Wackwitz, Stephan
geb. 1952 in Stuttgart, Romanautor und Essayist, leitete u. a. die Goethe-Institute in Tiflis, Neu-Delhi, Tokio, Krakau, Bratislava und New York. Zuletzt erschienen »Eure Freiheit, unsere Freiheit. Was wir von Osteuropa lernen können« (2019) und »Geheimnis der Rückkehr. Sieben Weltreisen« (2024). (Stand 3/2024)
Siehe auch SINN UND FORM:
- 2/2019 | Die Poetisierung des Lebens. Über Karlo Katscharawa
- 5/2020 | »Don’t be sadder than necessary«.Tagebücher 1989/90
- 1/2021 | Minsk. Widersprüche der Utopie
- 6/2021 | Mein Leben als Schwamm
- 3/2024 | Tod, Liebe, Poesie oder Heiner Müller in Tokio. Tagebuchaufzeichnungen Herbst 1990 und Frühling 1993
Es ist September 2011 in Tbilissi, einer mir noch ganz unvertrauten Stadt. Alles ist neu hier und erinnert mich trotzdem an lang Bekanntes. Das (...)
LeseprobeWackwitz, Stephan
Die Poetisierung des Lebens. Über Karlo Katscharawa
Es ist September 2011 in Tbilissi, einer mir noch ganz unvertrauten Stadt. Alles ist neu hier und erinnert mich trotzdem an lang Bekanntes. Das Mediterrane der Landschaft. Von Macchia bewachsene Bergzüge aus bröckeligem Fels stehen ringsum kulissenhaft in der afrikanisch rücksichtslosen Mittagssonne. Das wilde Bergwüstenumland schickt tiefe Schluchten, von Sträuchern und niedrigen Bäumen angefüllt, bis ins Stadtzentrum hinein. Kleine Bäche verschwinden in den Gullys staubiger Straßen. Zypressen ragen als dunkelgrüne Säulen aus verwachsenen Gärten am Hang. Das Rot der überall wildwachsenden Granatäpfel, das Violett der Feigen am Straßenrand hält man bei flüchtigem Hinsehen für Blütenfarben. Das laute Chaos der Verkehrslandschaft, eine Erinnerung an Bombay. Die Armut. Die »italienische« Eleganz der Frauen. Das entgegenkommende Lächeln der Menschen, nach Amerika und Deutschland als physiognomischer default mode ganz ungewohnt. Das Sommerferienwetter. Die überraschend intelligente, originelle, romantische und selbstbewußt italianisierende Interpretation des Stalin-Klassizismus an der Auffahrt zum Saburtalo-Plateau vor dem monumentalen Rund des Sportpalasts. Und von hier aus zieht sich die schnurgerade Wascha-Pschawela-Avenue nach Westen ins leere Bergland.
Die Architekten der Chruschtschow-Ära haben Mitte der fünfziger Jahre von den soliden, schweren Beaux-Art-Formen der Stalin-Zeit Abschied genommen. Die weit ins Land ausgreifenden Prospekte der heroischen frühen Planungs periode wurden jetzt aufgefüllt mit viel schmuckloseren Beton- und später Plattenbauten, die aber Anregungen des Bauhauses aufnahmen, statt sich an Georges-Eugène Haussmanns Paris zu orientieren. Denn dieses heroische Vorbild war auf die Dauer zu teuer geworden, wurde zunehmend als pompös empfunden und konnte der Mehrheit der Sowjetbevölkerung auch nicht den dringend benötigten Wohnraum bereitstellen. Die generationenlang in der Misere überfüllter Gemeinschaftswohnungen und improvisierter Shantytowns gefangenen Erbauer des Sozialismus zogen jetzt ein in kleine, preiswertere, industriell geplante und gebaute Familienunterkünfte. Deren Architekten brachten aber die Erfahrungen der linksprogressiven Baukunst der zwanziger Jahre (Ernst May, die »Frankfurter Küche«, Peter Behrens, Le Corbusier and all that jazz) kenntnisreich und intelligent in ihre Planungen ein. So entstanden ausgeklügelte menschenfreundliche Lösungen auf kleinstem Raum, längs der Wascha-Pschawela-Avenue zum Beispiel ein Ensemble von vier oder fünf halb fußballfeldlangen Hausriegeln, die kurz vor der Abfahrt zur stillgelegten Pferderennbahn sich einen sanften Hang zum Plateau des Lisi-Sees hinauf staffeln. Robinien haben die parallel zum Hang verlaufenden Fußwege zwischen den niedrigen Apartmenthausketten überwuchert. Die Balkone und Wintergärten, vor deren Fenstern und Brüstungen Wäscheleinen gespannt sind, blicken in schwer zu durchdringendes grünes Dickicht. Das offene Treppenhaus ist lichtlos und vernachlässigt. Essensgerüche und andere familiäre Ausströmungen (Kinderlachen, gedämpfte eheliche Auseinandersetzungen) dringen in die Dunkelheit, während wir vorsichtig aufwärts steigen und uns am brüchigen Geländer festhalten. Wir klingeln an Lika Katscharawas Tür im zweiten Stock, eine freundliche Frau, die jüngere Schwester des 1994 umgekommenen Künstlers Karlo Katscharawa, begrüßt uns mit enthusiastischer Herzlichkeit.
