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Heftarchiv – Leseproben

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Leseprobe aus Heft 2/2009

Wiseman, Boris

Die westliche Kontamination. Gespräch mit Claude Lévi-Strauss


BORIS WISEMAN: Sie gelten heute als Klassiker, und nicht selten reiht man Sie unter die größten Denker unserer Zeit ein. Was bedeutet Ihnen das?
CLAUDE LÉVI-STRAUSS: Es rührt mich, aber zugleich bringt es mich in Verlegenheit und ärgert mich.
WISEMAN: Warum?
LÉVI-STRAUSS: Weil ich glaube, daß es nicht wahr ist. Neben meinen großen Vorgängern empfinde ich mich als klein.
WISEMAN: Mir scheint, Sie haben niemals wirklich versucht eine Schule zu bilden oder, in der Art von Sartre, die Rolle eines »intellektuellen« Führers zu spielen. War das eine bewußte Wahl?
LÉVI-STRAUSS: Ich wünschte das nicht, weil ich ehrlich gesagt wenig Geschmack an gesellschaftlichen Kontakten finde. Mein erster Impuls ist immer, die Leute zu fliehen und nach Hause zu gehen.
WISEMAN: Man hat Ihnen mitunter eine sehr kritische Sicht auf die Kultur, der Sie angehören, zugeschrieben. Weisen Sie diese Kultur zurück?
LÉVI-STRAUSS: Der Kultur selbst bin ich zutiefst verbunden. Ich empfinde mich als Produkt dieser Kultur. Es ist vielmehr die Gesellschaft, die mich abstößt.
WISEMAN: Was stößt Sie insbesondere ab?
LÉVI-STRAUSS: Tausenderlei Sachen. Aber mir scheint, daß sie sich alle auf eine einzige zurückführen lassen: Als ich zur Welt kam, gab es eine Milliarde Menschen auf Erden, und als nach dem Staatsexamen mein aktives Leben begann, waren es eineinhalb Milliarden; es sind nun sechs Milliarden und morgen werden es acht oder neun sein. Diese Welt ist nicht mehr die meine.
WISEMAN: Wie stellt sich Ihnen das Alltagsleben im Paris des 21. Jahrhunderts dar?
LÉVI-STRAUSS: Es ist so leicht für einen Greis, zu sagen, es sei alles besser gewesen, als er jung war, daß man sich verbieten müßte, auf solche Fragen zu antworten. Aber sei’s drum, wenn Sie möchten, daß ich mich gehenlasse, würde ich sagen, abgesehen vom unbestreitbaren Fortschritt der Medizin, der für jeden von uns von Vorteil ist, bot das Leben für jemanden meines gesellschaftlichen und intellektuellen Milieus in jeder Hinsicht mehr Annehmlichkeiten.
WISEMAN: Würden Sie sich als wesentlich nostalgisch beschreiben?
LÉVI-STRAUSS: Nicht nur nostalgisch im Hinblick auf meine Jugend, sondern auf viele Epochen, die ich nicht gekannt habe.
WISEMAN: Welche zum Beispiel?
LÉVI-STRAUSS: Das hängt von dem Buch ab, das man liest, dem Gemälde, das man betrachtet, der Musik, der man lauscht, oder der Stimmung des Augenblicks. Meistens fühle ich mich als Mensch des 19.Jahrhunderts. Die Epoche zu wechseln ist ein frivoles Spiel: was man auf der einen Liste zu gewinnen glaubt, verliert man auf der anderen.
WISEMAN: Wie nehmen Sie die aktuelle Situation der Anthropologie wahr?
LÉVI-STRAUSS: Es gibt noch jede Menge zu tun, weil es in der Welt noch viele Dinge gibt, die wenig oder schlecht erforscht sind. Aber zuletzt wird es sich nur noch darum handeln, Krümel aufzuklauben.
