Wajsbrot, Cécile
geb. 1954 in Paris, Romane, Essays, Hörspiele, Übersetzungen, lebt in Paris und Berlin. Auf deutsch erschienen zuletzt die Romane »Nevermore« (2021) und »Mémorial« (2023). (Stand 1/2024)
Siehe auch SINN UND FORM:
- 5/2007 | Die Krise des französischen Romans
- 6/2009 | Wieder eine Nacht
- 2/2012 | Die Zeremonie
- 1/2013 | Über Katastrophen schreiben
- 2/2014 | »Osnabrück ist das verlorene Paradies, nur nicht für mich.« Gespräch mit Hélène Cixous
- 2/2015 | Echos eines Spaziergangs in der Künstlerkolonie
- 4/2016 | Der Tag danach
- 6/2017 | Tröstung
- 5/2018 | Tag und Nacht
- 5/2018 | Ein Gespräch mit Matthias Weichelt und Gernot Krämer über Stimmen, Erinnerungen und Literatur
- 3/2021 | Die Literatur, ein unbekanntes Objekt
- 4/2022 | Ein Gespräch mit Juan Allende-Blin übers Komponieren, über Literatur und Exil
- 3/2023 | Das Gewicht der Vergangenheit. Über Bauwerke, die den Blick erstarren lassen
- 1/2024 | Verlorene Generation oder Die Macht der Namen
Wieder eine Nacht, in der ich nicht schlafe. Ich hatte auf Schlaf gehofft; als ich ins Bett ging, konnte ich die Müdigkeit schon fast mit Händen (...)
LeseprobeWajsbrot, Cécile
Wieder eine Nacht
Wieder eine Nacht, in der ich nicht schlafe. Ich hatte auf Schlaf gehofft; als ich ins Bett ging, konnte ich die Müdigkeit schon fast mit Händen greifen, die neblige Schwere wurde dumpfer und dumpfer bis zum unbestimmbaren Moment des Einschlafens. Da erwache ich. Lasse die Augen zu. Hoffentlich ist es wenigstens vier oder fünf; sechs wage ich nicht zu denken, es ist dunkel, um mich die Stille des Schlafs, und neben mir verrät der regelmäßige Atem meines Gefährten, daß er schläft, wie sicher auch alle Nachbarn oben, unten und nebenan. Ich öffne die Augen – man muß der Wirklichkeit ins Auge sehen. Jedesmal sind die Ziffern unerbittlich, 0.55 Uhr, 2.10 Uhr, 1.40 Uhr, 1.15 Uhr. Um diese Zeit ziehen sich die Stunden hin, endlos und eintönig. Ich bin zu wach, um wieder einzuschlafen, aber nicht wach genug, um zu lesen, zu schreiben, etwas zu tun. Manchmal kann ich das. Bei einigen Büchern, Romanen oder Gedichten, die ich mir in der Not dieser Nachtwüsten vornahm, hatte ich das Gefühl, extra für sie erwacht zu sein. Ich las und las und vergaß die Zeit, bis ich zur letzten Seite kam und endlich die Müdigkeit die Oberhand gewann. Doch dazu braucht es ein besonderes, übersteigertes Bewußtsein. Mitunter schrieb ich auch ein paar Seiten – aber das war noch seltener. Heute ist alles wie sonst, es gibt keine Schonung.
Ich bleibe liegen und versuche mir einzureden, daß der Schlaf auf einmal wie ein Schauer kommen könnte, ich weiß, es ist ganz unwahrscheinlich, doch Aufgeben erfordert Mut, Mut, den langen Weg zu gehen, wo jeder Schritt Verzicht bedeutet, Rückzug vom normalen Leben. Und jetzt aufstehen, lautlos, um meinen Gefährten nicht zu wecken – so lautlos, als beginge ich einen Verrat, ließe unser gemeinsames Leben hinter mir –, und das Gefühl der Einsamkeit überwinden, indem ich mich am anderen Ende der Wohnung aufs Gästebett lege, wo ich Radio hören kann. Auf wie vielen Betten habe ich so gelegen, nicht gerechnet die Einzelbetten und die halb oder ganz genutzten Doppelbetten in Hotelzimmern, die nach Norden oder Süden gingen, in Paris, Berlin, Sofia, New York, Lwow, Aix-en-Provence, Seoul – harte und weiche Matratzen, Schlafmöbel, die zu Arenen eines gnadenlosen Kampfes wurden, zwischen Bewußtsein und Müdigkeit, zwischen gewesener oder kommender Anspannung und einem Loslassen, das nah und doch unmöglich ist. Wie viele Betten und wie viele hundert oder tausend Radiosendungen in mir bekannten oder nicht bekannten Sprachen – wie viele Radiostunden nach den üblichen Mitteln: die fünfzig US-Bundesstaaten in alphabetischer Reihenfolge memorieren, zwanzig Städte mit A oder B finden, zwanzig Schriftsteller, zwanzig Romanfiguren, zwanzig Buchtitel, kleine Listen, um den Feind zu täuschen, den Verstand auszuschalten, um nicht dauernd an Unsinniges zu denken, um Raum zu schaffen – für den Schlaf.
Eine Stimme bricht das Schweigen, jemand redet, doch ich erkenne keine Worte, Langeweile und Überdruß stellen sich ein, ich wälze mich hin und her, ich gehe die Sender durch, irgendwie aufgewühlt ohne Sinn und Verstand – wo finde ich Ruhe? Manchmal rettet mich Musik aus dieser engen Welt, in der es nur Schlafen und Wachen und kein Dazwischen gibt, manchmal entführt mich Musik aus der Beklommenheit, und ich lebe nur noch für die nächste Note, den nächsten Ton, ich glaube zu begreifen, etwas Einmaliges zu erfassen. Oder ich vertiefe mich in Sendungen über die Geschichte der Gastronomie, den mittelalterlichen Roman, ich lausche den Stimmen von Toten und höre Beiträge über ihr Leben und Werk, ich höre Anrufer von ihrer Geschichte, ihrem Leid erzählen, und etwas geht auf – eben noch fühlte ich mich einsam und verlassen, und jetzt kommt die Welt zu mir. Schlaf ist nicht mehr das Wichtigste. Und während andere schlafen, wird mein Leben weiter.
Aus dem Französischen von Gernot Krämer
SINN UND FORM 6/2009, S. 745-746
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Die leere Straße setzt das Schweigen der Wege fort, Sonntag ist der schlimmste aller Tage und dieser Sonntag ist der schlimmste aller (...)
Wajsbrot, Cécile
Die Zeremonie
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Die leere Straße setzt das Schweigen der Wege fort, Sonntag ist der schlimmste aller Tage und dieser Sonntag ist der schlimmste aller Sonntage, aus der Autobahn Chartres–Orléans wurde die Autobahn Nantes–Bordeaux, mehr hat sich nicht verändert, wie die Kilometer ziehen die Jahre vorüber, eines nach dem anderen, stumpfsinnig, der Frühling, wechselhaft, ohne Schatten, reicht in den Sommer hinein, bleibt im Winter stecken, man verläßt die Autobahn, und die Straße zieht sich schnurgerade, schneidet die monotone Landschaft entzwei, die flach und gnadenlos horizontal ist.
Ich bin unterwegs in einem Auto, das nicht existiert, der Tag hat ein Datum, eine Zahl, einen Monat, aber kein Jahr, die Ausdehnung der Zeit – die Ausdehnung meines Lebens – erscheint mir monoton, flach, gnadenlos horizontal. Natürlich steht ein Ortsname auf Schildern, die in eine Richtung weisen, aber ich fahre doch eher durch eine Wüste, diese Anreise hat mit anderen keine Ähnlichkeit.
Nun, so war das, erzählte meine Großmutter, deren Stimme mir abhanden gekommen ist, schon vor langer Zeit, auch wenn ich mir eine Ahnung von ihr bewahrt habe, abstrakt und doch eigen. Nun, so war das, erzählte meine Großmutter alljährlich im Auto, wenn wir uns dem Ort der Zeremonie näherten, den ich auch heute aufsuchen werde, und außerdem weiß ich nicht einmal, ob sie jemals »nun, so war das« gesagt hat, ob diese Wendung überhaupt zu ihrem Wortschatz gehörte, in ihr Französisch paßte.
Beaune-la-Rolande, ein seltsamer Name, wenn man es recht bedenkt. Aber wer bedenkt es recht? Jedes Jahr diese Erzählung – dabei bin ich außerhalb der Zeit, hier, wo es nichts als Erinnerung, Gedächtnis, Gedenken gibt.
Mein Großvater hatte eine Vorladung erhalten, er sollte sich eines Morgens zur Feststellung seiner Identität in der Kaserne einfinden, Boulevard des Maréchaux, gleich bei der Porte de Bagnolet – so hat es meine Großmutter natürlich nicht erzählt, sondern weniger präzise, es wurden auch keine Namen genannt, oder die Namen kamen mit den Jahren, erst nach zehn Jahren hatten wir ein Anrecht auf die Porte de Bagnolet, noch einmal fünf Jahre, bis wir erfahren durften, daß diese Vorladung »der grüne Brief« genannt wurde. Mein Großvater verarbeitete Leder, schnitt Kleider zu, er wollte der Vorladung zeitig nachkommen, um es möglichst schnell hinter sich zu haben und zur Arbeit gehen zu können. Er war ein gewissenhafter Mann mit Pflichtgefühl, mit Überzeugungen, er hatte sich 1939 zum Krieg gemeldet, obwohl er Ausländer war, er wollte Frankreich verteidigen. So gingen sie beide zusammen los – meine Großmutter begleitete ihn –, aber durch die Tür ging er allein. Andere waren bereits da, vielleicht unterhielten sie sich miteinander, tauschten Informationen aus, Zweifel, Befürchtungen.
Warten wir, ob welche rauskommen, sagte meine Großmutter. Sie werden uns sagen, was da drinnen vorgeht.
Sie hatte ein mißtrauisches Naturell, hätte wahrscheinlich gern etwas mehr gewußt, aber vielleicht ist es auch so, daß ihr Mißtrauen von damals kam; er dagegen wollte pünktlich sein und bald an seine Arbeit zurückkehren.
