Wegmann, Christoph
geb. 1948 in Walenstadt (Schweiz), unterrichtete an Gymnasien und in der Erwachsenenbildung, Essays, Rezensionen, Lesebücher, lebt in Basel. (Stand 1/2018)
Siehe auch SINN UND FORM:
- 1/2018 | Der Kanzler und die Sängerin. Aus Theodor Fontanes »Musée imaginaire«
Theodor Fontane besaß nicht besonders viele Bilder, sein Kopf aber war voll davon. Voller Fresken, Graffiti, Denkmäler, Zeitungsillustrationen, (...)
LeseprobeWegmann, Christoph
Der Kanzler und die Sängerin.
Aus Theodor Fontanes »Musée imaginaire»
Theodor Fontane besaß nicht besonders viele Bilder, sein Kopf aber war voll davon. Voller Fresken, Graffiti, Denkmäler, Zeitungsillustrationen, Spielkarten, Ofenkacheln mit biblischen Szenen und vielem mehr. 1819 geboren, wurde er Zeuge jenes Umbruchs, in dessen Verlauf Bilder die Schrift verdrängten und die Herrschaft über Wahrnehmen und Denken übernahmen.
Als Fontane sieben Jahre alt war, brachte der Vierfarbendruck die Lithographie in Schwung, und der Neuruppiner Bilderbogen, durch den der Knabe Theodor so vieles erfuhr, erstrahlte in farbigem Glanz. Als er zehn war, taten sich Joseph Nicéphore Niépce und Louis Daguerre zusammen, um das heliographische Verfahren zu verbessern. Mit dreizehn konnte er in der Wundertrommel die ersten Bilder laufen sehen, mit achtzehn die ersten hochwertigen Farbillustrationen bestaunen, mit vierundzwanzig die erste Illustrierte durchblättern. Dann kamen der Rotationsdruck und die Massenpresse auf, auch das Photonegativ, mit dem man von ein und derselben Aufnahme beliebig viele Abzüge herstellen konnte. Ab Mitte des Jahrhunderts errichtete man wie im Fieber in allen großen Städten Museen, Ausstellungssäle, Kunstgalerien und Rundgebäude für Panoramen. Litfaßsäulen und Plakatwände wurden montiert, die Bildergeschichten Wilhelm Buschs, Witzblätter und Kunstzeitschriften entstanden, Bilderschauen gingen auf Tournee. Als Fontane 1898 starb, gab es die Lichtreklame, die Photolithographie, den Rollfilm, den Bildtelegraphen und die Kinematographie; eigentlich alles, was das Auge begehrte. Und der Sprachmensch Fontane hat vieles davon mit wachem Interesse aufgenommen.
Der Bilderschatz, den Fontane im Verlauf der Jahrzehnte in seinem Gedächtnis ansammelte, wurde zu einem riesigen »Musée imaginaire«. Über 1500 Bildobjekte tauchen in seinen Romanen auf; nur etwa 300 davon sind Kunstwerke im engeren Sinn, die Mehrzahl stammt aus dem Alltagsleben, das der Erzähler mit außergewöhnlicher Aufmerksamkeit erkundet hat. In diesem imaginären Museum gibt es Abteilungen für Kinder und für Fromme, für Kenner von Karten, Globen und Modellen, für Liebhaber des Erotischen und des Panoptikums. Alle wichtigen Geschehnisse und Themen spiegeln oder konzentrieren sich in Bildern, mit Bildern lernen sich Figuren kennen und lieben, wegen Bildern zerstreiten und trennen sie sich.
Fontane war ein ausgesprochener Augenmensch, ja geradezu hypervisuell begabt. »Wir lernen mit den Augen am meisten«, erklärte er einmal seiner Frau, »es ist beständig tätig«. Auf sein Auge traf dies jedenfalls zu, es wurde zudem von einem phänomenalen Bildgedächtnis unterstützt. Als Fontane im Sommer 1880 an »Graf Petöfy« zu arbeiten begann, stützte er sich außer auf Kartenmaterial auch auf seine Erinnerungen an einen fünf Jahre zurückliegenden Wienaufenthalt, um die Schauplätze des Romans zu bestimmen. »Ich kenne jetzt in der Altstadt jede Gasse und weiß ganz genau, wo meine Personen wohnen«, berichtete er seiner Frau, nachdem er sich drei Tage in seine Erinnerungen und Tagebuchnotizen vertieft hatte. »Dies lokale sich Einleben bedeutet furchtbar viel; das andre findet sich schon, selbstverständlich wenn man seinen Stoff als Keim des Ganzen hat.« An anderer Stelle behauptete er, er könne sich etwas als »unverwischbares Daguerrotypbild« einprägen und unverändert behalten.
Überall fand er Bilder, auf denen etwas zu entdecken war, ein Detail, das seine Phantasie anregte – auf Friedhöfen und Rummelplätzen, in Wirtshäusern und Salons. Einmal, als er in einem sehr engen »Water-Closet« direkt vor seiner Nasenspitze die eingravierten Schweinigeleien von »talentvollen jungen Männern « inspizierte, fand er zu seinem Erstaunen darunter auch »die bekannte Figur des pythagoräischen Lehrsatzes« – eine Kombination, die sein »hellstes Lachen« hervorkitzelte. Er kannte keine Berührungsängste vor dem Gewöhnlichen oder gar Primitiven. In London besuchte er ebenso gern das Panoptikum mit den Wachsfiguren der Madame Tussaud wie die National Gallery. Wie ein Goldgräber wusch und siebte er Massen von Bildmaterialien, um die lauteren Stücke zu gewinnen, die für seine literarischen Anliegen brauchbar waren. So hat er seine Erzählkunst auch beschrieben, als »Dunkelschöpfung im Lichte zurechtgerückt«, denn in seinen Entwürfen sei stets »Dummes, Geschmackvolles, Ungeschicktes neben ganz Gutem«, und es gehe darum, dieses ganz Gute in mühsamer Arbeit »herauszupulen« und zu einem Gesamtbild zusammenzufügen.
Auf Reisen kaufte sich Fontane Ansichtskarten oder kleine Photoalben. Die Abteilung »Photographie« seines imaginären Museums umfaßt einige Dutzend Sammlerstücke, vor allem Visitenkartenbilder, Ansichtskarten und Porträtaufnahmen, die wichtigsten Photoformate im 19. Jahrhundert. Die massenhaft verbreiteten Visitenkartenphotos kamen ab 1860 auf. Brauchte Fontane eine solche Aufnahme, ging er wie alle andern ins Photostudio, allein oder mit Familie. Damals besaß fast niemand eine Kamera, die Kodak-Box kam erst 1895 auf den Markt. Fontanes erstes, bis heute erhaltenes Porträt stammt vom September 1863. Es handelt sich um ein Ganzkörperbild in Dreiviertelansicht: Der Vierundvierzigjährige ist in einen offenen Gehrock gekleidet und stützt den rechten Arm lässig auf eine Konsole; den schmalen Kopf erhoben, die feinen Haare nach hinten gekämmt, blickt er bestimmt und verträumt zugleich auf ein unsichtbares Objekt.
Auch Bismarck begab sich zuweilen ins Photostudio, einmal sogar ganz ohne politische Absicht. Der Kanzler begleitete eine attraktive junge Dame, und dabei entstand ein kleines Bild mit skandalöser Wirkung.
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SINN UND FORM 1/2018, S. 90-97, hier S. 90-92