Wir betreten eine Zeitkapsel der inoffiziellen sowjetischen Kulturgesellschaft der achtziger Jahre. Die Decken sind niedrig. Rechts ist eine Garderobe von Einbauschränken aus lackiertem Holz umrahmt. Links zweigt ein schmaler kurzer Gang zu einem winzigen Badezimmer, einer eßtischgroßen Küchennische und einem kleinen Nebenraum ab, in dem ein Schlafsofa steht. Geradeaus geht es in den ebenfalls sehr kleinen Salon, von dem rechter Hand das Schlafzimmer abgeht, während links der schmale Wintergarten den Blick auf das Gewirr der Robinienzweige freigibt. Die Wohnung kann nicht viel größer als dreißig Quadratmeter sein. Aber sie wirkt palastartig und geräumig durch die dicht an dicht gehängten und in den Ecken gestapelten Leinwände und Zeichnungen ihres ehemaligen Bewohners. Karlo Katschawara, der mit dreißig Jahren an den Folgen eines Überfalls auf den Straßen Moskaus verstorbene Kunstkritiker, Zeichner, Maler, Essayist, Diarist und Lyriker, bildet mit seinem hier fast vollständig versammelten Werk den zentralen Bezugspunkt der jungen georgischen Künstlergeneration: »Karlo ist ein Vierteljahrhundert nach seinem Tod lebendiger als wir alle«, sagt ein ehemaliger Weggefährte. Während in dieser Wohnung alles gleichgeblieben ist, ist Katscharawa in der sich rasant verändernden georgischen Gesellschaft zum Klassiker der Gegenwartskunst geworden. Was sieht man beim Blick auf diese Blätter und Leinwände? Was gibt den kleinen Räumen in Tbilissi / Saburtalo solche Weite?
Ihre bei oberflächlicher Betrachtung verwirrende Fülle von Gesichtern, Architekturen und Atmosphären läßt sich in Wirklichkeit auf wenige Motivkomplexe reduzieren. Katscharawas Figuren sind erstens in entschieden metropolitanen Räumen verortet. Wir haben es mit Großstadtkunst zu tun. Architektur, die Psychogeographie von Straßen sind ihr unterschwelliges Generalthema. Sogar seine Bäume, Flußufer und Wiesen haben etwas Urbanes. Landschaften sind auf den zweiten Blick erkennbar als städtische Parks oder jene träumerischen Außenbezirke, wo die Großstadt ins Umland übergeht. Häufig trifft man auf Friedhöfe oder verlassen wirkende Industrielandschaften.
Der zweite Motivkomplex sind die Körper, Gesichter und Gewänder seltsam beeindruckender georgischer Menschen aus den entbehrungsreichen, gefährlichen und gewalttätigen neunziger Jahren. Es sind prekäre, melancholische Figuren, oft eingezwängt in enge Interieurs oder wie schwebend, springend und tanzend in jenen Stadtpanoramen. Straßen, Parks und Brachen sind voller Menschen. Aber diese vermeiden den Blickkontakt miteinander. Es ist das Personal eines faszinierenden und von sich selbst faszinierten Unglücks. Katscharawas Männer sind fast durchweg Selbstportraits mit Bart, Hut und weitem Mantel, seine Frauen elfenhaft dünne, langhaarige und langbeinige (oft nackte) Geschöpfe von intensiver erotischer Dämonie. Unwillkürlich erinnert mich die Aufgeladenheit dieser Frauenfiguren an Gottfried Keller, dem Katscharawa auch physiognomisch glich ("Ich bin (…) ein kleiner dicker Kerl, der abends 9 Uhr ins Wirtshaus und um Mitternacht zu Bette geht als alter Junggeselle«, schrieb Keller, es würde auch auf Katscharawa passen). Nur die erotische Sehnsucht eines vereinsamten Fünfzigjährigen im Zürich des 19. Jahrhunderts hat sich Frauenfiguren wie Judith oder Myrrha Wohlwend ausdenken können, und nur ein sexuell frustrierter junger Mann der spätsowjetischen achtziger Jahre diese fatalen, über Männerschicksale regierenden Elfen. Zugleich wirken sie seltsam zeitgenössisch. Hat Katscharawa etwa die Hipster von Tbilissi im frühen 21. Jahrhundert vorhergesehen, oder lassen diese sich von seinen Bildern zu ihren Hüten, Frisuren, Stiefeln, Miniröcken, Röhrenhosen, überdimensionierten Schals, Mänteln und Vintage-Jacken inspirieren? »Tbilissi« ist ein Blatt aus dem gezeichneten Tagebuch seiner beiden Deutschlandreisen (1991 und 1992) überschrieben: In einem jener Bart-Hut-Mantel-Selbstporträts, zu einem Saul-Steinberg-haften Umriß verdichtet, geht er steif, mit gesenkter Miene und in gekrümmter Haltung von einem jener Sehnsuchtswesen fort in eine Stadtlandschaft hinein, vor der eine Flasche einen überlangen Schatten wirft. »Kristalltraum. Zum Geburtstag« lautet die Inschrift. Die Künstlerin Keti Kapanadze, in den neunziger Jahren eine der schönsten Frauen Tbilissis, in die Karlo hoffnungslos verliebt war, erzählte mir, er habe sie, nachdem er die halbe Nacht an ihrem Küchentisch verbracht hatte, oft gleich zum Morgenkaffee wieder besucht, um festzustellen, »ob sie immer noch so schön sei«. Aber er sei eben klein und dick, und an jeder Straßenecke sei ein interessanterer, eindrucksvollerer Mann in sie verliebt gewesen. Sie hatte kein ernsthaftes Interesse an Katscharawa. Vor dem erotischen Dämon auf der Zeichnung steht, seltsam unverbunden, eine Kaffeekanne.