Er ging also durch das Portal, meine Großmutter wartete – wie lange, weiß ich nicht, das hat sie mir nie gesagt, ich habe sie auch nicht danach gefragt (die Fragen kommen später, lange nach dem Tod derer, denen man sie stellen wollte, denn anfangs, wenn sie noch da sind, will man es nicht wissen, weil jedes Wort ein Gewicht mehr ist, das sich auf die Waage legt, und später wüßte man gerne alles, als sollte die Geschichte, die man um jeden Preis abweisen und loswerden mußte, sich von nun an um jeden Preis selbst erzählen, müßte erkannt und angenommen werden, damit man endlich man selbst sein kann) –, meine Großmutter wartete wie die anderen, all die Frauen, die ihre Männer begleitet hatten, weiterhin gingen Leute hinein, aber es kam keiner heraus.
Plötzlich war eine Stimme im Lautsprecher zu hören. Meine Großmutter erzählte und ich sah die Bilder, Jahr um Jahr, im Auto, das uns nach Beaune-la- Rolande fuhr. Und ich hörte die Stimme aus dem Lautsprecher.
Gehen Sie nach Hause. Packen Sie einige Sachen für Ihre Männer zusammen. Sie werden an einen anderen Ort gebracht werden.
Wie war die Formulierung genau: Sie werden an einen anderen Ort gebracht? Wir nehmen sie mit? Sie werden in einem Lager arbeiten? Sie werden bis auf weiteres festgehalten, zurückbehalten, abtransportiert, deportiert, konzentriert? Wie haben sie sich ausgedrückt? Was sie auch immer gesagt haben mögen, nun begann das Schlimmste, das Schlimmste, das kommen sollte. Der Beginn einer langen Reise, die an dem Tag, als ich einmal mehr zum Treffen von Beaune-la-Rolande ging, vielleicht noch nicht zu Ende war.
Tagebuch
14. Mai 1991
Und ich dachte, richtig, Sonntag, Beaune-la-Rolande, zwar bin ich nicht dort, aber immerhin sitze ich in einem Zug.
18. Mai 1992
Gestern Beaune-la-Rolande, und ich fuhr zum ersten Mal ohne meine Großmutter hin. Einige Leute, vielleicht zweihundert Personen, schwer zu schätzen, die, die immer kommen, Jahr um Jahr, wie zu einer Verabredung, man kennt sie ein wenig, man kennt sie vom Sehen, es gibt auch die Generationenunterschiede in Verhalten und Kleidung, soziale Unterschiede, Unterschiede in der Integration. Und doch hat jeder sein Leben, geht seinen Weg, oder tut nur so, eine Strecke, auf der allerdings Beaune-la-Rolande liegt, und alle treffen sich dort, um sich wenigstens an einem Tag im Jahr einzugestehen, daß es eine Wunde gibt, die sich nicht schließen wird.
18. Mai 1993
Beaune-la-Rolande. Der Mann, der das organisiert und der Jahr für Jahr die gleichen Reden hält, war krank, also hat seine Enkelin den Text vorgelesen. Dann war Kafka an der Reihe, ein Überlebender, der einzige aus dem Lagerchor – es gab nämlich einen Lagerchor –, er hat dort unten ein Lied geschrieben, auf jiddisch, es geht um Hoffnung und Brüderlichkeit, um Bäume, die wieder blühen – denn sie sind im Frühling dort angekommen.
16. Mai 1994
Gestern Beaune-la-Rolande, eineinhalb Monate nach dem Tod meiner Großmutter. Wieder dieselben Reden, der Mann, der das organisiert, war wieder da und Kafka hat sein Lied gesungen. Alles war wie immer, nur daß Großmutter nicht mehr da war. Obwohl sie ja schon einige Jahre nicht mehr dabeigewesen ist, gelähmt zu Hause lag, reglos und schweigend, war es jetzt doch ganz anders. Seit dreißig Jahren komme ich hierher, sehe Leute, und dann eines Tages sieht man sie nicht mehr, andere sind da, um sie zu ersetzen, oder niemand, und es vergeht die Zeit, in Richtung Tod.
15. Mai 1995
Beaune-la-Rolande, gestern. Freitag abend, ich habe es nicht ausgehalten, ich wollte eigentlich nicht hingehen, oder es sollte das letzte Mal sein, weil sich wieder etwas in mir auflehnte, von dem ich dachte, es hätte sich gelegt. Warum muß denn die Geschichte noch immer auf uns lasten? Endlich angekommen, fühlte ich mich besser, oder vielmehr hatte ich das Gefühl, daß es richtig war, hier zu sein. Als ich dann an meine Großmutter dachte, sah ich sie am Fuß des Mahnmals in ihrem schwarzen Mantel, reglos, wartend, dann, bei den Reden, war sie ganz Ohr, schaute auf, weinte beim Totengesang. An ihrem Platz stand eine alte Dame, die Tochter und der Schwiegersohn kamen mit einem Klappstuhl, damit sie sich setzen konnte, und sie bekam jenen Blick der freudigen Überraschung, den auch meine Großmutter manchmal hatte, als sie sich wegen ihrer Krankheit nur noch durch die Augen mitteilen konnte. Ich fragte mich, was sie wohl erlebt hat und woran sie jetzt dachte, vielleicht daran, daß sie bei ihr und für sie da sind.
Über meinen Großvater weiß ich nichts, außer daß er in Auschwitz gestorben ist. Dieser Tod definiert ihn, dieses Schicksal. Alles wäre anders gekommen, wenn er dagewesen wäre, sagte Großmutter immer wieder, aber nun ja, sie hat dieses Leben geführt und nicht ein anderes, und wir sind ihr nachgefolgt, eine, zwei Generationen später, ein schwieriges Leben, das auf einem lastet, unmöglich, sich zu integrieren, aber doch auch ein Ereignis, das etwas begründet – eine Herkunft, anstatt der Leere so vieler anderer Leben.
14. Mai 1996
Beaune-la-Rolande in der Kälte, Sonntag. Der ehemalige Bürgermeister, der letztes Jahr abgetreten ist, stand jetzt unter uns, aber schweigend und anonym, während der Neue technokratische Worte von sich gab. Er sagte »Sie«, wenn er uns ansprach, »Ihr Schmerz« – ihn geht das nichts an.
12. Mai 1997
Dasselbe bei prasselndem Regen.
17. Mai 1999
Beaune-la-Rolande, gestern, und ich dachte mir, jetzt ist alles geschafft, die Erinnerungsarbeit, wie sie das nennen. Früher hatten wir das Schlimmste hinter uns – die Katastrophe – und jetzt haben wir es vor uns. Nicht mit der Vergangenheit müssen wir uns konfrontieren, sondern mit der Gegenwart, der Zukunft.
Paris, 12. September 1990
Ich wurde 1954 geboren – der Krieg war seit neun Jahren vorbei. Der Mann meiner Großmutter starb als Deportierter in Auschwitz. Bevor er dorthin kam, war er ein Jahr im Lager von Beaune-la-Rolande, das in der Nähe von Pithiviers liegt. Ich habe diesen Großvater nicht gekannt, aber meine Großmutter erzählte sehr ausführlich, und zweifellos recht früh, von den Gaskammern, den Lagern, der Verhaftung, davon, wie die Polizei kam, um sie mit ihren zwei Kindern zu holen, wie sie die Demarkationslinie überschritten hat, all das, und ich trage an diesen Bildern aus einer anderen Zeit, einem anderen Leben, ohne mich von ihnen lösen zu können. Seit 1964 gehen wir alle jedes Jahr nach Beaune-la-Rolande, um immer dieselben Reden zu hören von denselben Vereinen und denselben Amtspersonen, die absurde Wiederholung eines pietätvollen Nie-Wieder, und gleichzeitig sind das alles in allem sechsundzwanzig Jahre, wobei ich an den Fingern einer Hand abzählen kann, wann ich nicht dabei war, und jedesmal würde ich alles geben, nur um nicht hinzumüssen, aber es ist nichts zu machen, also gehe ich wieder hin, warte, bis es vorbei ist – doch in Wirklichkeit ist es nie vorbei. Dieses Jahr war ich nicht dort, aber ich war in Auschwitz.
Ich habe das Gefühl, ein Gewicht hinter mir herzuziehen, das nicht meines ist, ein Leben, das nicht meines ist, dessen Schatten sich aber je nach der Tageszeit verändert. Ich nehme an, daß es auch anderen so geht, ich weiß, wir sind viele, ich nehme an, diese Katastrophe war übergroß, als Ganzes nicht zu ertragen, und deshalb mußte man sie aufteilen unter den Generationen.
[...]
SINN UND FORM 2/2012, S. 195-212
»Du bittest mich, Dir das Ende meines Onkels zu schildern, damit Du es desto wahrheitsgetreuer der Nachwelt überliefern kannst. Ich danke Dir; denn (...)
LeseprobeWajsbrot, Cécile
Über Katastrophen schreiben
»Du bittest mich, Dir das Ende meines Onkels zu schildern, damit Du es desto wahrheitsgetreuer der Nachwelt überliefern kannst. Ich danke Dir; denn ich sehe, daß seinem Tod, wenn er von Dir beschrieben wird, unsterblicher Nachruhm bestimmt ist. Denn obwohl er bei der Verheerung der schönsten Landstriche, wie die Bevölkerung, wie ganze Städte, den Tod fand und wie sie durch diese denkwürdige Katastrophe gleichsam ewig leben wird und obwohl er selbst viele bleibende Werke verfaßt hat, wird die Unvergänglichkeit Deiner Schriften doch viel zu seinem Fortleben beitragen.«
So beginnt der Brief Plinius’ des Jüngeren an Tacitus, in dem er vom Tod seines Onkels Plinius des Älteren, des Autors der »Naturgeschichte«, durch den Vesuvausbruch im Jahr 79 berichtet, bei dem Pompej verschüttet wurde. Es sei, schreibt er, eine Pflicht, die näheren Umstände zu schildern. Eine Gedenkpflicht, würde man heute sagen.
Man weiß nicht genau, von wann der Brief stammt. Die Ereignisse im sechsten Buch seiner Briefe legen nahe, daß er um 106/107 unserer Zeitrechnung geschrieben wurde, also etwa dreißig Jahre nach dem Vorfall. Eine Art nachgereichtes Zeugnis.
Denn alles spricht dafür, daß der Bericht wahrhaftig ist. Tacitus hatte Plinius um den Gefallen gebeten, damit er die Vorfälle »desto wahrheitsgetreuer der Nachwelt überliefern« könne. Die nachfolgende Erzählung verbindet die Schilderung der Todesumstände von Plinius dem Älteren mit Beschreibungen des Vesuvausbruchs.
