Wolfe, Thomas
(1900 – 1938), amerikanischer Schriftsteller. (Stand 4/2020)
Siehe auch SINN UND FORM:
- 4/2020 | Eine Reise durch den Westen. Mit einer Vorbemerkung von Kurt Darsow
Zeitlose Zeit. Eine Vorbemerkung Die Legende vom »hungrigen Gulliver« ist schon oft erzählt worden. Daß Thomas Wolfe (1900–1938) sein (...)
LeseprobeWolfe, Thomas
Eine Reise durch den Westen. Mit einer Vorbemerkung von Kurt Darsow
Zeitlose Zeit. Eine Vorbemerkung
Die Legende vom »hungrigen Gulliver« ist schon oft erzählt worden. Daß Thomas Wolfe (1900–1938) sein Erwachsenwerden in zwei wortgewaltigen Großerzählungen ausgebreitet hat, die sein Entdecker Maxwell E. Perkins vom Verlag Charles Scribner’s Sons erst auf ein zumutbares Format eindampfen mußte, hat sich herumgesprochen; auch den schwelenden Streit um die Authentizität zweier postum erschienener Werke Wolfes, in denen er seine »Geschichte vom begrabenen Leben« mit anderem Personal und in weniger Worten nochmals aufrollt, kann man getrost der amerikanischen Wolfe-Philologie und ihrem Hausorgan »The Thomas Wolfe Review« überlassen.
Es wäre zwar verlockend, die vier Breitwandromane »Schau heimwärts, Engel« (1929), »Von Zeit und Fluß« (1935), »Geweb und Fels« (1939) und »Es führt kein Weg zurück« (1940) mit den beiden Fassungen des Bildungsromans »Der grüne Heinrich« zu vergleichen, aber Gottfried Keller konnte sich für die Revision seines zwischen Selbstbeobachtung und Tatsachenbeschreibung ähnlich schwankenden Jugendwerks bis ins hohe Alter Zeit lassen; der »früh Unvollendete« aus North Carolina dagegen hatte in seinem kometenhaften Leben nicht die Möglichkeit, abgeklärt zu werden. Gegen Ende seiner Tage beschleunigte er sein ohnehin schon hohes Lebenstempo nochmals. Er trennte sich Hals über Kopf von seinem langjährigen Mentor Perkins und begab sich unter die Fittiche des jungen Lektors Edward C. Aswell von Harper & Brothers, dem er mit einem Kehraus sämtliche Manuskripte aushändigte.
Wolfe wollte offenbar mit siebenunddreißig noch einmal ganz neu anfangen. Der riesige Stapel seiner Skizzen und Entwürfe war ihm über den Kopf gewachsen. Es grauste ihn davor, aus dem Wust die beiden nachgelassenen Romane und die unfertige Novelle »Die Party bei den Jacks« zu fischen. »Genie genügt nicht«, hatte der Literaturkritiker Bernard de Voto im April 1936 in »The Saturday Review of Literature« gegen seine als redundant und formlos empfundene Prosa eingewendet, und sein Kollege Robert Penn Warren pflichte ihm bei: »Es sei daran erinnert, daß Shakespeare zwar Hamlet schrieb; aber nicht Hamlet war.« Solche Formulierungen wollte der »gigantomanische Rhapsode« (Paul Nizon) nicht auf sich sitzenlassen und nahm sich eine objektivere Diktion mit weniger puerilem Pathos und weniger sprachlichen Manierismen vor.
Die Einladung zu einem Vortrag an der Purdue University in Indiana im Mai 1938 kam für Wolfe wie gerufen. Er sei zwar kein Redner, aber für ein fettes Honorar von d-drei- hundert Dollar k-könne er einen beträchtlichen Haufen Gestotter zum Thema »Writing and Living« von sich geben, witzelte er gegenüber Freunden in New York, wo er im Chelsea Hotel zuletzt mehr gehaust als gewohnt hatte. Danach werde er in den Nordwesten der USA weiterreisen, wo er noch nie gewesen sei, und spätestens im Juli wieder an seinem Schreibtisch sitzen. Doch er hatte sowohl die Weite des Kontinents als auch eine unbändige Reiselust unterschätzt. »Ich habe noch nie so viel Üppigkeit, so viel Behäbigkeit, so viel Fruchtbarkeit gesehen«, schrieb er aus dem Mittleren Westen, aber er sei heilfroh, nicht aus diesem satten Flachland zu stammen, sondern aus den »rauhen Bergen« von North Carolina. Nach einem Aufenthalt in Chicago reiste er im Stromlinienzug »Burlington Zephyr« über Denver und Cheyenne nach Portland, Oregon, wo der Mount Hood ihn auf die uralte Felsenwelt der Cascade Range, der Sierra Nevada und der Rocky Mountains vorbereitete.