Der dritte und wahrscheinlich wichtigste Komplex auf Katscharawas Bildern sind Zitate deutscher Kunst und Literatur. Diese Gemälde und Zeichnungen sind nicht nur durch ihre Sujets und formalen Lösungen Wiedergänger und Geistererscheinungen des deutschen Expressionismus und des Neoexpressionismus der achtziger Jahre, sie sind auch von Schrift übersät. Durch »Widmungen« an ihm persönlich ganz unbekannte Figuren wie Immendorf, Baselitz, Beuys, Middendorf, Bernhard Schultze, Salomé schrieb sich Katscharawa in einen Geisterraum deutscher Kunst ein, sozusagen als korrespondierendes Mitglied der Achtziger-Jahre-Kunstrevolution in Berlin, Köln und Düsseldorf. Deutschsprachige Schriftzüge (literarische Zitate, Bildtitel) fungieren als Kommentar, Kontrapunkt oder Akzentuierung. Katscharawa war zweimal für zwei, drei Wochen in Berlin und Köln, seine Beziehung zu Deutschland, zur deutschen Sprache und Kultur war aber älter. Im akademischen Ausbildungsbetrieb der Sowjetzeit, der sich am französischen 19. und frühen 20. Jahrhundert orientierte, war der Expressionismus unbestimmt oppositionell kodiert. Die Verbindung des Neoexpressionismus der deutschen »Neuen Wilden« mit den Stadtlandschaften revolutionärer lebenspraktischer Experimente (Punk, elegant ausgefranste Selfmade-Mode, Gründung von Musikklubs durch Künstler und Hausbesetzer) hatte Berlin und Köln zu Sehnsuchtsorten auch der spätsowjetischen georgischen Boheme gemacht. Der plötzlich hervorgebrochene oder vielleicht auch nur seiner selbst innegewordene Ausdruckshunger war in Berlin und Tbilissi offenbar derselbe, und der georgische ermutigte sich am deutschen, der selbstbewußter sein konnte, weil er es einfacher hatte.
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SINN UND FORM 2/2019, S. 203-213, hier S. 203-207
Wer ehemalige Sowjetrepubliken, die jetzt ihren eigenen politischen Weg gehen, besucht oder für einige Zeit dort lebt, denkt unwillkürlich darüber (...)
LeseprobeWackwitz, Stephan
Minsk. Widersprüche der Utopie
Wer ehemalige Sowjetrepubliken, die jetzt ihren eigenen politischen Weg gehen, besucht oder für einige Zeit dort lebt, denkt unwillkürlich darüber nach, wie jene Städte, Landschaften, Atmosphären und Mentalitäten heute aussähen, wenn sich die kommunistische Union 1991 nicht aufgelöst hätte. Hätte das sozialistische Staatswesen, das noch vor dreißig Jahren eine globale Supermacht war, möglicherweise eine Chance gehabt, in veränderter Gestalt weiterzubestehen? Hätte es sich der Weltwirtschaft und den Einflüssen der konsumistischen Kultur vorsichtig öffnen, seinen Bürgern ein im privaten Rahmen selbstbestimmtes Leben ermöglichen, den quasireligiösen Geltungsanspruch des Marxismus-Leninismus sublimierend auflösen und so auf einem »Dritten Weg« zwischen Kapitalismus und Kommunismus in die Zukunft reisen können? Vergleichbare Vorstellungen waren in der linken Intelligenzija weit verbreitet, als in Deutschland über die Zukunft der gescheiterten DDR nachgedacht (phantasiert) wurde. Die Wirklichkeit ist andere Wege gegangen. Aber tatsächlich gibt es östlich von Polen eine ehemalige Sowjetrepublik, die seit 1990 einen Weg zwischen völliger Aufgabe der realsozialistischen Verhältnisse und bedingungsloser Integration in die kapitalistische Weltgesellschaft versucht hat – bis nach den gefälschten Wahlen im letzten August der Widerspruch zwischen der wirtschaftlich erfolgreichen jungen Mittelschicht und dem despotischen Regierungsapparat revolutionär explodierte. Diese Republik, in der sich inzwischen eine Doppelherrschaft zwischen Volksaufstand und staatlicher Gewalttätigkeit entwickelt hat, war vierzig Jahre lang nicht ohne Grund der unbekannteste Staat Europas.