»Die Wolke erhob sich – aus welchem Berg, konnte man aus der Entfernung nicht deutlich erkennen; daß es der Vesuv war, erfuhr man erst später.« Das Zeugnis ist noch ungenau, Eindrücke werden beschrieben, aber der Name, der Echtheitsnachweis des Historikers, fehlt noch, denn wegen ihrer Nähe lassen sich zeitgeschichtliche Ereignisse nur selten namentlich benennen. »Ihre Erscheinungsform veranschaulicht wohl kein Baum besser als die Kiefer. Denn sie wuchs wie in einem sehr langen Stamm in die Höhe und breitete sich dann in mehreren Ästen aus.« Wieder kommt der Name später – und was für einer, heißt diese Art Eruption doch seither und bis heute die Plinische.
»Ich glaube, weil sie durch einen kräftigen Aufwind emporgerissen wurde und sich dann, als dieser nachließ, kraftlos oder auch unter der Last ihres eigenen Gewichts in die Breite ergoß. Bisweilen war sie weiß, bisweilen schmutzig und fleckig, je nachdem sie Erde oder Asche mitgerissen hatte.«
Beim Lesen dieser Sätze und anderer, die folgen – »schon fiel Asche auf die Schiffe, und je näher sie herankamen, desto heißer und dichter, schon Bimssteine und sogar schwarzgebrannte und durch Feuer geborstene Steine; schon bildeten sich plötzliche Untiefen, und der Strand war durch Geröll-Lawinen vom Berg unzugänglich« – kommt man nicht umhin zu denken, daß das schön ist. Alles läuft wie in einem Film ab, in Schwarzweiß und in Farbe. Meer, Asche, Erde – der Krieg der Elemente. Für uns, die wir es heute lesen, ist das fast zweitausend Jahre her, man denkt nicht mehr an die Toten vom Pompej, die auch ohne Vesuvausbruch schon lange tot wären. Der zeitliche Abstand tut seine Wirkung, macht gleichgültig, lenkt den Blick auf die Form – keiner von uns hat unmittelbar damit zu tun, kein Verwandter kam zu Tode. Doch vielleicht ertappt man sich bei heutigen Ereignissen, bei bestimmten Fotos aus Haiti nach dem Erdbeben, bei ähnlichen Gedanken. Die Bildeinstellung, die Farben – schon ist das unmittelbare Zeugnis verwischt, eine Inszenierung, ein Standpunkt werden sichtbar. Wieder ein Abstand, diesmal ein räumlicher, der analog zum zeitlichen wirkt. Wurden solche Fotos in haitianischen Zeitungen gedruckt? Die Unmittelbarkeit des Zeugnisses ist verwischt, die Reportage stellt Abstand her – nicht umsonst kann das Wort auch aufschieben, vertagen heißen.
In seinem 1766 erschienenen »Laokoon« nimmt sich Lessing vor, ausgehend von der im Rom der Renaissance wiederentdeckten antiken Laokoon-Gruppe die Grenzen von Malerei und Poesie – oder besser, Bildender Kunst und Literatur – abzustecken. Er wendet sich in erster Linie gegen Winckelmann, der wie andere vor ihm bemerkt hatte, daß Laokoons Gesicht, anders als sein Körper, nur verhaltenen Schmerz ausdrücke. Laokoon schreit nicht: Weil er den Schmerz zu bezwingen weiß, sagt Winckelmann; also aus Charakterstärke. Weil die Darstellung des Schreis sein Gesicht entstellt und ihn häßlich gemacht hätte, sagt Lessing; also aus ästhetischen, nicht aus ethischen Gründen. Die Kunst strebe nach dem Schönen, selbst wenn sie Leiden darstelle. Wäre Laokoons Schmerz realistisch dargestellt, sähe man weg. Zudem, fährt Lessing fort, müsse die Kunst der Einbildungskraft freies Spiel lassen. Der Maler Timomachus malte Medea nicht, wie sie ihre Kinder tötet, sondern kurz davor, als ihre mütterliche Liebe noch mit ihrer Eifersucht kämpft. Er malte den Konflikt, die Ambivalenz – die von größerer dramatischer Intensität sind als die nackte Tat –, und darum zittert der Betrachter des Freskos beim Gedanken an das Kommende wie der Zuschauer eines Films, wenn die Musik anschwillt und ein Drama ankündigt.
Und da eines der Themen von Lessings »Laokoon« der Unterschied zwischen Malerei und Poesie ist, verweilt er bei der Beschwörung Laokoons im Zweiten Buch von Vergils »Äneis«. Vergil schildert seinen Kampf mit den beiden Wasserschlangen, die erst seine Söhne und dann ihn angreifen. Was die Bildende Kunst gleichzeitig, in einem Bild darstellt, zeigt die Literatur als Abfolge. Der Kunst des Raumes steht die Kunst der Zeit gegenüber. »Schon haben sie zweimal seine Mitte umfaßt, zweimal um seinen Hals die schuppigen Rücken gelegt, sie erheben steil ihren Kopf und Nacken. Er sucht mit den Händen die Knoten zu lösen, seine Priesterbinden sind von Geifer und schwarzem Gift befeuchtet, und er sendet furchtbares Geschrei zum Himmel.« Die Beschreibung wirkt statisch, ist es aber eigentlich nicht. Diesen schreienden Laokoon, erklärt Lessing, haben wir schon anders gesehen, als liebenden Vater, als Patrioten, der Troja vergeblich zu verteidigen sucht. Wenn wir ihn schreien sehen, mischen sich Bilder aus seiner Vergangenheit hinein, machen ihn menschlich und uns ähnlich – statt ihn durch eine monströse Darstellung des Schmerzes zu entmenschlichen –, und er wird zum Symbol des Schicksals.
Plinius beschreibt den Vesuvausbruch nicht, weil Tacitus sich nach ihm erkundigt, sondern weil dieser die Todesumstände Plinius’ des Älteren erfahren will. Manche haben die Echtheit der Briefe in Zweifel gezogen. Da Plinius Teile seiner Korrespondenz zu Lebzeiten veröffentlichte und keine Antwortbriefe überliefert sind, überlegten sie, ob er die Briefform nicht benutzte, um fingierten Adressaten zu schreiben, realen Personen, für die sie aber nie bestimmt waren. Wenn es auch möglich und sogar wahrscheinlich ist, daß Plinius seine Briefe für die Veröffentlichung überarbeitet hat, so gibt es doch keinen Grund, an ihrer Echtheit und damit an der Bitte des Tacitus zu zweifeln. Nicht die Naturkatastrophe ist also der Auslöser des Textes, sondern ein Einzelschicksal, der Tod eines Mannes, der aus wissenschaftlicher Neugier und um andere zu retten zu lange und zu dicht an Orten blieb, die er hätte fliehen sollen. Und doch eröffnen der sechzehnte und der ergänzende zwanzigste Brief des Plinius eine lange, Jahrhunderte und Kontinente überspannende Reihe von Texten, die von geschichtlichen und Naturkatastrophen künden. Gewiß, es gab die »Ilias«, in der Homer den Trojanischen Krieg besang und Schlachten schilderte, doch dieses Epos war als Verherrlichung des Heldentums gedacht und präsentiert sich als Ursprungserzählung. Als Erzählung von Siegern. Beim Vesuvausbruch gibt es weder Sieger noch Besiegte, oder vielmehr, es gibt nur Besiegte; einige haben überlebt, andere nicht, aber jeder hat etwas verloren. Eine lange Reihe von Verlusterzählungen hebt an: angefangen mit dem Erdbeben von Lissabon, das den Philosophenstreit des 18. Jahrhunderts über die Vorsehung bestimmte, wie u. a. Voltaires Gedicht zeigt, über das Erdbeben in Chili, das Kleist zu einer Novelle anregte, und die Katastrophe von Tschernobyl, die Swetlana Alexijewitsch beschrieben hat, bis hin zu den jüngsten Texten haitianischer Schriftsteller nach dem Erdbeben 2010. Auch die Schilderung des großen Erdbebens 1905 in Japan durch den damaligen französischen Botschafter Paul Claudel wäre zu nennen. All die Science-Fiction-Romane über Verheerungen durch Natur- oder Atomkatastrophen oder rätselhafte Krankheiten, wie Jack Londons »Scharlachrote Pest«. Bücher über geschichtliche Katastrophen, wie Kenzaburo Oes »Notizen aus Hiroshima«. Oder Chaim Nachman Bialiks bedeutendes Gedicht »In der Stadt des Tötens« über die Pogrome 1903 in Kischinew. Und jene, fast hätte ich gesagt, Ur-Katastrophe, was sie chronologisch gesehen gar nicht ist, die man auf den Begriff Auschwitz bringen kann. Doch dieser Name wirft einen zu großen Schatten, verbreitet die schwarze Aura des Grauens und verdammt zum Schweigen, zu wirren, ungreifbaren, widersprüchlichen Gedanken; dafür gibt es keinen Maßstab, keinen Vergleich; Adornos aus dem Zusammenhang gerissener, tabugespickter Satz von der Unmöglichkeit, nach Auschwitz Gedichte zu schreiben, wo doch zur selben Zeit Paul Celan schrieb. Doch darüber wurde schon so viel gesagt, daß ich die Sache anders angehen möchte, wenn man ihr schon nicht ausweichen kann. Hat Imre Kertész nicht geschrieben, auch wenn ich nicht von Auschwitz spreche, spreche ich von Auschwitz?