Eigentlich wollte er dort nach einem Zweig seiner Sippe suchen, von dem er sich Material für ein neues Romanprojekt erhoffte, das weit in die Geschichte zurückgehen und den ganzen Kontinent in den Blick nehmen sollte. Doch es kam anders: Richard Conway von der Oregon State Motor Association und Edward Miller von der Tageszeitung »The Oregonian« hatten von seiner Anwesenheit in Portland gehört und boten ihm für fünfzig Dollar eine Mitfahrgelegenheit an. Sie wollten mit dem Auto in nur zwei Wochen elf Nationalparks abklappern, um ihren Landsleuten zu zeigen, was für wenig Geld in ein paar Urlaubstagen möglich war. Die Idee hätte vom Verfasser der »Reise um die Erde in 80 Tagen« stammen können; in der »runaway world« von heute ist sie zur Normalität geworden.
Die Frage nach dem Sinn solcher Höllentrips hat sich für Thomas Wolfe anscheinend gar nicht gestellt. Er war aufreibende Besichtigungen gewohnt. Zwischen 1924 und 1936 hatte er auf Luxuslinern wie der »Olympic«, einem Schwesterschiff der »Titanic«, siebenmal den Atlantik überquert. Er war durch das fidele Paris und das neblige London gestreunt, hatte Goethes Gartenhaus besichtigt und im Romanischen Café gesessen. Doch die Naturwunder des amerikanischen Westens kannte er nur vom Hörensagen. Um diese Wissenslücke zu füllen, zwängte er sich am 20. Juni 1938 auf den Rücksitz eines cremeweißen Ford 81A und ließ in den nächsten zwei Wochen zackige Bergkämme und gigantische Felstafeln, dunkle Talgründe und gleißende Schneefelder, hitzeflirrende Salbeiwüsten und strotzende Obstfarmen an sich vorbeidefilieren.
Was hatte es mit dieser zyklopischen Bergwelt auf sich? Warum nahmen die Naturwunder zwischen Kalifornien und Colorado kein Ende? Bei den geologischen Vorträgen der Park-Ranger hörte er weg. Von Subduktion und Laramischer Gebirgsbildung wollte er nichts wissen. Die gigantischen Kräfte in der Erdkruste berührten ihn nicht. Als ihn am feingliedrigen Bryce Canyon eine »schicke junge Frau« über dessen 125 Millionen Jahre zurückreichende Erosionsgeschichte aufklären wollte, war er mehr an ihren engen Pyjamahosen als an der geologischen Tiefenzeit interessiert. Doch die elf Naturparks, mit denen er auf einer Strecke von mehr als siebentausend Kilometern konfrontiert wurde, ließen ihn natürlich nicht kalt: Crater Lake, Mount Shasta, Yosemite, Sequoia, Grand Canyon, Zion, Bryce Canyon, Grand Teton, Yellowstone, Waterton-Glacier, Mount Rainier.