Belarus war eigentlich immer unbekannt. Fast seine gesamte Geschichte hindurch hatte dieses Land weder Grenzen noch eine Armee oder eine eigene Regierung. Es galt eher als (relativ unbestimmte) Ortsbezeichnung, als Landschaft, als geographischer Begriff. Erst 1918, nach dem Zusammenbruch des Zarenreichs, ist von einem Staat dieses Namens die Rede. Aber die Unabhängigkeit währte nur einige Monate, dann wurde Belarus der Sowjetunion eingegliedert. Auch zuvor war das Staatsgebiet der heutigen Republik immer Teil anderer politischer Gebilde gewesen. Zuerst gehörten seine Städte und Landstriche zur Kiewer Rus. Nach der tatarischen Eroberung Kiews 1240 bürgerte sich die Bezeichnung »Belarus« für die westlichen, den Mongolenkhanen nicht tributpflichtigen russischen Fürstentümer ein. Im Spätmittelalter und während der frühen Neuzeit waren sie Bestandteil des polnisch-litauischen Doppelstaats. Nach der zweiten polnischen Teilung kam das spätere Belarus zum Zarenreich, nach der erwähnten kurzen und erfolglosen Eigenstaatlichkeit dann als Republik zur UdSSR – erst damit hatten sich die fließenden Grenzen dieses halb geträumten Landes einigermaßen verfestigt. Das heutige, postsowjetische Belarus ist nach 1990 dadurch entstanden, daß die führenden Kader des weitgehend unveränderten belarussischen Staatsapparats die Macht an nicht mehr (oder nicht mehr explizit) kommunistische Politiker abgaben – welche freilich zum größten Teil (wie der heutige Staatspräsident Lukaschenka) zuvor durchaus loyale Kommunisten gewesen waren. Im ährenumkränzten Staatswappen der einstigen Sowjetrepublik wurden Hammer und Sichel durch eine Silhouette des Landes ersetzt. Die heraldisch unvermeidliche Sonne geht jetzt hinter den Landesgrenzen auf, nicht mehr hinter dem Symbol der proletarischen Internationale. Der zentrale Leninboulevard in der belarussischen Hauptstadt Minsk wurde umbenannt und feiert inzwischen die Unabhängigkeit. So gut wie alle anderen wichtigen Straßen – wo sich heute avantgardistisch eingerichtete Restaurants und Bars aneinanderreihen, elegante Frauen und bärtige Hipster flanieren – heißen jedoch weiterhin nach den Klassikern der marxistisch-leninistischen Theorie, nach sowjetischen Partisanenführerinnen und kommunistischen Politikern wie Kirow, Swerdlow, Dscherschinski und Kalinin. Der überwiegende Teil der belarussischen Wirtschaft befindet sich immer noch in Staatseigentum und wird nach wie vor durch Fünfjahrespläne gesteuert.
Ich bin im tiefen Winter zum ersten Mal nach Minsk gekommen, im Januar 2015. Schon Tage zuvor war ich voll düsterer Vorahnungen und Befürchtungen. Um ehrlich zu sein: Ich hatte Angst vor meiner Reise nach Belarus. Es war spät in der Nacht bei meiner Ankunft und ich lief in dem weitgehend menschenleeren, blitzsauberen und bis in den letzten Winkel neonhell ausgeleuchteten Minsker Flughafen todmüde von Pontius zu Pilatus, um Geld zu wechseln und bei einer schlechtgelaunten Schalterbeamtin für Pfennigbeträge eine Krankenversicherung abzuschließen. Dann wurde mein Visum von einer Zollbeamtin in ihrem Glaskabuff am Ausgang ins Land minutenlang – unter anderem mit einer Lupe – geprüft. Daß sich das Schloß meines schicken neuen Aluminiumkoffers, der am längst ruhenden Gepäckförderband vereinsamt im Neonglast stand, als kaputt erwies, arbeitete ich sofort zu einer politischen Gruselgeschichte um: der KGB (wie der belarussische Geheimdienst heute noch heißt) habe ihn geöffnet und nach ideologischer Konterbande durchsucht. Als ich vier Wochen später den reparierten Koffer bei der Ankunft in München in genau demselben Zustand vom Förderband zerrte, verstand ich, daß das nicht versenkte Bügelschloß des guten Stücks eine flugreisenuntaugliche Fehlkonstruktion war. Bis dahin war ich überzeugt, ins Fadenkreuz finsterer politischer Mächte geraten zu sein.
Es folgte die Fahrt durch das nächtliche Minsk. Und damit meine erste, noch flüchtige Bezauberung durch die Architekturen dieser Stadt. Der erste coup de foudre von vielen, die noch folgen sollten. Denn selbst dem verängstigten, wütenden und übernächtigten Reisenden mußte auffallen, daß die von unzähligen Scheinwerfern angestrahlte Folge historistischer Paläste, die sich theaterkulissenhaft in immer phantasmagorischerer Prächtigkeit zu beiden Seiten des champs-élysées-breiten Zentralboulevards entfaltete, geradezu bestürzend schön war. Obwohl sich die sanften Hügel der flachen belarussischen Landschaft bis in die Innenstadt fortsetzen, waren die Traufhöhen der champagnerfarbenen, von weißen Portikos, Säulen, Pilastern und Freitreppen gegliederten Ministerien, Wohnpaläste, Universitätsgebäude, Fabriken und Museen so genau aufeinander abgestimmt, daß sich ein geschmeidehaft einheitlicher Eindruck ergab – Resultat einer (wie ich später erfuhr) ausgeklügelten staatlichen Planungsästhetik, die in den späten vierziger und frühen fünfziger Jahren keine Straßenecke, keine Dachform, keine Fensteranordnung unbedacht gelassen hat. Es war ein gelungenes Paradox: Höchst individuell durchgestaltete Baukörper (deren formale Matrizes der italienischen Renaissance und dem russischen Klassizismus entstammten) ergaben ein schlagend prägnantes Gesamtbild. Angeleuchtete Balustraden hoben sich auf neobarocken Fassaden gegen den Nachthimmel ab. Unter dem Straßenniveau gelegene Parks taten sich hinter Begrenzungsmauern auf, wo in regelmäßigen Abständen eisschrankgroße Vasen und Urnen standen. Der Wagen überquerte eine von gußeisernen Geländern eingerahmte Brücke. Man sah auf eine weite nachtschwarze Wasserfläche hinab, deren geschwungene Ufer von einem weiß schimmernden Monopteros bewacht wurden. Zwischen mannshohen Marmorkugeln führten breite Treppen von dunklen Parkbäumen zu dem seebreit aufgestauten Fluß. Hinter durchsichtigen Winterwipfeln standen auf einem Hügel die Säulen eines neoklassizistischen Schlosses im Scheinwerferlicht: das Dienstgebäude der Generalität der belarussischen Sowjetrepublik, wie ich am folgenden Tag im Reiseführer las. Ein neogotisch aufstrebender Turm rechts davon trug den Sowjetstern.