1979 veröffentlicht der in Frankreich verkannte deutsche Philosoph Hans Blumenberg sein Buch »Schiffbruch mit Zuschauer«. Wegen seiner jüdischen Mutter durfte der 1920 in Lübeck Geborene und 1996 Verstorbene nicht wie vorgesehen als bester Schüler seines Abiturjahrgangs eine Rede halten und konnte später auch sein Studium nicht zu Ende führen. Von den Kommilitonen diskriminiert, fand er eine Stelle als Verkäufer und wurde 1945 in ein Arbeitslager deportiert, aus dem er fliehen konnte. Nach dem Krieg nahm er sein Studium – Philosophie, Germanistik, Klassische Philologie – wieder auf und schlug eine Universitätslaufbahn ein. In seinem reichhaltigen Werk untersucht er u.a. Metaphern und ihre metaphysischen Substrate und vermerkt deren Präsenz in der Welt. Den Schiffbruch mit Zuschauer zum Beispiel. Die westliche Philosophie, erläutert Blumenberg, betrachtet die menschliche Existenz als Überfahrt. Es wimmelt von Metaphern, die aus der Vorstellungswelt der Seefahrt schöpfen, selbst in Ländern ohne Zugang zum Meer. Sturm, Erreichen des sicheren Hafens, Schiffbruch, Insel des Friedens, Wogen … Der Philosoph betrachtet die Wirklichkeit wie ein Zuschauer, der vom Festland den Kampf eines anderen mit dem sturmgepeitschten Meer verfolgt. Aus der Beobachterposition heraus wird er zum Zeugen. Doch der Zeuge kann den Boden unter den Füßen verlieren und sich in die Lage des Schiffbrüchigen einfühlen, also selbst die Erfahrung des Schiffbruchs machen. Vielleicht ist das die Brücke zwischen Philosophie und Literatur. In dem Brief über den Vesuvausbruch und den Tod seines Onkels ist Plinius dieser Zuschauer, der dem Schiffbruch beiwohnt und ihn vom Festland aus beschreibt. Eine fingierte oder besser gesagt konstruierte Position, die der andere, der zwanzigste Brief Lügen straft. Diesmal wollte Tacitus wissen, wie Plinius selbst die Katastrophe erlebt habe. Hier nun die gleiche Szene noch einmal, mit Übereinstimmungen und Abweichungen:
»Bebt auch schaudernd das Herz mir zurück bei dieser Erinnerung …«. Der Bericht ist von Beginn an subjektiv, während der frühere im Zeichen der Objektivität stand. Wieder zeichnet sich ein steter Wechsel ab, diesmal zwischen einer diskreten Innensicht und dem Versuch zu beschreiben. Doch die Beschreibung ist viel konkreter als im ersten Brief. Hieß es in jenem: »Schon bildeten sich plötzliche Untiefen, und der Strand war durch Geröll-Lawinen vom Berg unzugänglich«, so heißt es nun: »Außerdem sahen wir, daß sich das Meer in sich selbst zurückzog und durch das Erdbeben gleichsam zurückgedrängt wurde: jedenfalls hatte sich die Küstenlinie weiter vorgeschoben und hielt viele Meerestiere auf dem trockenen Sand fest. Auf der anderen Seite eine schwarze, grauenerregende Wolke, von züngelnden und aufschießenden Streifen feuriger Lohen durchzuckt, die in langen Flammenerscheinungen aufriß: Blitzen waren sie ähnlich, nur größer.« Eine Erregung kommt zum Vorschein, die im ersten Brief fehlte. Ängste, auf die nur angespielt wurde (die »verstörte Menschenmenge«), werden nun ausführlich beschrieben. »Die einen suchten mit ihren Stimmen die Eltern, andere ihre Kinder, andere ihre Ehefrauen und suchten sie an der Stimme zu erkennen; diese klagten über ihr eigenes, jene über das Schicksal ihrer Angehörigen; da waren welche, die in ihrer Todesangst den Tod erflehten; viele hoben die Hände zu den Göttern, andere meinten, es gäbe schon nirgends irgendwelche Götter mehr und dies sei die ewige und letzte Nacht für die Welt.« Hinter den dargestellten Verhaltensweisen erscheint die universelle Angst, das Signum der Katastrophe. Der Erzähler ist davon nicht frei und kann es auch nicht sein, sonst hätte sein Zeugnis keinen Sinn. Der wesentliche Unterschied zum ersten Brief besteht im Gebrauch zweier grammatischer Personen, der Ersten Person Singular und der Ersten Person Plural; denn obgleich sich Plinius schon im ersten Brief kurz ins Spiel brachte, berichtete er überwiegend in der Dritten Person. Die Grenze zwischen äußerem und innerem Erleben verschwimmt. Alles erscheint aus einer einheitlichen und subjektiven Perspektive, der Erzähler wird mal zur Stimme seines eigenen Bewußtseins, mal zum Sprecher eines Kollektivs.
1807 erscheint Kleists Novelle »Das Erdbeben in Chili«, deren Handlung verwickelt ist. Eine junge Frau, Josephe, hat mit ihrem Hauslehrer Jeronimo einen Fehltritt begangen, wird ins Kloster geschickt und kommt ausgerechnet bei einer Prozession der Novizinnen nieder. Sie wird zum Tod verurteilt, er muß ins Gefängnis. Es kommt der Tag ihrer Hinrichtung, an dem Jeronimo sein Leben selbst beenden will. »Eben stand er (…) an einem Wandpfeiler und befestigte den Strick, der ihn dieser jammervollen Welt entreißen sollte, an eine Eisenklammer, die an dem Gesimse derselben eingefugt war; als plötzlich der größte Teil der Stadt, mit einem Gekrache, als ob das Firmament einstürzte, versank, und alles, was Leben atmete, unter seinen Trümmern begrub.« Es ist das Erdbeben in Chili. Jeronimo kann auf wundersame Weise fliehen und will nur eines wissen: Ist die Hinrichtung erfolgt? Er durchstreift die verwüstete Stadt auf der Suche nach Josephe, nach einer Antwort. »Hier stürzte noch ein Haus zusammen, und jagte ihn, die Trümmer weit umherschleudernd, in eine Nebenstraße; hier leckte die Flamme schon, in Dampfwolken blitzend, aus allen Giebeln, und trieb ihn schreckenvoll in eine andere; hier wälzte sich, aus seinem Gestade gehoben, der Mapochofluß auf ihn heran, und riß ihn brüllend in eine dritte. Hier lag ein Haufen Erschlagener, hier ächzte noch eine Stimme unter dem Schutte.«
Worin besteht der Unterschied zwischen dieser Beschreibung des Verderbens und der von Plinius? Auch hier ist der Standpunkt konstruiert, aber nicht als der einer realen Person, sondern einer literarischen Figur. Die Zutaten, um es salopp zu sagen, sind fast dieselben: einstürzende Mauern, ein über die Ufer tretender Fluß, Flammen und Rauchwolken, doch derjenige, dem sich dieses Bild der Verwüstung bietet, ist Jeronimo, ein Gespenst, das soeben dem Tod entgangen ist, während alles um ihn stirbt. Diese besondere und paradoxe Situation rechtfertigt die Beschreibung und verleiht ihr Nachdruck. Die geschilderte Katastrophe ist Teil einer Geschichte, die vorher begann und danach weitergeht, so daß der Leser empathisch reagieren kann. Doch obwohl der Titel, die Namen und die Jahreszahl 1647 auf das Erdbeben in Chili verweisen, gab es in Santiago seinerzeit weder Flammen noch Überschwemmung. Das beschriebene Erdbeben ähnelt vielmehr dem von Lissabon 1755, das für Kleist näher lag. Wie bei den von Freud beschriebenen Mechanismen des Traums kommt es zu Verdichtung und Verdrängung, Merkmale des weit spektakuläreren Erdbebens von Lissabon werden in die Atmosphäre von Santiago im siebzehnten Jahrhundert verpflanzt, um das gewünschte dramatische Zusammentreffen von Naturkatastrophe und religiöser Unterdrückung und Intoleranz zu bewerkstelligen.
Nach stundenlangem Umherirren entdeckt Jeronimo Josephe an einer Quelle. Sie ist mit ihrem Kind dem brennenden Kloster entkommen. Die Geliebten finden sich wieder, »im Tale, und Seligkeit, als ob es das Tal von Eden gewesen wäre«. Es folgt eine idyllische Zeit, eine Art ursprüngliches Leben fern der Welt – ein verlorenes und wiedergefundenes Paradies – mit Don Fernando, dem Sohn des Gouverneurs der Stadt und seiner Familie. Zwar sind die Anzeichen der Katastrophe gegenwärtig – Kleist expliziert Gerüchte über das in der Stadt ausgebrochene Chaos sowie über Plünderungen und Exekutionen –, die Menschen werden körperlich und seelisch geprüft, doch in dieser vertrauten begünstigten Gesellschaft walten Zuneigung und Großmut. Dachten sie zunächst daran, nach Spanien ins Exil zu gehen, so wollen Jeronimo und Josephe nun den Vizekönig um Vergebung bitten. Eine Messe soll gefeiert werden, und die Liebenden nehmen teil in der Hoffnung, diese zu erlangen. In der Predigt werden die Schrecken des Jüngsten Gerichts heraufbeschworen, die Katastrophe wird als Strafe für die Sittenverderbnis der Stadt gedeutet. Der Chorherr erwähnt bei dieser Gelegenheit »umständlich des Frevels (…), der in dem Klostergarten der Karmeliterinnen verübt worden war« und zur Verurteilung der Liebenden führte. Die Angeklagten versuchen zu fliehen, nach verschiedenen Wendungen wähnt man sie schon in Sicherheit, da werden Josephe und Jeronimo nacheinander von der aufgebrachten Menge erschlagen. Wozu also die erste Rettung? Die verhinderte Hinrichtung? Der Aufschub? Erzählerisch ist der Schluß gerechtfertigt, denn der Aufbau ist dreiteilig: Hinrichtung – Rettung – Hinrichtung. Das Vorbild, die Tragödie, kennt die Unausweichlichkeit des Schicksals: Was immer geschieht, niemand entgeht seinem Los. Etymologisch bedeutet Katastrophe Umwälzung, Umsturz, und bezeichnet die letzte Episode einer Tragödie, den letzten Akt, die Lösung des Konflikts. Im ersten Buch seiner »Charaktere« (»Von den Schöpfungen des Geistes«) definiert La Bruyère die Tragödie wie folgt: »Die echte tragische Dichtung beengt uns das Herz von Anfang an, läßt uns in ihrem Verlauf kaum die Zeit, zu atmen und wieder zu uns zu kommen; oder sie gibt uns einen Augenblick frei, nur um uns in neue Abgründe und neue Beängstigungen zu stürzen. Sie führt uns durch Mitleid zum Schrecken oder umgekehrt durch Schrecken zum Mitleid; reißt uns durch Tränen, durch Schluchzen, durch Ungewißheit, durch Hoffnung und Furcht, Überraschung und Grauen bis zur Katastrophe.«
Somit enthält Kleists kurze Novelle alle Facetten des Begriffs Katastrophe. Sie ist seine zu Literatur gewordene etymologische Bedeutung. Dazu kommt der heute übliche Gebrauch des Worts im individuellen wie im kollektiven Sinn. Genau hier, wo sich die Hauptstraße des Kollektiven und der Pfad des Individuellen kreuzen, ist der Raum, der Ort des Erzählens. Wäre die Katastrophe allumfassend, gäbe es keinen Bericht davon. Damit er zustande kommt, braucht es einen Überlebenden, den Schreiber, und eine Gemeinschaft von Überlebenden oder Verschonten, an die er sich wendet.