WISEMAN: Denken Sie, daß die Anthropologie unausweichlich dem Untergang geweiht ist?
LÉVI-STRAUSS: Eher einer Transformation. Die Aufgabe der Anthropologie hing ganz von einer historischen Konstellation ab: dem Augenblick, in dem der abendländischen Kultur bewußt wurde, daß sie die ganze Welt beherrschen würde. Man mußte sich also beeilen, um alle menschlichen Erfahrungen einzusammeln, die ihr nichts schuldeten und deren Kenntnis unentbehrlich ist, wenn man sich von einer Menschheit einen Begriff machen wollte, die nicht auf eine persönliche Betrachtung reduziert werden kann oder gar auf die abendländische Zivilisation selbst. Ich denke, die Anthropologie hat ihre Pflicht, sagen wir mal in den letzten beiden Jahrhunderten, gut erfüllt, aber wir haben den Zeitpunkt erreicht, an dem keine der menschlichen Erfahrungen, die wir noch kennenlernen werden, von der westlichen Kontamination frei sein wird, so daß uns diese Erfahrungen nicht mehr über das unterrichten können, was zu suchen wir ehedem ausgezogen waren.
WISEMAN: Obwohl man das Objekt der Anthropologie in gewissem Sinne als etwas erachten kann, das im Verschwinden begriffen ist, das zerbröselt, entstehen auch neue Objekte. Sie sagen selbst irgendwo, daß, wenn die Unterschiede der Kulturen aufgrund dieser westlichen Kontamination dahinschwinden, andere Unterschiede entstehen können, gleichsam unsichtbare, im Inneren der Kultur, welcher man angehört, Unterschiede, die zum Objekt anthropologischer Studien werden können.
LÉVI-STRAUSS: Das waren freundliche Worte der UNESCO zuliebe, aber man darf sich keinen Illusionen hingeben. Es gab nun einmal Schätze des Glaubens und der Sitten, der Gebräuche und Institutionen, die im Laufe von Jahrhunderten entstanden waren und sich entwickelt hatten wie seltene tierische und pflanzliche Arten. Es wird neue Unterschiede geben, aber anderer Art.
WISEMAN: Welche Vorstellung machen Sie sich von der Transformation der Anthropologie?
LÉVI-STRAUSS: Es wird sich eine Disziplin herausbilden, dem Studium der neuen Unterschiede gewidmet, die hier und da entstehen werden, aber das ist nicht mehr mein Problem. Ansonsten wird sich die Anthropologie in eine Philologie verwandeln, eine Geschichte der Ideen, so wie die antike Welt, Griechenland, Rom, das vedische Indien verschwunden sind, aber uns seit Jahrhunderten beschäftigen, und das wird noch Jahrhunderte anhalten. Der Umfang an bestehendem anthropologischem Material, das noch nie gesichtet oder publiziert wurde, ist immens.
WISEMAN: Es ist eine Besonderheit der französischen Anthropologie, tief in der Philosophie zu wurzeln. Zahlreiche französische Ethnologen haben eine philosophische Ausbildung. Meinen Sie, daß diese Beziehung zur Philosophie für die Anthropologie ebenso nachteilig wie vorteilhaft sein kann?
LÉVI-STRAUSS: Ich bin überzeugt, daß es ein Vorteil ist.
WISEMAN: Einverstanden, aber meine Frage war: Ist es auch ein Nachteil?
LÉVI-STRAUSS: Es könnte insofern ein Nachteil sein, als es zu voreiligem Theoretisieren einlädt, doch das gilt nicht für alle … Aber sagen wir mal, es rüstete die französischen Ethnologen mit einer allgemeinen philosophischen Bildung aus, die umfassender war als die vieler unserer ausländischen Kollegen.
WISEMAN: Gibt es anthropologische Probleme, die Sie ohne diese philosophische Bildung, ohne den Beitrag der Philosophie, nicht hätten lösen können?