In der barocken Altstadt war die Straße hügelaufwärts durch einen Schlagbaum gesperrt. Hier begann die Fußgängerzone. Ich schleppte meinen kaputten Koffer durch den tiefen Schnee zu meiner Herberge. Der Hotelkomplex Monastyrski ist ein umgebautes Barockkloster, breit hingelagert auf halber Höhe des Altstadthügels. Weiße Kirchen – zwei katholische in der flamboyanten Formenüberfülltheit des osteuropäischen Barock und der goldstrahlende Türmchenwald eines orthodoxen Gotteshauses – sehen in einen Innenhof von der Größe eines halben Fußballfeldes, über dem sich dreistöckig die geräumigen ehemaligen Mönchszellen türmen. Eine würde jetzt ein paar Tage lang mein Zimmer sein. Ein schweres Eichenbett. Ein ausladender dunkler Schrank. Die runden, irgendwie jagdschloßartigen Leuchter, die in den langen, nächtlich leeren Gängen unter den Korbgewölben hingen. Einerseits hatte das Klostergebäude, besonders von außen, etwas Tibetisches (ein frühbarockes Shangri-La). Andererseits schien mir, wenn ich durch diese Korridore zum Frühstücksraum und wieder zurück zu meinem Zimmer wanderte (und mich dabei mehr als einmal verirrte), ich sei in den Schauplatz eines noch nicht gedrehten Films von Wes Anderson geraten.
Zurück in meinem Dienstort in Georgien verblaßte die Erinnerung an Minsk wieder. Mir blieben die Bilder fröstelnder Wanderungen durch Nebel und Schnee zwischen den Palästen des Unabhängigkeitsboulevards, des heruntergekommenen, ehemals altdamenhaft gediegenen Interieurs im Restaurant Oliva, ein Selbstporträt Jurij Pens vom Anfang des letzten Jahrhunderts (es zeigt den Zeichenlehrer Marc Chagalls und El Lissitzkys in einer atelierartigen Witebsker Mansarde, wo er Pellkartoffeln frühstückt) oder die Erinnerung an die kosmischen Phantasien des dämonisch genialen Spinners und Malers Jasep Drasdowitsch, der in den zwanziger Jahren das Leben der Marsmenschen malte – unvergeßlich, weil man das Gefühl hat, daß er in Wirklichkeit unsere Zeit kommentiert. Ich machte mich in den nächsten Monaten und Jahren zugleich lächerlich und verdächtig, indem ich überall herumerzählte, die Hauptstadt der »letzten europäischen Diktatur«, wie Belarus im Bewußtsein des bescheidwissenden Westmenschen einzig und allein vorkommen zu dürfen schien, sei eine der schönsten und interessantesten, die ich je gesehen hätte. Ich bereitete mich damals innerlich schon darauf vor, meine Ruhestandswohnung in Berlin zu beziehen, als ein Anruf der Personalabteilung kam. Man finde momentan niemanden, der das Goethe-Institut in Minsk leiten wolle, und ob ich mir nicht vielleicht vorstellen könne, das kommissarisch ein Jahr lang zu machen, bis man eine endgültige Besetzung gefunden habe.
[...]
SINN UND FORM 1/2021, S. 5-20, hier S. 5-8
Es war im September 1979. Ich war siebenundzwanzig und wanderte an einem dunklen Herbstabend auf der Stuttgarter Schloßstraße in Richtung (...)
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Mein Leben als Schwamm
Es war im September 1979. Ich war siebenundzwanzig und wanderte an einem dunklen Herbstabend auf der Stuttgarter Schloßstraße in Richtung Liederhalle. Erstes Herbstlaub fiel und verwehte. Gelbliches Laternenlicht warf filigran windbewegte Baumschatten von Robinien auf den grauen Bürgersteig. Eine beunruhigende Begegnung mit einem ehemaligen Internatskameraden lag hinter mir. Eine verwahrloste Wohnung in einem Hinterhof des Stuttgarter Westens, dämonisch inkohärentes Gerede, der Eindruck eines durch Drogen zerstörten Menschen. Der unvermeidliche Joint, an dem ich widerwillig partizipiert hatte. »Nach etwas bedrückt-reduzierter Zeit mit Absencen auf der Schloßstraße von einem Schritt auf den anderen voll drauf«, verzeichnet mein Tagebuch. »Ich wehre mich dagegen, schreckliche Angst, trockener Mund. Bekämpfe die Panik; ich will nicht abfahren (verrückt werden), ich will mich behalten. Ich will der bleiben, der ich bin, aber ich weiß plötzlich nicht mehr, wer das ist. Furchtbare Angst, den Verstand zu verlieren.«
Ich wußte es gleich. Es war mehr als eine haschischinduzierte Panikattacke. Was mich jetzt in einem Moment mutwillig herbeigeführter innerer Hilflosigkeit heimsuchte, war immer schon eine Möglichkeit und eigentlich auch immer schon dagewesen. Körperlich ähnelte der Zustand, der mich in den nun folgenden Wochen in immer tiefere Ratlosigkeit stürzte, einem Schwindel oder einer Übelkeit. Seine untrennbar mit diesen unangenehmen, aber immerhin bekannten Symptomen verbundene psychische Seite war aber noch viel unheimlicher: »Die Dinge, die man anschaut und erlebt, werden einem irgendwie fremd. Es gibt keine emotionale Verbundenheit mit ihnen, es scheint mir eine gewisse Unverständlichkeit und Absurdität an ihnen aufzufallen. Eine bisher unbekannte Lieblosigkeit meiner Umwelt mir gegenüber und eine Lieblosigkeit meiner selbst meiner Umwelt gegenüber tritt hervor. Die Gegenstände meiner Umwelt sind mir fremd geworden.« Auf halbem Weg zu meiner Wohnung flüchtete ich mich in ein Restaurant. Ich vermutete aufgrund meines Herzrasens, meiner Schweißausbrüche und meiner allgemeinen Geschwächtheit einen Unterzuckerungszustand. Auch konnte ich vor Schwindel fast nicht mehr gehen. »In der Pizzeria am Schloßgarten bestelle ich eine Torte, zu der ich einen Kaffee mit zahllosen Löffeln Zucker trinke. Ganz schlecht drauf, kann kaum mehr sehen. Angst, ohnmächtig zu werden. Dazu die wellenartig anflutenden irrationalen Angstschübe. Dissoziationsgefühle. Ich bin nicht mehr, der ich bin. Der realen Situation ganz unangemessene Gefühle: Angst vor einem Löffel, so absurd es klingt. Alltagsdinge, banale Gesprächssituationen nehmen eine unfaßbare Gräßlichkeit an, wie wenn man in einem Alptraum über ein einzelnes Ding oder Wort oder einen Satz in Panik gerät, weil er ein namenloses Grauen angenommen hat.«