Zwei Jahre nach »Robinson Crusoe« erscheint 1722 ein Buch von Daniel Defoe mit dem ebenso schlichten wie trügerischen Titel »Tagebuch des Pestjahrs «. 1665/ 66 raffte die Pest in sechs Monaten 40000 Londoner dahin. Das Ausmaß solcher Epidemien ist schwer vorstellbar. Zwischen 1348 und 1352 starben in Europa 24 Millionen Menschen an der Pest, ein Viertel der Bevölkerung. Weitere Epidemien folgten, bis man Anfang des 19. Jahrhunderts den Krankheitsüberträger – nicht die Ratte, wie man geglaubt hatte, sondern den Rattenfloh – und auch den Impfstoff fand. Doch die Jahrhunderte der Angst, mit Höhepunkten, mehr oder weniger großflächigen Pandemien, hatten sich so tief ins kollektive Gedächtnis eingesenkt, daß manche literarischen Katastrophenbücher sie mehr oder weniger explizit zum Vorbild nahmen, wie Jack Londons »Rote Pest« (1915) oder Matthew Phipps Shiels »Purpurne Wolke« (1901), die beide von der völligen Verwüstung der Erde handeln. Bei Jack London haben nur wenige in einem vom Rest der Welt abgeschnittenen Amerika überlebt, bei Shiel nur zwei in England (seltsamerweise stammen die Überlebenden stets aus dem Heimatland des Autors). Werke, die man als Science-fiction bezeichnen könnte und in deren Mittelpunkt jedesmal der unerläßliche überlebende Erzähler steht, oder Werke mit politischer Intention, in denen die Pest – wie in Camus’ Roman – als Metapher für ein diktatorisches Regime steht, wurden Faschismus und Nazismus doch oft »braune Pest« genannt. Um zu begreifen, wie tief die Furcht vor Epidemien und Pandemien noch heute sitzt, braucht man sich nur die Angst zu vergegenwärtigen, die im Herbst 2009 um sich griff, als eine Welt, die rationaler und aufgeklärter als das Mittelalter oder das siebzehnte Jahrhundert sein will, mit dem Eintreffen des H1N1-Virus rechnete. Defoe war fünf, als die Pest in London wütete, und er wurde zweifellos durch die Grabesstimmung und durch Erzählungen geprägt, die er gehört haben muß. Wie sind seine Familie und er selbst davongekommen? Man weiß es nicht. Aber ist es Zufall, daß sein berühmter »Robinson Crusoe« die Geschichte eines Überlebenden ist? Gewiß, eine wahre Begebenheit hat ihn dazu angeregt, doch unabhängig von der Geschichte jenes schottischen Seemanns, der vier Jahre nach seinem Schiffbruch auf einem öden Eiland aufgefunden wurde, hatte Defoe die existentielle Situation des Überlebenden selbst erfahren, und sie bestimmte seine Sicht der Welt. Im »Tagebuch des Pestjahrs« ist der wie üblich in der ersten Person erzählende überlebende Zeuge ein Londoner Kaufmann. Das Gerücht läuft um, ein Sperrgürtel solle um die Stadt gelegt werden, und der Erzähler fragt sich, ob er aufs Land gehen oder bleiben soll. Widrige Umstände, in denen er ein Zeichen der Vorsehung sieht, halten ihn fest, und für sein Bleiben erhält er das implizite Versprechen, verschont zu werden. Auf gut Glück in der Bibel blätternd, stößt er auf den 91. Psalm: »Es wird dir kein Übel begegnen, und keine Plage wird zu deiner Hütte sich nahen.«
Der Erzähler ist geblieben, um Zeugnis abzulegen. Er schreibt auf, was er wahrnimmt: die Angst der Menschen, die Schreie, die man in den verlassenen Straßen hört – »eine ganze Familie war in furchtbarer Aufregung, und ich konnte hören, wie Frauen und Kinder wie außer sich durch die Zimmer liefen« –, das Lesen der Zeichen, das Erscheinen eines Kometen, die Orakel und Weissagungen der Astrologen, Bestattungen. Der Bericht wechselt ab mit Totenlisten aus Kirchenbüchern, Einzelheiten über die ergriffenen Gegenmaßnahmen – Verbot öffentlicher Darbietungen und Bankette, Ahndung von Trunkenheit, Entfernung von Unrat – und moralischen oder philosophischen Betrachtungen. Der Erzähler vermerkt, daß der nach Oxford geflüchtete Hof verschont wurde, und fügt hinzu: »Ich kann freilich nicht sagen, daß ich bei ihnen je große Anzeichen von Dankbarkeit dafür bemerkt hätte, und kaum etwas von einer Sinnesänderung, obgleich es nicht ausblieb, daß man ihnen nachsagte, (…) ihre schreienden Laster könnten für das Hereinbrechen dieses furchtbaren Strafgerichts über die ganze Nation verantwortlich gemacht werden.« Zudem sind Ratschläge eingestreut, ja sogar Tadel für die Art und Weise, wie die Krise von der Obrigkeit gehandhabt wurde. Wie Kleist mit dem Erdbeben in Chili eigentlich das von Lissabon meint, kann nämlich auch die eine Pest für die andere stehen. Als Defoe 1720 sein Tagebuch beginnt, bricht in Marseille die Pest aus, und man fürchtet ihre Ausbreitung bis London. Das schärft den Sinn fürs Überleben. Da ihn die Vorsehung 1665 verschont hat, kann der Kaufmann durch sein Zeugnis dazu beitragen, daß die gleichen Ursachen nicht wieder zu den gleichen Wirkungen führen. Oft verbinden die Zeugen, die Überlebenden, mit ihrem Bericht eine Vorstellung von Nützlichkeit – Zeugnis ablegen, damit sich die Katastrophe nicht wiederholen möge. Mag sie zunächst als Rechtfertigung des Zeugnisses, des Verfassens dieser oder jener Schrift erscheinen, so ist sie doch – auf untergründige, verborgene Weise – auch Rechtfertigung des Überlebens, der Existenz des Autors, der so die Schuld zu leben, wo doch alle anderen starben, kompensiert und seinem Überleben einen Sinn gibt. Das Zeugnis weitet sich auf alles aus, was der Überlebende tut und schreibt, es geht in seine Person ein.
»Tagebuch des Pestjahrs« – der Titel läßt auf einen Zeugenbericht schließen, während das abgekartete Spiel mit einem erwachsenen Erzähler, der Kaufmann ist, und einem Autor, der nie Kaufmann war und zum Zeitpunkt des Geschehens fünf ist, auf einen Roman hindeutet. Tatsächlich wurde das Buch als Fiktion aufgefaßt: »Dieser Bericht ist sehr wohl ein Roman, obgleich er für ein historisches Dokument gehalten wurde«, schreibt Joseph Aynard im Vorwort zu seiner Übersetzung von 1943 (übrigens ein merkwürdiges Erscheinungsjahr für dieses Buch). Dagegen schreibt Henri Mollaret, Professor am Institut Pasteur, einem biomedizinischen Forschungszentrum, in seinem Vorwort zur Folio- Ausgabe: »Nichts ist erfunden an dem Bericht Defoes, dessen ›Tagebuch‹ sicherlich die umfassendste, genaueste Beschreibung der Pest darstellt.« Um vorläufig abzuschließen, möchte ich noch einmal auf Plinius’ ersten Brief zurückkommen, der so endet: »Als einziges will ich noch beifügen, daß ich alles, was ich selbst erlebt oder gehört habe, unter dem unmittelbaren Eindruck aufgezeichnet habe, wenn man die Ereignisse am treuesten erzählt. Du wirst das Wichtigste herausziehen, denn es ist nicht dasselbe, ob man einen Brief oder eine Geschichte schreibt, ob man einem Freund oder ob man für die Nachwelt schreibt.« Mit Geschichte ist ein Geschichtsbuch und kein fiktionales Werk gemeint; und die Nachwelt ist eine Extrapolation des Übersetzers, denn im lateinischen Text steht omnibus, womit das Schreiben an einen Freund dem für die Allgemeinheit, und das Private dem Öffentlichen, gegenübergestellt wird.
Doch das Schicksal – oder die Geschichte – hat Sinn für Ironie. Tacitus’ Bericht vom Vesuvausbruch und vom Tod Plinius’ des Älteren hätte in seine »Historien « der Jahre 69 bis 96 Eingang finden sollen. Die überlieferten Bücher hören aber 70 auf. Wie gingen sie verloren? Wurden sie überhaupt geschrieben? Wie ist der Rest auf uns gekommen? So viele Fragen ohne Antwort. Die Nachwelt erfuhr die Einzelheiten des Vesuvausbruchs letztlich nicht durch den öffentlichen Bericht des Tacitus, sondern über den privaten des Plinius.
Aus dem Französischen von Gernot Krämer
SINN UND FORM 1/2013, S. 5-14
Vorbemerkung Ich hatte in den siebziger Jahren einiges von Hélène Cixous gelesen, vor allem »Angst«, aber auch ihre Essays, ich wußte von (...)
LeseprobeWajsbrot, Cécile
»OSNABRÜCK IST DAS VERLORENE PARADIES, NUR NICHT FÜR MICH»
Gespräch mit Hélène Cixous
Vorbemerkung
Ich hatte in den siebziger Jahren einiges von Hélène Cixous gelesen, vor allem »Angst«, aber auch ihre Essays, ich wußte von ihrer Rolle bei der Gründung der alternativen Universität Vincennes (jetzt Saint-Denis), an der man auch ohne Abitur studieren konnte, ich wußte von der Strahlkraft ihrer Seminare und auch von ihrer Freundschaft mit Derrida, die sich in mehreren Büchern niederschlug. Dennoch lernte ich Hélène erst viel später, 2006, durch den gemeinsamen Freund Frédéric-Yves Jeannet kennen. Inzwischen hatte ich mit dem 1999 erschienenen Buch »Osnabrück« meine Cixous-Lektüre wiederaufgenommen und begab mich alljährlich treu zum Stelldichein der Herbstneuerscheinungen, wo die unendliche Erzählung ihres Werks Buch für Buch fortgesponnen wurde – eine Art mythisches Epos, aus transfigurierten Alltagselementen gewoben und von literarischen Hausgöttern wie Stendhal, Montaigne und Kafka behütet.