LÉVI-STRAUSS: Schwer zu sagen. Der Beitrag der Philosophie war eine allgemeine Bildung, aber vor allem eine gewisse Gymnastik des Geistes, eine bestimmte Art, die Reflexion zu lenken.
WISEMAN: Welcher philosophischen Tradition fühlen Sie sich in dieser Hinsicht zugehörig?
LÉVI-STRAUSS: Man hat oft gesagt, ich sei Kantianer, was wahrscheinlich wahr ist.
WISEMAN: Die strukturale Anthropologie ermöglicht es unter anderem, die Phänomene zu erhellen, die den Ethnologen interessieren. Welche Typen von Phänomenen entziehen sich der strukturalen Erhellung? Was kann der Strukturalismus am schwersten erkennen?
LÉVI-STRAUSS: Das sind keine Typen von Phänomenen, eher Ebenen, die man einnimmt, um irgendwelche Phänomene zu beobachten.
WISEMAN: Wären Sie einverstanden mit der Feststellung, daß die vom Strukturalismus bevorzugten Ebenen der Beobachtung diejenigen sind, die dem Unbewußten am nächsten sind?
LÉVI-STRAUSS: Ja, aber vor allem gibt es Phänomene, für die wir hoffen, bereits die passende Ebene der Beobachtung gefunden zu haben, und andere, für die sie sich uns entzieht. Vielleicht werden wir sie niemals finden.
WISEMAN: Haben Sie dafür ein Beispiel?
LÉVI-STRAUSS: Ich würde sagen, die Ebenen, auf denen es unerläßlich ist, dem Individuum einen Platz einzuräumen.
WISEMAN: In dem Maß, in dem der Geist mit einer kleinen Anzahl rekurrenter Strukturen funktioniert, bilden diese Erzeugnisse eine geschlossene kombinatorische Einheit. In »Traurige Tropen« beschwören Sie die Möglichkeit eines periodischen Systems bestehender oder möglicher sozialer Strukturen. Was erwidern Sie den Kritikern, die sagen, daß eine derartige Auffassung des Geistes den Menschen eines seiner fundamentalen Werte beraubt: der Freiheit?
LÉVI-STRAUSS: Das ist eine Sprache, die mir so dunkel ist wie eine Fremdsprache. Ich weiß nicht, was das heißen soll. Ich sagte Ihnen soeben, daß, wenn man das Individuum in Rechnung stellen will, es viele Annäherungen gibt, die legitim wären, aber nicht der Strukturalismus, denn dieser bedingt, daß wir imstande sind, vom Individuum zu abstrahieren. Wenn Sie ein Mikroskop mit verschiedenen Vergrößerungen haben und eine schwache Vergrößerung wählen, werden Sie in einem Wassertropfen kleine Tierchen sehen, die sich ernähren, kopulieren, sich lieben, sich hassen und für die die Freiheit existiert. Wenn Sie sich einer etwas stärkeren Vergrößerung bedienen, werden Sie nicht mehr die Tiere sehen, sondern die Moleküle, aus denen ihre Körper zusammengesetzt sind. Das Thema der Freiheit verliert dann seinen Sinn. Es ist nur auf einer anderen Ebene der Realität anwendbar.
WISEMAN: Ich glaube, meine Frage war: bis zu welchem Punkt determinieren die strukturalen Ebenen unsere Erfahrungen, unsere Wahrnehmungen, so wie wir sie auf der Ebene erleben, auf der wir als Individuen funktionieren, in der Welt handelnd und lebend.
LÉVI-STRAUSS: Es gibt so viele Determinismen, die auf allen Ebenen wirken, auf den Ebenen, die zur Molekularbiologie gehören oder zur Tierphysiologie, und was sonst noch alles, so daß die Art und Weise, in der all diese Faktoren ineinandergreifen, ungeheuer komplex ist und diese Art Frage jeglichen Sinn verliert.