Und es ging wochenlang nicht vorbei. Auch nach dem Abklingen der eigentlichen körperlichen Intoxikation passierte es mir in den folgenden Tagen immer wieder ohne Vorwarnung oder erkennbaren Grund, daß die Welt sich in einen durch unüberbrückbare innere Distanzen von mir getrennten Ort verwandelte. So nahm zum Beispiel das Gemälde eines in die braune Dämmerung des offenen Meeres hinausfahrenden Segelschiffs von Caspar David Friedrich, das ich für meine Dissertation beschreiben wollte, jenes formlose Grauen an. Das Bild drohte plötzlich, mich mitzunehmen auf ein nächtliches inneres Meer, aus dessen Weiten ich nie mehr zurückkehren würde. Mein Selbst würde für den Rest meines Lebens in dieser sich verdichtenden Dunkelheit treiben und irgendwann untergehen, ohne daß mich jemand noch einmal zu Gesicht bekäme. Das Kino, in dem ich mir einige Tage später den Film »Apocalypse Now« ansah, mußte ich vorzeitig verlassen, zitternd und schweißüberströmt. Der Zustand hatte mich übermannt, als in Coppolas Film zu erotischer Truppenbetreuung engagierte »Playboy Bunnies« unter den Klängen lauter Rockmusik, umstrahlt von grellem Scheinwerferlicht, auf eine Bühne im Dschungel stürmten, an deren Rand sich Hunderte sexuell ausgehungerte GIs drängten.
Dann begannen die Ausnahmezustände sich täglich zu wiederholen. Nach jedem Rückfall verringerte sich das natürliche und unhinterfragte Gefühl für die Welt. Es war sogar noch schlimmer: »Mein Selbst« kam mir stückweise abhanden. Ich ertappte mich mittlerweile dabei, daß ich möglichst vermied, meine Wohnung zu verlassen. Es war unübersehbar geworden, daß mit mir etwas Grundlegendes nicht in Ordnung war. Ich hatte gewissermaßen ein Rendezvous mit der Natur des menschlichen Selbstgefühls. Das »Selbst«, lernte ich damals, ist ein kleiner, unscheinbarer Bestandteil unserer inneren Verfassung. Wenn er ein paar Wochen dauerhaft fehlt, hat man das Gefühl, sich am liebsten aufhängen zu wollen. Man hat das Gefühl, verrückt zu werden. Oder es längst zu sein.
Was war mit mir los? Vierzig Jahre später versuche ich mir einen Reim auf meine damaligen Angstzustände zu machen. Überraschend schnell führt die psychoanalytische Tragikomödie eines nicht besonders drogenfesten Jungkommunisten aus bürgerlichem Haus auf gesellschaftspsychologisch Grundsätzliches. Im zeitlichen Abstand wird an meinen Verwirrungen zum Beispiel deutlich, daß die politisch-moralische Selbstsicherheit der Generation, die sich damals in ein neues Jahrzehnt hineinbewegte, in Wirklichkeit eine ziemlich instabile Sache war. Jenes Selbst, über das ich nach meinem nächtlichen Gang auf der Stuttgarter Schloßstraße im September 1979 ein paar Wochen lang nicht mehr uneingeschränkt verfügte, ist in der riskanten Atmosphäre gesellschaftlicher Umbruchsituationen offenbar besonders störanfällig. Und um 1980 bewegten sich die Kontinentalplatten unter der Oberfläche der bundesrepublikanischen Wirklichkeit. Es rumpelte und grollte in der Tiefe. Der Erdstoß aus den sechziger Jahren war verebbt. Eine Dekade zuvor, um 1970 herum, hatten unsere Autoritäts-, Lehr-, Aufsichts- und Respektspersonen unsere Vorstöße ins gesellschaftlich Ungedeckte und Radikale noch mit Sympathie begleitet, sogar ermutigt. Unvergeßlich ist mir zum Beispiel die Bemerkung eines der beiden Jungtheologen, die uns im »Evangelisch-Theologischen Seminar« nicht nur in den »Hörsälen« und »Stuben« beaufsichtigten, sondern im Klosterrefektorium auch ihre Mahlzeiten mit uns einnahmen und Apartments im Schlafsaaltrakt bewohnten – sie hießen seit dem 16. Jahrhundert »Repetenten«. Er wolle, gab dieser ernste junge Mann vor den Osterferien 1969 beiläufig zu Protokoll, in den beiden nächsten Wochen »einmal wieder nichts anderes tun, als Ernst Blochs Prinzip Hoffnung ganz durchzuarbeiten«. Seine Ankündigung beeindruckte mich tief. Es war ein Akt intellektueller Selbstterrorisierung, der ihm durchaus zuzutrauen war. Besonders die Vorstellung, daß unser Repetent sich jener Lektüre offenbar schon einmal unterzogen hatte und nicht ausschloß, dies in einer unbestimmt hinter den bevorstehenden Osterferien liegenden Zukunft ein weiteres Mal zu tun, die Vorstellung also, daß man Blochs Buch offenbar immer wieder durcharbeiten solle, war das Eindrucksvolle und eigentlich Haarsträubende. Die Erwachsenen schienen plötzlich ganz auf demselben trip zu sein wie wir; sie waren uns sogar voraus, wenn es um seine intellektuelle Facette ging. Ich erinnere mich an durch Jungmannschwärmerei überglänzte Abende mit einer jungen Kollegin meines Vaters, die mir Che Guevaras »Bolivianisches Tagebuch« ausgeliehen hatte und während eines Ferienaufenthalts im heimischen Blaubeuren die Verlautbarungen des südamerikanischen Revolutionsromantikers bei Bier und Zigaretten bis spät in die Nacht mit mir diskutierte. Der Mond erotischer und politischer Illusionen stand über dem Rand der Schwäbischen Alb und die Sommerbäume des Jahres 1969 rauschten, als flöge meine Seele durch die stillen Lande nach Haus.