Als Hélène Cixous die Wohnungstür öffnete, kam mir Nofretete in den Sinn, deren ebenmäßiges und doch rätselhaftes Gesicht die Zeiten überdauert hat. Beim Anblick des Panoramas von Paris, das sich vor den Fenstern darbot, sprachen wir über Deutschland, über Berlin, wo ich damals schon lebte. Im Laufe der Jahre wurden mir diese Treffen mit Hélène zur Gewohnheit – schwebend gleichsam im Raum (hoch droben in einem Neubau) und in der Zeit, seltene, doch regelmäßige Besuche – manchmal wirbelte eine Katze herein –, geprägt von der mal sichtbaren, mal unsichtbaren Gegenwart ihrer Mutter Ève, die im Sommer 2013 dahinging. Mit der Zeit entwickelten sich eine Freundschaft, glaube ich, und ein Austausch.
Wie kam es zur Idee eines Gesprächs über Deutschland? Die Wichtigkeit des Themas für unsere Unterhaltungen, die Bedeutung der deutschen Sprache und Literatur für Hélène Cixous’ Leben und Werk, auch wenn sie von der Kritik kaum wahrgenommen wurde – es gab viele Gründe, die dabei zusammenkamen. Hélène sagte sofort zu. Das Gespräch sollte fortlaufend stattfinden, in jenen Freiräumen, die uns unsere vielfältigen Aktivitäten ließen – in Hélènes Fall das monatliche Seminar im Pariser Heine-Haus, das Stück, das sie für Ariane Mnouchkines Théâtre du Soleil schrieb und das anschließend geprobt wurde, die mit der Arbeit an ihrem nächsten Buch erfüllten Sommermonate in Arcachon und natürlich Ève, die sich in ihrer Obhut befand. Was also konnte zweckmäßiger als die Schriftform sein, zumal wenn man mit der Hand schrieb und nicht am Computer?
Es handelt sich hier also um ein geschriebenes Gespräch, geführt zwischen Mai und November 2012.
Cécile Wajsbrot
CÉCILE WAJSBROT: Es kommt mir vor, als beträten wir einen neuen Kontinent, ein aus den Wassern auferstandenes Atlantis. Das deutsche Wort Angst und der Städtename Osnabrück sind die ersten Hinweise auf Deutschland, denen man in Ihren Buchtiteln begegnet. Was ist Deutschland für Sie in erster Linie: ein Land, eine Stadt, eine Sprache? Wenn die Frage zu weit führt, sagen Sie es mir.
HÉLÈNE CIXOUS: Mir fällt an Ihrer Frage das bezeichnende »erst« auf, das zweimal vorkommt und die Hypothese Deutschland als Raum, Oberfläche, Gelände oder geographisches Gebiet markiert. Habe ich je mit Deutschland Fühlung aufgenommen? Hat es je mit mir Fühlung aufgenommen? Habe ich es je betreten, habe ich es je verlassen? Meinem Gefühl nach bin ich seit jeher von ihm umgeben, meine wichtigste Erinnerung besteht darin, eine treibende Alge inmitten dieses Meers gewesen zu sein. In Algerien wurde ich geboren, von Deutschland stamme ich ab, es hat mich von Geburt an umschlossen. Denken, Sätze bilden und die Welt lesen, all das habe ich in einer in algerische Gefilde versetzten deutschen Welt gelernt. Während ich als pflanzlich-tierisches Menschenwesen im trockenen und duftigen Klima von Oran aufwuchs, sog ich aus zwei Böden Kraft und Bedeutung, ich war durch das in Algerien enthaltene Deutschland mit der Zeit verbunden. Umgekehrt lag meine Geburtsstadt Oran in Osnabrück, der Stadt meiner Mutter.
Daß die Frage zu weit führen könnte, ist ein guter Indikator: Sie zeigt die unberechenbare Gegenwart all dessen an, was unter dem Namen Deutschland um mich versammelt ist. Am Ende (meines Lebens) würde ich ein Traktat, ein Epos, eine deutsche Autobiographie (eine meiner Autobiographien) geschrieben haben können oder sollen.
Ich sage Deutschland, und die Sache erscheint mir genauso unendlich, unerbittlich, von mir selbst unablöslich wie, sagen wir, für Derrida der Name Abraham, den er zum Vornamen des Rätsels Judesein bestimmen wollte. Ich sage Deutschland, und der Name klingt für mich seit meiner frühen Kindheit, als wäre er ein Synonym für Omi, meine Großmutter, meine Mutter für Deutschland. Omi kommt 1938 zu uns nach Oran, ich bin anderthalb und habe zwei ganz verschiedene und doch spiegelbildliche und stets miteinander verbündete Ammen, Deutschland und Algerien. Meine geistigen Großmütter, meine Schicksalsverwandten, die mein Ohr mit der gleichen Anfangssilbe umschmeicheln (Allemagne/Algérie). Sobald ich Allemagne sage, erhebt sich Algerien und folgt ihm wie ein Schatten.
Ich merke, daß ich Deutschland auf französisch sage, denn es war die französische Sprache, in die meine Mütter (meine Mutter meine Großmutter), als sie es während des Kriegs für nötig hielten, ihr Haus und ihre aus Deutschland stammenden Leiber verwoben und hüllten, in der sie sie vielleicht sogar verbargen, also ihre erste Wahrheit unter dem Tischtuch des Französischen verschwinden ließen. In unserer Behausung in Oran sagte Omi stets »chez nous«, wenn sie eine besonders verbindliche Regel oder Sitte formulierte, und dieses »bei uns« war in Deutschland. Sicherlich kam es auch einmal vor, daß sie es auf deutsch sagte, doch in ihrer gebieterischen Art und Weise, unseren Gehirnen deutsche Ordnung beizubringen, zog sie es vor, »auf französisch deutsch zu sprechen«. Noch heute schmeckt das Wort Allemagne für mich nach Dom und Schlagsahne oder Schuberts klangvollem Dahinströmen. Ich glaube, in meiner zweisprachigen Kindheit ging französisch oft als deutsch durch, und das Deutsche floß zu meiner größten Zufriedenheit ins Französische ein. Diese Weiterungen, Ergänzungen, Pfropfungen, Einladungen machten mir große Freude, ich hatte eine Freude am Spiel, die mir heute als Urszene jeder Form von Genuß erscheint: zu zweit sein, zwei sein, zugleich der andere sein, stets zu etwas anderem seine Zuflucht nehmen können, nicht in der Zelle des Eigenen, des Nationalen eingeschlossen sein, über alle Transportmöglichkeiten verfügen, nach Lust und Laune über die Ufer treten. Die Wonne, sich mühelos zu einer Fremden zu machen.
Ein Land, eine Stadt, eine Sprache? Wie könnte man das auseinanderhalten oder in eine Rangfolge bringen? Mir fällt ein Kompositum ein: Sprach-Stadt-Land. Eine Sprache, in der ich wie in einer Stadt wohne und reise und die mein ganzes Weltland wäre. Und die alle meine Stimmungen in sich aufnähme. So wird »Angst« und »Osnabrück« der gleiche Platz zugewiesen, nämlich der eines Titels. Zwei »deutsche« Titel, zwei Bestimmungen, gleichsam zwei Namen geistiger Orte, zu deren Archäologin ich geworden bin. Tatsächlich widme ich mich der Erforschung der Tiefen, den Bergwerken, Stollen, Irrgängen, Grabungs- oder Auferstehungsstätten, ich horche die Brust der Schöpfung ab. Es drängt mich dazu, die Herkunft zu untersuchen – die Ursprünge, die Passionen. Und oft geben sich mir diese urwüchsigen Zonen in Gestalt archaischer, also deutscher Gottheiten zu erkennen. Ich habe so viel in »Angst« gelebt, diesem Land seltsamer Irrlichter. Und es stellt sich heraus, daß die prähistorischen »Städte« der Triebe und Passionen in meinem inneren Deutschland liegen. Das Bild, das ich von Osnabrück habe! Ein Klangbild, ein Scheppern, ein Gerassel von Phonemen, etwas geradezu Mythologisches! Während »Angst« den Tod im Leben bezeichnet, beschwört »Osnabrück« ein Pompeji vor dem Jahr 79 herauf, eine jugendliche, europäische, genießerische Stadt, eine Schatulle voller lebenskluger Menschen, man schwimmt, geht ins Theater, treibt Sport, und eines Morgens überrascht einen der Krieg. Streckt einen nieder. Os-na-brück. Erich Maria Remarques Schule, Straßen für Felix Nußbaum, »Osnabrück«.
WAJSBROT: Dann hätte Deutschland also keinen Anfang, es wäre selbst der Ursprung. Aber gab es denn kein erstes Mal? Wann zum Beispiel fand die erste Reise ins reale Deutschland statt und wohin führte sie?
CIXOUS: Köln. Bad Nauheim. 1951. Schlagsahne. Ich sehe mich mit Omi in den Straßen Kölns. In der großen hellen Wohnung von Eri und Bertold Barmé. Eri, Omis zweite Tochter, meine Tante. Im Kurhaus in Bad Nauheim langweile ich mich bloß, nichts als alte und kranke Leute, echte Kranke und auch eingebildete, wie Omi.
