu de luni« (Montagskreis), der sieben Jahre lang, von 1977 bis 1984, bis er wegen angeblicher Subversivität aufgelöst wurde, wöchentlich Sitzungen durchführte, an denen ich immer teilnahm. Außerdem ging ich noch zum Literaturkreis »Junimea« (Jugend) unter der Leitung von Ovid S. Crohmălniceanu. Während im »Montagskreis« überwiegend Lyrik gelesen wurde, war die »Junimea« ein Treffpunkt für Prosainteressierte. Meine besten Freunde waren Prosaisten, und für mich war das Schreiben von Prosa eine Art Hommage an diese Menschen. Zunächst entstanden fünf Erzählungen, die später genau in der Reihenfolge ihres Entstehens den Band »Nostalgia« bildeten. Angefangen habe ich mit dem »Roulettespieler«, den ich mit Erfolg im Literaturkreis vortrug, so daß ich mich entschloß, mit längeren Erzählungen weiterzumachen. Die einzige Erzählung, die ich dort nicht mehr lesen konnte, ist »Rem«, meiner Meinung nach die beste des Bandes. Dann habe ich mich entschlossen, Berufsschriftsteller zu werden, eine Entscheidung, die zumindest in den neunziger Jahren fortwährend Zweifel und Krisen nach sich zog.

PFEIFER: Was sagten Ihre Eltern damals zu Ihrer künstlerischen Betätigung?

CĂRTĂRESCU: Sie haben mich nicht gerade ermutigt, im Gegenteil. Als einfache Leute ohne große kulturelle Bildung waren ihnen meine modernen Gedichte völlig unverständlich. Erst sehr viel später, vielleicht im Zusammenhang mit dem relativen materiellen Erfolg, begriffen sie, daß ich etwas Ernsthaftes machte. Doch wegen ihrer Aufrichtigkeit sind sie mir lieb und teuer. Wenn ihnen etwas nicht gefiel, haben sie es mir direkt gesagt.

PFEIFER: Für die 80er Generation war Schreiben Lebensersatz, Flucht aus der Wirklichkeit. Sie selbst sagten einmal, daß Sie bis zu Ihrem vierunddreißigsten Lebensjahr, also bis 1990, im wesentlichen in Büchern gelebt haben. Wie ist das heute?

CĂRTĂRESCU: Ich würde nicht sagen, daß das Verfassen von Literatur für uns damals eine Flucht aus der Wirklichkeit war. Im Gegenteil, die Realität bedeutete einen Rückzug vom Schreiben, einem Schreiben, das uns alles bedeutete. Wir waren jung, naiv. Wir konnten Rumänien nicht verlassen und somit unsere Situation nicht wirklich einschätzen. Wir hatten den Eindruck, die Realität müsse so sein, wie sie war, und die Literatur half uns zu überleben, durchzuhalten. Meine Kollegen und ich haben unter gräßlichen Bedingungen gearbeitet, aber die Literatur, die wir schufen, wird für immer die Literatur jener Zeit sein. Wir haben versucht, wie freie Menschen zu schreiben.

PFEIFER: Waren die Literaturkreise nicht eine Art Parallelwelt?

CĂRTĂRESCU: Eigentlich war die Wirklichkeit eine Parallelwelt der Literaturkreise, denn die waren für uns die Normalität. Es gab in den achtziger Jahren einen kulturellen Aufbruch, trotz Dunkelheit, Kälte und Elend. Es gab ein kleines normales Rumänien inmitten eines immensen paranormalen Rumänien. Ich weiß nicht, wie es zur Rede vom Widerstand durch Kunst gekommen ist. Eigentlich zählte nur die Kultur, sie war weder Widerstand noch Flucht. Sie war real, während die übrige Realität meiner Meinung nach anormal war.

[…]

 

SINN UND FORM 3/2012, S. 383-394.