Ein Jahrzehnt später jedoch, unter den Nachwirkungen des RAF-Schocks von 1977, sah sich unser aufrührerisches Selbstgefühl zunehmend alleingelassen von den großen Brüdern und Schwestern, an denen wir uns so lange orientiert hatten. Die waren jetzt Gymnasiallehrer und Professoren. Sie bekamen Kinder. Sie schlossen Bausparverträge ab. Sie wiegten plötzlich bedenkenträgerisch den Kopf, wenn ich von der antimonopolistischen Revolution schwadronierte. Ich fühlte mich 1980 – seit sechs Jahren Mitglied des MSB Spartakus, der Studentenorganisation der DKP – wie das Witzmännchen in jenem berühmten Comic, das von selbstbewußtem Überschwang enthusiasmiert über einen Abgrund hinauswandert, dann gleichsam erwachend nach unten sieht – und sich plötzlich im freien Fall befindet. Es kam zu einer Art Renaissance der Wirklichkeit. Der väterlich-herrische Helmut Schmidt saß schon ein paar Jahre als Kanzler im Sattel, der utopisch-mütterliche Willy Brandt war längst zurückgetreten. Und rechts griff der CDU-Kandidat Helmut Kohl beherzt an, allgemein lächerlich gemacht als »Birne«. »Birne« rief eine »geistig-moralische Wende« aus, die viel verspottet wurde, aber auch als unbestimmte Drohung im politischen Raum stand. »Berufsverbote« wurden ausgesprochen, die »Nachrüstung« beschlossen und gegen erstaunlich massive Demonstrationen unbeirrt durchgesetzt. Nachdem mein pseudorevolutionärer Drang sich ein Jahrzehnt lang von allgemeiner Sympathie bürgerlicher Bezugspersonen und Vorbilder getragen gefühlt hatte, stellte sich neuerdings das mulmige Gefühl ein, daß es von ihnen so radikal dann eben doch nicht gemeint gewesen war. Der illusionäre Überschwang linker Selbstfeier geriet nach einem euphorisch bewegten Jahrzehnt ins Stolpern.
Das Selbstgefühl – das haben meine Forschungen ein halbes Jahrhundert nach dem Selbstverlust von 1979 ergeben – ist überhaupt eine notorisch unzuverlässige Sache. Je genauer man sie betrachtet, desto geheimnisvoller schaut sie zurück. »Selbst« ist ein viel weniger erforschter Protagonist des menschlichen Seelentheaters als die von Sigmund Freud erfundenen und längst in die intellektuelle Folklore eingegangenen Helden oder Schurken namens »Es«, »Ich« und »Über-Ich«. Man könnte die innere Instanz »Selbst« im Gegensatz zu dieser bekannten freudianischen Dreifaltigkeit einerseits mit der Bühne vergleichen, auf der das Personal unserer inneren Commedia dell’arte seine Kapriolen schlägt und seine Schauerdramen aufführt. Und das von dem amerikanischen Narzißmustheoretiker Heinz Kohut als Therapieziel postulierte »funktionierende Selbst« könnte zugleich mit einem klug agierenden Theaterintendanten verglichen werden, der jene drei Charakterchargen zu motivieren, zu besänftigen, zu zügeln oder an der langen Leine zu führen versteht. »Ich« ist der wichtigste Ansprechpartner und Verbündete des Selbst in der Künstlergarderobe. Denn mit »Ich« läßt sich, manchmal jedenfalls, reden. Während »Es« sich wechselweise divenhaft und kindisch aufführt. Und »Über-Ich« einem starren alten Charakterschauspieler gleicht, dem seit ewigen Zeiten schon unkündbaren »one-trickpony« eines Stadttheaters in der Provinz. Zu irgendeiner Form läuft der eitle alte Herr nur noch auf, wenn man ihn als Musikus Miller oder Wotan besetzt – oder am besten gleich als Gottvater. Mein revolutionäres Selbst der siebziger Jahre hatte funktioniert, weil es sich im Einklang mit seiner Zeit wußte. Gottvater schien linksradikal geworden zu sein – auch Marx, Engels und Fidel Castro hatten schließlich lange Bärte. Mein »Ich« folgte dem revolutionären »Über-Ich« meiner Generation zuerst ungläubig staunend, dann immer feuriger auf seinen neuen Wegen. »Es« hatte derweil ganz eigene Vorstellungen, trieb sich tief in den fünfziger Jahren herum und konnte mit meinen Genossinnen der siebziger Jahre wenig anfangen. Und »Selbst« – der Impresario, der ein Jahrzehnt lang vollauf damit beschäftigt gewesen war, sein Theater in einen revolutionären Zirkusbetrieb umzubauen – fühlte sich völlig überfordert, als statt des marxistischen »Grand Guignol« jetzt plötzlich eine neue Bürgerlichkeit auf dem Programm stehen sollte.