Ich glaube, ich bin voller Vorfreude mit Omi in Algier aufgebrochen. Ich habe Lust auf Deutschland. Ich bin vierzehn. Die Umstände brauen sich zusammen: Zum einen – und das ist die geheime Motivation – wohnt meine Tante Eri jetzt in Köln mit meinem Onkel Bertold, ihrem Mann, einem Zahnarzt. Zum anderen hat Omi ihr Recht auf Wiedergutmachung in natura geltend gemacht: Sie muß ihre Gesundheit in den Bädern wiederherstellen! Man verordnet oder verschreibt ihr Bad Nauheim – aber das ist ein Vorwand: Niemand in der Familie glaubt an die Heilwirkung der Bäder. Für mich ist das ein Motiv der Literatur, man findet über Dostojewski und Thomas Mann dorthin, allenfalls noch über Kafka und Thomas Bernhard. Mir erscheint das alles als Farce. Manche Pensionsgäste sind herzkrank. Man kann nichts tun, als mit Omi, die schlecht zu Fuß ist, im Wald spazierenzugehen. Ich verstehe mich gut mit Herrn Ober und stelle fest, daß meine schwarzen Augen in diesem Land, wo alle Welt Omis blaue Augen hat, Aufsehen erregen. Ein armer mißgestalteter jüdisch-polnischer Händler, auch er mit einem Anspruch auf Wiedergutmachung, macht mir einen Heiratsantrag. Letztlich wird das Hotel zum Schauplatz einer kleinen Einführung in den Roman des 19. Jahrhunderts, die »Psychologie«: Man stecke Vertreter unterschiedlicher Spezies in eine Arche ohne Zukunft. Eine Versuchsanstalt. In Köln lerne ich die deutsche Großstadt kennen. Für mich sind wir dort in einen »fremden« Leim getaucht. Omi fühlt sich wohl, es ist schlichtweg ihr Land und beinahe ihre Gegend. Das Stück Deutschland, in dem die Familie verwurzelt ist: Hamburg, Dresden, Gießen, Hannover, Osnabrück, Köln, Frankfurt. Die Städte, wo die Onkel, Tanten, Cousins gedeihen, Kaufleute, Bankiers, Unternehmer. Man spricht viel von Hamburg in der Welt. In Köln bemerke ich die Grenzposten: Ich werde »gesehen«, schief angesehen. Auf der Domtreppe hält mich ein gereizter Priester auf und weist mich, weist meine nackten Arme ab, es ist ein strahlender und heißer Sommer. Da kam mir ein Verdacht. Ansonsten begegnet mir 1951 keine Spur von Antisemitismus. Es gibt auch keine Juden mehr in Deutschland. Bis auf meinen Onkel Bertold, der den Zwängen Israels entflohen ist, wo er 1937 oder 1938 ankam, als es noch Palästina und ein Schutzraum war. Zehn Jahre haben ihm gereicht.
Als guter freimaurerischer Stadtbewohner, Bürger von Köln, kehrt er »heim« und bringt seine Familie mit. Es läuft gut für ihn, den angesehenen Zahnarzt, den umgänglichen und charmanten Mann. Ein Roman, der noch zu schreiben wäre. 1951 blüht Köln, es gedeiht – doch, doch, ich komme aus Algier. Und aus London, wo es Hunger gibt und Lebensmittel rationiert sind. Während ich in Köln endlich der riesigen Sahnetorten ansichtig werde, von denen mich Omi den ganzen Krieg über träumen ließ. Köstlich. Sie sind bis heute unübertroffen.
Bleibt noch der Mythos Osnabrück: Bin ich mit Omi hingefahren? Oder habe ich das nur geträumt? Ich sehe uns dort in den engen Straßen, ich sehe uns am Nikolaiort, wie im Traum.
Leider habe ich es versäumt, Omi zu fragen, ob wir wirklich dort gewesen sind. Osnabrück war stets so strahlend gegenwärtig in meinen »Erinnerungen«, die von den Berichten meiner drei Erzählerinnen getönt waren – den feenhaften Zeuginnen, meiner Mutter Ève, meiner Tante Eri und Omi.
Mein erstes, zwiespältig reizvolles Deutschland, ich habe dich geliebt. Und gewiß wollte ich von dir geliebt werden.
[...]
Aus dem Französischen von Gernot Krämer
SINN UND FORM 2/2014, S. 214-222, hier S. 214-218
Es sind die leeren, verlassenen Straßen, die der Schwere des Anschlags eine physische Dimension verleihen. Ein Samstag nachmittag, niemand ist (...)
LeseprobeWajsbrot, Cécile
Der Tag danach
Es sind die leeren, verlassenen Straßen, die der Schwere des Anschlags eine physische Dimension verleihen. Ein Samstag nachmittag, niemand ist draußen, und in dem Touristenviertel, durch das sich sonst Gruppen aus Europa und Asien schieben, herrscht diesmal Stille. Keine megaphonverstärkten Fremdenführerkommentare, kein Rumoren unter den Fenstern, nichts – nicht einmal der gewohnte Geräuschhintergrund des Verkehrs. Im Radio vervielfacht sich der Chor der Stimmen. Zeugnisse aller Art – von Leuten, die im Bataclan waren und entkommen konnten, von solchen, die Hilfe geleistet haben, auf der Terrasse eines Cafés saßen –, Kommentatoren, Politiker, Journalisten, es ist, als solle die Überfülle der Worte die Leere der Straßen um jeden Preis überdecken. Mit Worten, die sich ähneln, Worten, die sich wiederholen – Massaker, Gemetzel, Krieg, Horror, Schockstarre. Und die Bilder im Fernsehen, die man aus anderen Weltgegenden zu sehen gewohnt ist, wurden diesmal nach Paris importiert, wo wir wohnen, wo wir leben. Die Namen wohlvertrauter Straßen, bekannter und regelmäßig besuchter Orte … Diese leeren, verlassenen Straßen sind das Zeichen dafür, daß es diesmal hier bei uns geschehen ist. Die Stille, an der man sich stößt, gleichsam verdoppelt durch die Worte, an denen man sich genauso stößt. Ja, es ist paradox: Man braucht die Worte, braucht die Sprache, aber keinesfalls diese Worthülsen, die jeden Sinn verloren haben. Man braucht auch Schweigen, Einkehr, Würde. Man braucht Zeit.
Am Sonntag, den 3. September 1939 schreibt Virginia Woolf in ihr Tagebuch: »Dies ist gewiß, wie ich annehme, die letzte Stunde des Friedens.« Das Ultimatum endet um 11 Uhr und die Rede des Premierministers in der BBC ist auf 11.15 Uhr angesetzt, jene Rede, mit welcher die Kriegserklärung erfolgen soll. Fortan wird der Krieg im Tagebuch, in dem Unruhe und Ungewißheit nicht neu sind, immer mehr Raum einnehmen. Der Krieg überschattet alles. Und Virginia Woolf vermerkt das Bedürfnis, Artikel zu schreiben, »patriotisch « zu schreiben, vermerkt den Druck der Ereignisse. »Wieder einmal sind wir Journalisten«, notiert sie am 23. September und stellt fest, daß es unmöglich sei, sich in die Arbeit an einem großen Werk zu vertiefen (29. Mai 1940). Und am 9. Juni 1940 schließlich, als das Gerücht aufkommt, die französische Regierung habe Paris verlassen: »Das schreibende ›ich‹ ist verschwunden. Keine Öffentlichkeit mehr. Kein Echo mehr. Das ist der Vorgeschmack des Todes. Nicht ganz, denn ich korrigiere gerade ›Roger‹ [eine Biographie Roger Frys], den ich morgen abzuschicken hoffe, und habe ›Pointz Hall‹ fertigstellen können. Dennoch bleibt es eine Tatsache. Das Verschwinden des Echos.« Sie kommt noch mehrmals darauf zurück, auf dieses Gefühl des verlorenen Echos, das Gefühl, ein Teil ihres Selbst existiere nicht mehr. Wozu schreibt man? fragt sie Ende Juli 1940, als die Gerüchte über eine bevorstehende Invasion Englands immer hartnäckiger werden. Geschieht es wirklich, um veröffentlicht zu werden? Zudem hält sie Ende August 1940, während der Bombardierungen, ihr Bedürfnis nach literarischer Fiktion fest: »Ich kann wohl sagen, wenn ich etwas Erzählerisches oder etwas über Coleridge schriebe statt dieses schrecklichen, für Amerika bestimmten Artikels über die Bomben, wäre ich in ruhigeren Gewässern.« Doch gerade das ist unter den gegebenen Umständen kaum möglich: ein Werk literarischer Fiktion schaffen, ein umfangreiches Buch planen, einen anderen Lebensrhythmus pflegen, »in the upper air« leben, in höheren Sphären also, wie sie am 15. November 1940 schreibt.
Botschaften aus aller Welt, Berlin, New York, von all jenen, die fern von Paris sind und sich Sorgen machen um diejenigen, die dort sind. Von all jenen, denen Paris etwas bedeutet. Ist alles in Ordnung? Seid Ihr unmittelbar betroffen? Wir denken an Euch, wir sind mit Euch. Diese Botschaften müssen beantwortet werden. Es ist alles in Ordnung und zugleich überhaupt nicht. Hier eine etwas andere Botschaft. Was soll man denken? Was soll man dazu sagen? Oder diese noch: Könnten Sie im Radio ein paar Minuten …? Nein, ich kann es nicht. Was wäre zu sagen? Ich weiß es nicht. Und was zu denken? Daß der Augenblick darüber nachzudenken noch nicht gekommen ist. Daß es etwas zu respektieren gilt, die Suspendierung des Sprechens und des Denkens. Damit man sich sammeln kann – aber nicht nur das. Damit das Geschehene sich setzen, seinen Platz unter uns einnehmen, seine Spur hinterlassen kann.
[…]
Aus dem Französischen von Gernot Krämer
SINN UND FORM 4/2016, S.559-561, hier S. 559-560
1 Ich möchte von einer unbekannten Generation zu Ihnen sprechen, von einer unsichtbaren, die in der Forschung die zweite Generation genannt wird (...)
LeseprobeWajsbrot, Cécile
1
Ich möchte von einer unbekannten Generation zu Ihnen sprechen, von einer unsichtbaren, die in der Forschung die zweite Generation genannt wird oder auch Generation einundeinhalb, je nach Zählweise – daran erkennt man schon das Ungewisse, den Nebelschleier, der sie umgibt. Ich möchte hier von Jahrgängen sprechen, die dem Ende der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs zu nahe und von deren Historisierung zu weit entfernt waren. Von einer Generation, die weder Zeugin der Zerstörungen noch nostalgische Archäologin des Lebens davor war – des Lebens in den polnischen Schtetls oder den großen Weltstädten. Die weder die rasende Vernichtung noch den Wunsch nach Wiederaufbau erlebt hat. Eine Generation, die schweigsam war, nicht, weil sie es so gewählt hätte, sondern weil die Umstände es wollten. Oder vielmehr eine Generation, die zu sprechen versuchte, und die es noch immer versucht, deren Stimme jedoch aus etlichen Gründen beinahe unhörbar bleibt.