Während Miller und Conway sich am Steuer abwechselten, war der Zweimetermann auf dem Rücksitz einem Feuerwerk von Bildern ausgesetzt. Abends im Schlafquartier trug er die optische Tagesausbeute in eines jener großformatigen Kontorbücher ein, die ihm schon bei der Niederschrift von »Schau heimwärts, Engel« zu Diensten gewesen waren. Sein fotografisches Gedächtnis kam ihm dabei entgegen: »Die Art und Eigenheit meines Gedächtnisses ist durch einen, wie ich glaube, mehr als gewöhnlichen Heftigkeitsgrad bewahrter Sinneseindrücke gekennzeichnet, durch ein Vermögen, dinghaft-lebendig die Gerüche, Laute, Farben, Formen und stofflich Tastbares wieder aufzurufen«, heißt es in seiner Programmschrift »Die Geschichte eines Romans« aus dem Jahr 1936, in der er seine Schreibweise erklärt. Abgesehen von ein paar Briefen sind die vorliegenden Reisenotizen das letzte Zeugnis, das der »gehetzte Reporter seines eigenen Lebens« (Alfred Andersch) hinterlassen hat. Vollständig veröffentlicht wurden sie erstmals 1951 von der University of Pittsburgh Press unter dem Titel »A Western Journal. A Daily Log on the Great Parks Trip«. Die Herausgeberin Agnes Lynch Star macht für den Telegrammstil der Aufzeichnungen die Bilderflut verantwortlich, die der Protokollant im zerknitterten Straßenanzug zu verarbeiten hatte. Doch sie hält den vom Fahrtwind durchwehten Notaten bei aller Flüchtigkeit auch ihren fiebrigen Eifer und ihre elementare Poesie zugute. Nirgends sonst in Wolfes Werk komme man dem Funkenflug der Inspiration so nahe wie hier.
Ein bloßer Mitschreiber ist der Verfasser der »Reise in den Westen« also nicht gewesen. Dagegen sprechen allein schon die bizarren Komposita und komplexen Wortspiele, mit denen er Lichtzauber und Farbenglanz der Landschaft einfängt. Mit dem Stakkato seiner Aufzählungen und Wiederholungen bildet er zudem das Höllentempo der Fahrt ab. Daß er ein sprachlicher Feinarbeiter von hohen Graden war, fiel schon Gottfried Benn auf: »Sätze reiner Lyrik« attestierte er Wolfes Novellensammlung »From Death to Morning« von 1936, die ein Jahr später unter dem Titel »Vom Tod zum Morgen« in Deutschland herauskam.
Im »Land seiner Vorfahren« wurde der Sohn eines pennsylvaniadeutschen Vaters von Beginn an begeistert aufgenommen. Eine Zeitlang war er hier sogar populärer als in seiner amerikanischen Heimat. Mit seinem faustischen Gebaren schien er den Deutschen aus der Seele zu sprechen; sie ernannten ihn kurzerhand zum »germanischen Berserker«. Nur der Emigrant Klaus Mann sah genauer hin und widersprach der vorschnellen Eingemeindung: »Im Gegensatz zu den Repräsentanten der älteren Generation, den nüchternen Chronisten und Gesellschaftskritikern Dreiser, Sinclair Lewis und Upton Sinclair, erscheint Wolfe durchaus lyrisch bekenntnishaft gestimmt; sein Stil ist weder journalistisch-tendenziös noch episch-objektiv, sondern primär poetisch; er ist der Visionär, der inspirierte Sänger unter den großen Erzählern des erwachenden, zu sich selber kommenden Kontinents.«
Daß Wolfe sich den Naturparks des amerikanischen Westens zuwandte, hat auch mit der politischen Versteinerung seiner Wunschheimat zu tun. Spätestens seit dem Jahr der Berliner Sommerolympiade 1936 ließ er sich nicht mehr von romantischen Giebelhäusern und Butzenscheiben täuschen, sondern nahm auch die Folterkeller und den Gesinnungsterror wahr. Im weltoffenen Berlin ging plötzlich die Angst um. Argwohn schlich sich in alle Gespräche ein. Die wulstnackigen Männer mit den geschorenen Köpfen, die dem jungen Wolfe schon bei seiner ersten Deutschlandreise im Jahr 1926 nicht ganz geheuer waren, hatten die Macht ergriffen.
