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Heftarchiv – Leseproben

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Printausgabe vergriffen

Leseprobe aus Heft 2/2009

Fabre, Jean-Henri

Entomologische Streifzüge


Die Languedoc-Grabwespe

 

Wenn der Chemiker sein Experiment reiflich geplant hat, mischt er seine Reagenzien, wann es ihm am besten paßt, und macht Feuer unter dem Kolben. Er ist Herr über Zeit, Ort und Umstände. Er wählt eine Stunde, er zieht sich in die Abgeschiedenheit seines Labors zurück, wo ihn nichts ablenken kann. Er erzeugt nach Belieben diese oder jene Bedingung, welche die Überlegung ihm eingibt: Er spürt den Geheimnissen der Natur nach, in der er mit Hilfe der Wissenschaft chemische Aktivitäten hervorrufen kann, wann es ihm günstig erscheint.
Die Geheimnisse der lebendigen Natur - nicht die des anatomischen Aufbaus, sondern vielmehr die des Lebens in Aktion, vor allem des Instinkts - stellen den Beobachter vor viel schwierigere und heiklere Bedingungen. Weit entfernt davon, über seine Zeit verfügen zu können, ist man ein Sklave der Jahreszeit, des Tages, der Stunde, ja sogar des Augenblicks. Wenn die Gelegenheit sich bietet, muß man sie beim Schopf ergreifen, denn sie wird sich wohl so bald nicht wieder bieten. Und da sie sich gewöhnlich genau dann bietet, wenn man am wenigsten daran denkt, ist nichts zur Hand, um den besten Nutzen daraus zu ziehen. Man muß sofort das bißchen Material für seine Versuche improvisieren, seine Pläne ausarbeiten, seine Taktik entwerfen, sich Listen ausdenken; nur zu glücklich ist man, wenn die Eingebung so rasch kommt, daß man die Gelegenheit nutzen kann. Sie bietet sich kaum, wenn man sie sucht. Man muß sie geduldig abpassen, Tag um Tag, hier an den Sandhängen, die der prallen Sonne ausgesetzt sind, dort im Schwitzbad eines von hohen Böschungen umschlossenen Pfades oder auf dem Vorsprung eines Sandsteinfelsens, dessen Festigkeit nicht immer Vertrauen einflößt. Wenn es euch vergönnt war, euren Beobachtungspunkt unter einem mageren Olivenbaum einzurichten, der den Anschein erweckt, als würde er euch vor den Strahlen einer gnadenlosen Sonne schützen, dann segnet das Geschick, das euch verwöhnt: Eure Parzelle ist ein Paradies! Vor allem: Laßt eure Augen auf der Lauer liegen! Der Platz ist günstig, und wer weiß, die Gelegenheit kann jeden Moment kommen.
Sie ist gekommen, spät zwar, aber immerhin. Ach, wenn man doch nach Belieben beobachten könnte: In der Stille des Studierzimmers, ganz für sich, gesammelt, nur auf seinen Gegenstand konzentriert, weit weg von dem laienhaften Spaziergänger, der stehenbleibt, wenn er euch so beschäftigt sieht mit einem Punkt, wo er selbst nichts sieht - der euch mit Fragen überschüttet, euch für einen Wünschelrutengänger hält, der Wasseradern sucht, oder - noch schlimmer! - euch verdächtigt, mit Hilfe von Zauberformeln alte Tonkrüge voller Münzen in der Erde ausfindig zu machen! Wenn ihr ihm immer noch als Christenmensch erscheint, wird er euch ansprechen, wird anschauen, was ihr anschaut, und auf eine Weise lächeln, die unmißverständlich klarmacht, was er von Menschen hält, die sich mit der Beobachtung von Fliegen befassen. Ihr werdet nur zu froh sein, wenn sich der lästige Besucher, der euch insgeheim verlacht, endlich verzieht, ohne alles in Unordnung zu bringen, ohne unschuldsvoll die Katastrophe zu wiederholen, welche die Stiefelsohlen meiner zwei Rekruten verursacht haben.