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Verlorene Generation, lost generation – der Ausdruck bezeichnet insbesondere in den Vereinigten Staaten die Generation des Ersten Weltkriegs, also diejenigen, deren Jugend durch diesen Krieg zertrümmert wurde, in dem sie ihre Orientierung oder das Leben verlor. Aber der Ausdruck lost bezeichnet mehr als den Verlust des Lebens, bezeichnet die Orientierungslosigkeit von Menschen, die in der Tradition der vorausgegangenen Jahrzehnte erzogen und dann in einer Nachkriegsgesellschaft erwachsen wurden, die keinen Bezug mehr zur Welt ihrer Eltern hatte, zu der Welt, die ihnen überliefert worden war. Sie mußte sich damit abfinden und mit den Werkzeugen der alten eine neue Welt angehen. Es heißt, Gertrude Stein habe den Ausdruck für die amerikanischen Schriftstellerinnen und Schriftsteller jener Generation geprägt, die wie sie selbst die zwanziger Jahre im Pariser Exil verbrachten, ein Exil, das Zeichen – oder Folge – der Desorientierung war, und diese Desorientierung wiederum wurde von Stein in ihrer Weise, die Sprache zu erkunden und zu dekonstruieren, wie man damals noch nicht sagte, zum Äußersten getrieben. Sie selbst soll den Ausdruck in Paris bei einem Automechaniker aufgeschnappt haben, der die damalige Jugend als verlorene Generation schmähte, worauf Stein mit dem entwendeten Ausdruck unter anderem ihren Freund Hemingway charakterisierte, der wiederum ihre Anrede – You are all a lost generation – seinem Roman »The Sun also Rises« (deutsch unter dem Titel »Fiesta«), der einen Kreis britischer und amerikanischer Exilierter in Paris beschreibt, als Epigraph voranstellte.
Wir haben keinen Krieg erlebt, wir sind nicht unbedingt im Exil, wir gehören zum alten Kontinent und nicht zur neuen Welt, und doch sind auch wir lost, desorientiert, ein wenig verloren und irren mitunter durch die Zeiten.
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In seinem 2007 erschienenen Essay »Lines: A Brief History« (Eine kurze Geschichte der Linien, 2021) unterscheidet der englische Anthropologe Tim Ingold zwischen Fäden und Spuren und erfindet eine Lesart der Welt vermittels zweier Arten von Linien, jener, an der man entlanggeht, und jener, die bloß zwei Punkte miteinander verbindet. Damit unterscheidet er das »wayfaring« vom »transport«, das Wandern, das eine Erfahrung an sich ist, die voll und ganz zum Leben gehört, und den Transport, dem es darum geht, möglichst schnell einen Zielort zu erreichen. Diese Metapher läßt sich auf etliche Bereiche anwenden, und man kann alles unter dem Blickwinkel von wayfaring oder transport betrachten, als Linie, an der es entlanggeht, oder als Linie, die durchquert. Folgen wir Ingold, ist das Wandern im Prinzip die Art und Weise, wie Menschen die Erde bewohnen. »Ein Bewohner ist vielmehr jemand, der an dem beständigen Prozeß der Weltwerdung teilnimmt und im Hinterlassen seines Lebensweges zur Verwebung und Textur dieser Welt beiträgt.« Dem stellt Ingold die Besetzung entgegen, als eine Weise, den Ort als freie durchquerbare Fläche zu betrachten, über die ein Liniennetz gelegt wird, Trassen, über die Personal und Gerätschaften schnellstmöglich in Ressourcen- und Abbaugebiete gebracht werden. Daß Kolonialisierung Raum auf diese Weise nutzt, ist klar. Unter anderen Umständen wird die Sache komplexer. Und gestatten Sie mir hier einen Umweg über meine persönliche Erfahrung in einem besonderen Land, Frankreich, einen Umweg, der aber zum Weg gehört, weil wir wayfarers sind, dem Wandern verschrieben und nicht dem Transport. Frankreich also, ein Land, in dem die kollektive Geschichte vielmehr einer Besetzung ähnelte, zumindest in Hinblick auf die Zeit der Besatzung, was kein Wortspiel ist, und auf die von französischem Boden aus organisierte Deportation von Juden, während die Familiengeschichte auf seiten des Bewohnens angesiedelt war, eines schwierigen Bemühens, einen Lebensweg zu ziehen, indem man an der im Werden begriffenen Welt teilzunehmen versucht.
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Ich bin 1954 geboren, das heißt neun Jahre nach Kriegsende, neun Jahre nach der Befreiung der Lager, in Paris, in einer Familie, die in den dreißiger Jahren aus Polen gekommen war und auf väterlicher wie mütterlicher Seite aus derselben Stadt stammte, Kielce. Sie ist wegen eines Nachkriegspogroms von 1946 bekannt, bei dem es zweiundvierzig Tote und achtzig Verwundete gab. Ich bin in Frankreich geboren, und damit in einem Land, das sich seine eigene Geschichte als eine glorreiche erzählte, auch jenseits der Glanzstunden, die man uns schon in der Grundschule beibrachte, die Könige Ludwig der Heilige, Ludwig der Vierzehnte, der Kaiser Napoleon der Erste; es gab auch die mutige Résistance, die das Land den deutschen Besatzern entgegengestellt hatte. Natürlich sagte man uns nicht, daß Ludwig der Heilige die Juden aus Frankreich vertrieben hatte, daß Ludwig der Vierzehnte das Edikt von Nantes widerrufen und damit je nach Quelle hunderttausend bis zweihunderttausend Protestanten ins Exil gezwungen hatte, nach Amsterdam, London oder Berlin, und daß Napoleon die Sklaverei wieder eingeführt und Europa in verheerende Kriege hineingezogen hatte (Kriege, die uns als heldenhaft dargestellt wurden).
Genauso verhielt es sich mit der jüngsten Geschichte. Die öffentliche Ruhmeserzählung stand konträr zur Familiengeschichte, ich wußte früh, daß mein Großvater mütterlicherseits deportiert worden war, ich konnte früh den Namen Auschwitz aussprechen, den die meisten Leute in Frankreich noch heute Ausswitch aussprechen – dieser switch, der mir stets vorkam, als offenbarte sich darin ein Umschalten des Gedächtnisses, ein Perspektivwechsel, eine Verleugnung. Ebenso früh wußte ich, daß es die französische Polizei war, die bei der Wintervelodrom-Razzia meine Großmutter, meine damals zehnjährige Mutter und meinen dreizehnjährigen Onkel abgeholt hatte. Und ein wenig später, daß in dem Film »Nacht und Nebel« von Alain Resnais, der 1956 herauskam, das Képi des französischen Gendarmen, der das Lager Beaune-la-Rolande bewachte und kurz im Bild erschien, mit Filzstift geschwärzt worden war, um nicht erkennbar zu sein. Ich übergehe hier das Epos von Flucht und Untertauchen, die Hilfsnetzwerke und die tägliche Angst, die das Los aller war, denen es gelang zu überleben und den Verfolgungen zu entkommen. Ich möchte bloß sagen, daß von alldem außerhalb des familiären Zuhauses nie die Rede war. Daß ich zu Anfang des Schuljahrs jedesmal die Frage beantworten mußte, woher mein Name komme. Daß ich in jeder Klasse die einzige war, die einen solchen Namen trug. Tragen ist das richtige Wort, denn es war eine Last, ein Gewicht, es wies mich als verschiedenartig aus, anders als die anderen – als eine Fremde. Denn im Französischen, wo das j ein Konsonant und kein Halbvokal ist, war dieser Name unaussprechlich. Wenn man ihn, beispielsweise für eine Bestellung in einem Laden, angeben mußte, sprach meine Mutter ihn Vesbro aus und französierte ihn so gewissermaßen. Und ich tat es ihr nach, auch wenn diese Aussprache sich orthographisch keineswegs rechtfertigen ließ. Mein Vater hingegen fragte mich immer wieder, ob ich in der Schule nicht »Waschbrot« genannt würde. Erst spät, so um die dreißig, ist mir der Hiat zwischen meiner eigenen Weise, meinen Namen auszusprechen, und seiner Schreibweise bewußt geworden, und zwar mit einer solchen Schärfe, daß ich nicht mehr wußte, wie ich ihn aussprechen sollte. Stellen Sie sich mal vor, den eigenen Namen nicht mehr aussprechen zu können. Es kam um so ungelegener, als ich damals gerade mit dem Unterrichten aufgehört hatte und Arbeit suchte, was in jener fernen Zeit vor dem Internet hieß, daß man telefonieren mußte, und am Telefon schob ich den Moment, an dem ich meinen Namen sagen mußte, möglichst weit hinaus. Anstatt mich zu Beginn des Gesprächs vorzustellen, wartete ich die Frage ab, »mit wem spreche ich« … Diese unbehagliche Situation dauerte ein paar Monate, vielleicht sogar ein oder zwei Jahre. Bis zu dem Tag, an dem ich eine Art Erleuchtung hatte. Da es ja für das Lateinische eine rekonstruierte Aussprache gibt, die als die von den Lateinern praktizierte gilt, entschied ich, auf meinen Namen genauso eine rekonstruierte Aussprache anzuwenden und ihn wie im Jiddischen auszusprechen – waïsbrot. In jenem kolonisierten Gedächtnis, in dem es darum ging, sich schnellstmöglich von einem Punkt zu einem anderen zu begeben und also über die Jahre 1939 – 45 hinwegzugehen, war diese Entscheidung vielleicht der erste bewußte Schritt, mit dem etwas zuvor Unbewußtes seine Wanderung antrat, oder vielmehr – denn ich war mir ja doch früh über alles klar – die erste Etappe eines Befreiungsversuchs. Vorher hatte es eine Szene in dem Verlag gegeben, der meinen ersten Roman veröffentlichte. Die Verlegerin, die den angesehenen und gut französischen Namen Gallimard trug, riet mir, einen anderen Namen anzunehmen, weil meiner unaussprechlich sei. Und ich, die ich in der langen Zeit meiner allmählichen Annäherung an dieses Milieu, während der fünf Jahre zwischen dem Schrei ben meines ersten Romans und der Veröffentlichung eines ersten Romans, der gar nicht der erste war, den ich geschrieben hatte, ich, die ich all diese Zeit hindurch erwogen hatte, ein Pseudonym, den Mädchennamen meiner Mutter anzunehmen, nicht weil der »meine«, das heißt, der Name meines Vaters, unaussprechlich war, sondern weil ich ein schwieriges Verhältnis zu ihm hatte, ich dachte nun angesichts dessen, was ich als Aggression empfand, nicht den Bruchteil einer Sekunde an meine früheren Erwägungen und verteidigte meinen Namen – vielleicht ist er in dem Moment wahrhaftig der meine geworden – und habe ihn behalten.
SINN UND FORM 1/2024, S. 37-49, hier S. 37-40