Ein Foto zeigt ihn in Rückenansicht beim Ausbruch des berühmten Geysirs »Old Faithful«. Wie seine respektlose Akimbo-Pose ("legs apart and hands on the hips«) verrät, beeindruckte ihn der geothermische Kraftakt nicht sonderlich. Den majestätischen Redwoods dagegen, auf die er im Sequoia National Park traf, fühlte er sich auf Anhieb verbunden. Vor einem dieser bis zu dreitausend Jahre alten Bäume soll er eine Stunde lang verharrt haben. Erst die Meldung eines Parkbesuchers, Joe Louis habe Max Schmeling auf die Bretter geschickt, holte ihn in die Gegenwart zurück. Gern wüßte man, was der »amerikanische Homer« und der Baumriese aus der Familie der Zypressengewächse sich bei dieser Gelegenheit zu sagen hatten. Seiner Bewunderung waren die größten Geschöpfe der Erde allemal sicher, die mit einer Höhe von bis zu hundert Metern und einem Gewicht von zweitausend Tonnen selbst den Blauwal in den Schatten stellen. Daß es im Sequoia National Park zu der denkwürdigen Begegnung kam, ist John Muir (1838 –1914) zu verdanken, der Präsident Theodore Roosevelt auf einer Bergtour für die Idee der Naturreservate gewinnen konnte. Muir hatte die Sierra Nevada nicht im Auto durchquert, sondern auf alten Indianerpfaden erwandert. Er nächtigte in keiner Touristen-Lodge, sondern im Freien oder in einer selbstgezimmerten Hütte wie Henry David Thoreau. Für sein leibliches Wohl reichten ihm ein Brot und ein paar Becher Tee pro Tag. Statt uferloser Romane schrieb er naturgeschichtliche Studien und philosophische Traktate. Vor allem aber verfügte er über etwas, das Thomas Wolfe am allerwenigsten besaß: Zeit. »Nachdem ich mir einen Zinnbecher voll Tee gemacht hatte, setzte ich mich ans Feuer und dachte über die Erhabenheit der Gletscher nach, die ich gesehen hatte. Als die Nacht fortschritt, schienen die gewaltigen Felswände meiner Unterkunft näher zu rücken, während sich der Sternenhimmel strahlend hell wie eine Zimmerdecke von der einen Felsmauer zur anderen erstreckte«, schreibt er in einer Abhandlung über die Gletscher des Yosemite Valley (Die Berge Kaliforniens, Berlin 2013).
Nie wäre der Vordenker der Entschleunigung auf die absurde Idee gekommen, elf Naturparks in dreizehn Tagen zu bereisen. Und doch hat er durch sein stimmungsvolles »Nature Writing« dazu beigetragen, daß auch die letzten unberührten Wildnisse zur Beute der Zivilisation werden konnten. Am Ende dieser touristischen Aneignung der Natur stehen die Autos vor dem gigantischen Wahrzeichen »El Capitan« Stoßstange an Stoßstange. Ein Besucherstrom von mehr als vier Millionen Menschen jährlich trifft auf eine Infrastruktur aus asphaltierten Straßen, Parkplätzen, Unterkünften, Restaurants, Sportstätten und Informationszentren.
"Menschen, Menschen, Menschen« waren längst massenhaft in den Naturparks unterwegs, als die skurrile Fahrgemeinschaft den Tourismus weiter ankurbeln wollte. Wolfe nimmt in seinem Reisebericht nicht nur schneebedeckte Berge und düstere Schluchten, smaragdgrüne Ströme und schroffe Canyons, verbrannte Teufelswüsten und fruchtberstendes Farmland in den Blick, sondern vermerkt auch die Kellnerin mit dem müden Gesicht, den einsamen Tankwart, das putzige alte Mädchen, die Griesgrame auf der Veranda, den Eastern Cowboy und das blonde »Flittchen-Engelchen«. Wie der Maler Edward Hopper registriert er neben ausdruckslos ins Leere starrenden Menschen am Straßenrand auch architektonische Sinnbilder des Stillstands: verwitterte Geisterstädte, geschlossene Postämter, verlassene Tankstellen, leere Hot-Dog-Läden, riesige Getreidesilos, monströse Zementwerke und irre glitzernde Ladenfronten.
Der magische Moment seiner Aufzeichnungen kommt, als er in der verdorrten Wüstenwelt Arizonas einen Güterzug erblickt, der klein wie ein Insekt über eine ferne Bergflanke kriecht. Während John Muir es sich inmitten zerklüfteter Felswände und lichtloser Canyons gemütlich machte, löst die bewegungslose, die fortschrittslose, die »zeitlose Zeit« der Felsen bei Wolfe ein dunkles Vorgefühl kommender Schrecken aus.