WISEMAN: Glauben Sie an die Möglichkeit vollkommen freier Handlungen, die sich den von Ihnen beschriebenen Determinismen entziehen?
LÉVI-STRAUSS: Ich weiß nicht, was das heißen soll.
WISEMAN: Sie wissen nicht, was das heißen soll, eine freie Handlung?
LÉVI-STRAUSS: Nein, ich weiß nicht, was das heißen soll. Ich fühle mich frei, wenn ich nichts in mir verspüre, was sich in mir gegen das, was ich tun will, sträubt.
WISEMAN: Es gibt eine etwas heikle Frage, die ich gern mit Ihnen erörtern würde. Montaigne sagte, Philosophieren heißt Sterben lernen. Hat Philosophieren für Sie auch diese Bedeutung?
LÉVI-STRAUSS: Das ist die Betrachtung eines Greises. Montaigne ist nicht alt gestorben, aber er erachtete sich als Greis, weil man damals häufig jung starb. Jedenfalls hört der Tod am Ende des Lebens auf, eine Abstraktion zu sein, was er die meiste Zeit unseres Daseins ist, und wird dann zu etwas sehr Konkretem. Also ja, gewiß. Man kann sich den Fragen, die sich die Menschen stellen, seit es sie auf Erden gibt, nicht nicht stellen. Und die Philosophie lehrt uns zu versuchen, auf diese Fragen eine Antwort zu geben, die uns annehmbar erscheint.
WISEMAN: Denken Sie oft an den Tod?
LÉVI-STRAUSS: Oft.
WISEMAN: Mit Zufriedenheit?
LÉVI-STRAUSS: Ich rufe den Tod nicht herbei, aber ich sehe nicht recht, was noch mein Platz auf dieser Erde ist.
WISEMAN: Warum das?
LÉVI-STRAUSS: Weil ich mein Werk vollendet habe. Aller Wahrscheinlichkeit nach werde ich dem, was ich geschrieben habe, nichts mehr hinzufügen. Was ich hinzufügen könnte, wäre von minderer Qualität und also entbehrlich.
WISEMAN: Ist die Tatsache, dieses Werk geschrieben zu haben, für Sie mit großer Befriedigung verbunden?
LÉVI-STRAUSS: Sie ist mit der Befriedigung verbunden, mich nicht gelangweilt zu haben.
WISEMAN: Sie schreiben nicht mehr?
LÉVI-STRAUSS: Das ist nicht so einfach. Es kommt vor, daß ich noch an kleinen Sachen arbeite. Aber es ist keine Frage von Schreiben oder Nichtschreiben, es ist die Frage, ob das Denken noch fruchtbar ist oder aufhört, es zu sein.
WISEMAN: Sie haben wiederholt über die Riten geschrieben, die die Völker erfanden, um die Beziehung zwischen der Welt der Lebenden und der der Toten zu symbolisieren. Was halten Sie als Anthropologe von der Art und Weise, wie unsere Gesellschaft ihre Beziehungen zur Welt der Toten darstellt?
LÉVI-STRAUSS: Ich erinnere mich, daß mir in dem kleinen Dorf, in dem ich meine Ferien verbringe und das keinen ständigen Pfarrer hat, derjenige, dersechs oder sieben Gemeinden betreut, eines Tages sagte, daß den Franzosen als einzige Religion der Totenkult verblieben ist.
WISEMAN: Die Religion als religiöse Praxis ist verschwunden?
LÉVI-STRAUSS: Wenigstens ist es im bürgerlichen Leben die Form, in der die Religion ihre Realität bezeugt.
WISEMAN: Ich glaube, hier können wir aufhören.
LÉVI-STRAUSS: Das ist ganz in meinem Sinn. Allmählich finde ich keine Worte mehr, um Ihnen zu antworten.

Aus dem Französischen von Anita Albus

SINN UND FORM 2/2009, S. 180-185