Wenn eure unerklärlichen Beschäftigungen nicht den Spaziergänger beunruhigen, dann den Feldhüter, den sturen Vertreter des Gesetzes inmitten der Brachen. Schon lange hat er ein Auge auf euch. So oft hat er euch planlos umherlaufen sehen, hierhin, dorthin, ohne erkennbaren Grund, einer verlorenen Seele gleich, so oft hat er euch beim Aufgraben des Erdreichs überrascht, wie ihr unter tausend Vorsichtsmaßnahmen in einem Hohlweg ein Stückchen Wand abschlugt - so daß ihr ihm vielfach verdächtig wurdet. Zigeuner, Vagabund, anrüchiger Landstreicher, Felddieb - etwas anderes seid ihr für ihn nicht. Wenn ihr eine Botanisiertrommel mithabt, ist sie in seinen Augen ein Behälter fürs Frettchen, zum Wildern, und er wäre nicht davon abzubringen, daß ihr unter Mißachtung der Jagdgesetze und der Rechte des Eigentümers alle Kaninchenbaue in der Nähe entvölkert. Seid auf der Hut! So stark auch das Verlangen ist: Streckt nicht die Hand aus nach der Traube im Weinberg des Nachbarn! Der Mann mit der städtischen Dienstmarke könnte da sein; er würde mit Freuden ein Protokoll aufnehmen, um endlich eine Erklärung zu haben für ein Betragen, mit dem man sich an höchster Stelle befaßt.
Ich kann mich dieser Gerichtsbarkeit stellen; ich habe keine solche Missetat begangen, und doch: Als ich eines Tages auf dem Sandboden liege, hingerissen von den Details der Haushaltsführung einer Kreiselwespe, höre ich plötzlich neben mir: »Im Namen des Gesetzes fordere ich Sie auf: Folgen Sie mir!« Es war der Feldhüter von Angles, nachdem er vergebens versucht hatte, mich bei einem Vergehen zu ertappen, und jeden Tag die Lösung des quälenden Rätsels heftiger ersehnte, entschloß er sich schließlich zu einem brutalen Anruf. Ich mußte mich rechtfertigen. Der arme Mensch schien keineswegs überzeugt. »Pah, pah!« sagte er. »Sie werden mir nicht einreden, daß Sie hergekommen sind und sich von der Sonne rösten lassen, nur um Mücken fliegen zu sehen. Ich werde Sie nicht aus den Augen lassen! Und bei der ersten Gelegenheit! Einmal reicht!« Und tritt ab. Ich glaube, daß mein Ordensband der Ehrenlegion viel zu diesem Ausgang beigetragen hat. Diesem roten Band schreibe ich ähnliche Wirkungen auf anderen entomologischen oder botanischen Streifzügen zu. Es schien mir, vielleicht bildete ich es mir auch nur ein, es schien mir, daß beim Kräutersammeln auf dem Mont Ventoux der Führer umgänglicher und der Esel nicht so störrisch war.
Das kleine scharlachrote Band hat mir nicht immer die mißlichen Abenteuer erspart, die der Entomologe gewärtigt, wenn er an öffentlichen Wegen Experimente anstellt. Beschreiben wir eins, das bezeichnend ist. - Sobald es Tag wird, sitze ich in einer Felsschlucht auf einem Stein und lauere. Objekt meines morgendlichen Besuches ist die Languedoc-Grabwespe. Drei Weinleserinnen kommen auf dem Weg zur Arbeit vorbei. Ein kurzer Blick auf den sitzenden Mann, der in Gedanken versunken scheint. Es wird sogar höflich gegrüßt und höflich zurückgegrüßt. Bei Sonnenuntergang kommen sie wieder vorbei, die vollen Körbe auf dem Kopf. Der Mann sitzt noch da, auf demselben Stein, blickt auf dieselbe Stelle. Meine Reglosigkeit und mein Ausharren an diesem einsamen Platz mußten sie überraschen. Als sie vorübergingen, sah ich, wie sich eine mit dem Finger an die Stirn tippte, und hörte sie tuscheln: »Armer Trottel - der Ärmste!« Und alle drei bekreuzigten sich.
Trottel, hatte sie gesagt, ein Trottel, ein Schwachsinniger, ein armer Teufel - harmlos, aber er hat keinen Verstand, und alle machten das Kreuzeszeichen - ein Idiot trug für sie das Zeichen Gottes. Wie bitte? frage ich mich, welch grausamer Hohn des Schicksals! Du, der du sorgfältig untersuchst, was beim Tier Instinkt und was Vernunft ist - für diese guten Frauen hast du nicht mal Verstand! Welche Demütigung! Egal. »Der Ärmste«, im Provenzalischen Inbegriff höchsten Mitleids, »der Ärmste«, aus tiefem Herzen - das hat mich den »Trottel« bald vergessen lassen.
[...]
Aus dem Französischen von Friedrich Koch

 

SINN UND FORM 2/2009, S. 149-151