Ob es sich um die rosafarbigen und grellweißen Erosionen des Bryce Canyon, die »teufelsverzerrte Röte« der Vermilion Cliffs oder die vom Colorado River ausgefräste Urlandschaft des Grand Canyon alias »Big Gorgooby« handelt, immer ist die anorganische Welt für ihn mit Ängsten besetzt, die von weit her kommen. Aus solchem toten Material stellte der aus Deutschland stammende Steinmetz William Oliver Wolf einst am Pack Square von Asheville Grabsteine und Friedhofsengel her. Sein jüngster Sohn entschied sich für biegsameren, verletzlicheren Stoff. Sein Thema war nicht die stoische Zeit der Felsen, sondern die flüchtige Zeit der Menschen: »Die Menschen! Ja, die Menschen! Die bestechlichen und die irregeführten Menschen, die übertölpelten und die abergläubischen Menschen, aber am Ende immer wieder die unbesiegbaren und ewigdauernden Menschen«, sagte er in seinem Vortrag an der Purdue University.
Nach dreizehn Tagen der »Vergeblichkeit, des Terrors, der Fremdheit und der Großartigkeit« nahm er am 2. Juli 1938 in Olympia, der Hauptstadt des Bundesstaats Washington, »mit ein bißchen Traurigkeit im Herzen« Abschied von seinen Begleitern Collins und Mitchell. Statt sich ein paar Tage auszuruhen, floh er vor der »kalten Bedrohung und Entsetzlichkeit« der Berge nach Seattle. Aus dem New Washington Hotel schrieb er an seine Agentin Elizabeth Novell: »Die Reise war wunderbar und entsetzlich zugleich – ich habe in den letzten zwei Wochen 5000 Meilen zurückgelegt, erst die ganze Küste hinab bis beinahe nach Mexiko, dann 1000 Meilen landeinwärts und schließlich nach Norden bis zur kanadischen Grenze – natürlich sind die Naturparks großartig, aber wichtiger waren für mich die Städte, die Dinge, die Menschen, die ich unterwegs traf – ein Kaleidoskop des Westens und seiner Geschichte entrollte sich in kurzer Zeit vor meinen Augen.« Doch der »hungrige Gulliver« wollte noch mehr sehen, erleben, aufnehmen. Er buchte eine Schiffspassage von Seattle nach Vancouver durch den Puget Sound. Dort kam er mit Schüttelfrost und hohem Fieber an. Auf dem kalten Deck des Küstendampfers hatte er einem »armen zitternden Kerl« einen Schluck aus seiner Schnapsflasche genehmigt und sich dabei nach eigenem Bekunden eine Grippe eingehandelt. Es dürften aber eher die Reisestrapazen und das exzessive Rauchen und Trinken gewesen sein, die ihn dafür anfällig gemacht hatten. Schwerkrank kehrte er nach Seattle zurück, wo ein überforderter Hausarzt ihn mit Hochfrequenz-Diathermie und Hustenmedikamenten traktierte. Wirksame Antibiotika gegen die viel zu spät diagnostizierte Lungenentzündung gab es noch nicht. Als die Kopfschmerzen und das Fieber nicht weichen wollten, legte man ihm eine Einweisung in das Providence Hospital von Seattle nahe. Dort wurde ein tuberkulöser Herd in seiner Lunge entdeckt.
Das Wort Tuberkulose versetzte den Patienten in Panik. Was es bedeutet, wußte er aus eigener Erfahrung. Seine Heimatstadt Asheville war ein bekannter Luftkurort, in der Pension seiner Mutter hatten auch Lungenkranke logiert. Als die Kopfschmerzen schließlich unerträglich wurden und alles auf eine Hirnhautentzündung hinwies, konnte ihm auch eine mehrtägige Bahnfahrt an die Ostküste nicht mehr helfen. Nach einer Schädelöffnung durch den angesehenen Hirnchirurgen Walter Dandy im Johns Hopkins Hospital zu Baltimore starb Thomas Wolfe am 15. September 1938 an tuberkulöser Meningitis.
"Ich habe wunderbare Dinge gesehen und alle Arten von Menschen getroffen – Ärzte, Anwälte, Holzfäller –, und wenn hier alles vorbei ist, habe ich einen Haufen großartigen Materials beisammen«, hatte er aus Seattle an seine Agentin geschrieben. Vor allem unter diesem Aspekt ist die hier erstmals in deutscher Übersetzung vorgelegte »Reise durch den Westen« lesenswert. Auf dem Tiefpunkt deutscher Wolfe-Vergessenheit, in der von Hubert Zapf herausgegebenen »Amerikanischen Literaturgeschichte« von 1996, wurde Thomas Wolfe nur noch mit einem Halbsatz als »Verfasser von ins Universale ausgeweiteten Autobiographien« bedacht, während seine Zeitgenossen Ernest Hemingway, William Faulkner, John Dos Passos und F. Scott Fitzgerald seitenlang gewürdigt werden. Nach seiner Wiederentdeckung durch die Neuübersetzungen des Manesse Verlags kann der unterschätzte Klassiker der amerikanischen Moderne zwar nicht mehr ignoriert werden, aber sein früher Tod spricht nach wie vor gegen ihn. Er ließ ihm einfach keine Zeit zur literarischen Entfaltung.
Doch nicht nur Totgesagte, auch Frühverstorbene leben bisweilen länger. Die losen Enden ihres kurzen Lebens lassen der Nachwelt keine Ruhe. Wolfe hat in seiner auto- biographisch grundierten Prosa eine so intensive und lebensechte Gedächtnisspur hinterlassen, daß ihm ein spukhaftes Nachleben sicher ist. In seiner düsteren Kellerwohnung in Brooklyn Heights brennt immer noch Licht. Kein Wunder, daß die literarische Hinterlassenschaft des Wiedergängers für immer neue Überraschungen sorgt, wie die Nachlaßeditionen »The Hound of Darkness«, »The Good Child’s River«, »The Starwick Episodes« und die ins Deutsche übersetzten Kabinettstücke »Der verlorenen Knabe« und »Die Party bei den Jacks« zeigen. Wolfe war nicht nur ein ruheloser Vielschreiber, sondern auch ein emsiger Projektemacher. Da er seine Lebensgeschichte so gut wie aus- geschöpft hatte, mußte er das Erinnern durchs Erfinden ersetzen und ist dabei offenbar im Wilden Westen fündig geworden, wie Mark Kanada in seinem Buch »Out of the West. Thomas Wolfe’s Final Journey« (Bloomington 2014) andeutet.
Zwischen Chicago und Portland muß Wolfe die Idee zu einer fiktiven Stadt namens Rolesby gepackt haben. Ein in dieser Finanzmetropole angesiedelter Roman sollte anscheinend die verderbtesten und ruchlosesten Seiten des amerikanischen Kapitalismus schildern. Als reale Vorlage des imaginären Sündenbabels kommt die von »schmutzigen kleinen Mormonendörfern« umgebene Kapitale Salt Lake City in Frage, wie die besonders ausführlichen und engagierten Notizen der »Reise durch den Westen« vom 26. Juni vermuten lassen. Mit ihren Wolkenkratzern, Hotelpalästen und dem »größten Tanzlokal der Welt« weist die bigotte Hauptstadt des Bundesstaates Utah genau die soziale Fallhöhe auf, die der Autor für seinen geplanten Roman brauchte. Obszöner Reichtum und krasse Armut existierten dort in unmittelbarer Nachbarschaft, ohne daß es die »Church of Jesus Christ of Latter-Day Saints« gestört hätte. Ein Gott, der die Reichen segnete und die Armen verkommen ließ, mußte Wolfe als »armer Leute Kind« empören. Wäre der verlorene Sohn der amerikanischen Literatur in der Lage gewesen, diesem Erzübel seines Landes in einem hochkarätigen Depressionsepos zu begegnen, auf das in Ansätzen schon der Roman »Es führt kein Weg zurück« und die nachgelassene »Party bei den Jacks« hinweisen?
Wie W. R. Burnetts 1941 erschienener Roman »High Sierra« zeigt, lag das Thema damals in der Luft. Auch er ist im moralischen Zwielicht der Zwischenkriegszeit angesiedelt und kann zudem mit einer packenden Verfolgungsjagd und einer wilden Schießerei zwischen den Bergzinnen der Rocky Mountains aufwarten. Eine filmreife Räuberpistole aus der Feder des »inspirierten Sängers« Thomas Wolfe? Das wohl eher doch nicht, aber ein alle Prunkbauten und Kellerlöcher des Hochkapitalismus ausleuchtendes Gesellschaftspanorama war dem »größten Talent seiner Generation« (William Faulkner) allemal zuzutrauen: »Haar sprießt aprilgleich aus der begrabenen Brust. Und aus den Stirnhöhlen sprießen die Totenblumen« ("Von Zeit und Fluß«, 1935).
Kurt Darsow
SINN UND FORM 4/2020, S. 508-531 , hier S. 508-513