Das alles ließ um 1980 einen sich immer weiter ausdehnenden Wirtschaftszweig in Mode kommen: die Psychotherapie. Vielleicht folgerichtigerweise betrat sie damals ebenfalls revolutionär die Bühne, als Lifestyle und in Form miteinander verfeindeter Sekten. Sie empfahlen die »Urschrei«-Therapie oder luden in den »Ashram« des »Bhagwan« Shree Rajneesh in Poona ein. Sie versprachen psychische Wiedergeburt durch »Rebirthing« oder das Übermenschentum als »Operierender Thetan« mit Hilfe von »Scientology«. Gurus und ihre Heilslehren gerieten allgemein in Umlauf. Seriöse Psychotherapie hatte es natürlich schon vor den neuerdings boomenden Wahnsinns- oder Beschleunigungsformen gegeben. An einem Wintertag in den späten Siebzigern hatte zum Beispiel mein bester Freund, ein ehemaliger Mitseminarist, Besuch von seinem Bruder, der in den USA eine Ausbildung zum »Gestalttherapeuten« absolvierte. Eine Ausbildung wozu? Dringlich befragten wir ihn darüber, was das denn eigentlich sei. Nach Gestalttherapeutenart bot er kurzerhand an, uns einfach mal eine Demonstration zu geben. Im WG-Zimmer meines Freundes stellte er mit Hilfe zweier Stühle die von den Psychoanalyse-mavericks Fritz und Laura Perls, Ralph Hefferline und Paul Goodman 1951 erfundene therapeutische Standardsituation her. Der Bruder aus Amerika entführte uns nacheinander binnen weniger Minuten in eine Arena von Gefühlen, Selbstbildern und Introjekten, die sich bisher nur am Rand unseres Bewußtseinsfelds herumgetrieben hatten, jetzt aber anschaulich Gestalt gewannen. Sie saßen als phantasierte Figuren vor uns auf dem leeren Stuhl. Dann wieder wurden sie von uns selbst verkörpert und während alldem gleichsam erkannt: »Ach, du bist das!« Es war die erste Berührung mit einer neuen und aufregenden Dimension des Selbsterlebens. Sie führte uns hinaus über den leibfeindlichen und gefühlsfernen protestantischen Bannkreis moralischen und pseudopolitischen Intellektualisierens, in dem das Evangelisch-Theologische Seminar uns erzogen hatte. Aus der Papierwelt ins Leben. Es war, als sei uns unsere innere Wirklichkeit auf einmal zum Greifen nahe. Heute noch ist mir gegenwärtig, wie real die verschneite Stadtlandschaft vor dem Fenster aussah, als ich – gleichsam erwacht und noch halb betäubt eine Zigarette rauchend – wieder aus dem Theater meiner Introjekte in die Wirklichkeit zurückfand. Die schneebedeckten Autos und Straßenlaternen da draußen, die sich fast unmerklich bewegenden Zweige der Bäume, die langsam fallende Dämmerung, das Gesicht meiner hinter mir stehenden Freundin, als ich mich wieder ins Zimmer hinein umdrehte. Alles hatte neue Konturen gewonnen. Als sei es jetzt erst in die volle Sichtbarkeit getreten. Und ich in mich selbst zurückgekehrt.
»Ich will, daß es draußen schneit und ich nur deine Stimme höre«, lautete die zu diesem Moment gehörende Zeile eines nie geschriebenen Gedichts. Für eine Zigarettenlänge war ich »Vollbürger der Realität« im Foyer des Hotels »Wirklichkeit « gewesen. Dieses Realitätsbewußtsein war ein neues, tatsächlich unbekanntes Gefühl. Es glich von allem, was ich kannte, am meisten den Minuten nach dem Orgasmus. Dann verschwand der Ausnahmezustand wieder in den Wellen des Alltags. Aber mein Freund und ich hatten an jenem Stuttgarter Winternachmittag ein für alle Mal verstanden, daß Psychotherapie zwar ins Reich der Unvernunft führt, aber paradoxerweise trotzdem eine vernünftige Sache ist und in diesem Spannungsfeld zwischen Vernunft und Unvernunft reale Wirkungen zeitigt. Die schon verwendete Theatermetapher führt bei der Beschreibung dieser eigentlich nicht beschreibbaren Wirksamkeit am weitesten. Psychotherapie berät und unterstützt das Selbst ihres Klienten bei dem Vorhaben, seine Intendantenfunktion zu erlernen oder wiederzugewinnen. Denn auf der Bühne der Gesellschaft und der eigenen Existenz, mit jenem dauernd in sich zerstrittenen und wenig einsichtigen Personal muß unser Selbst, ob es will oder nicht, eine Vorstellung zustande bringen, die es der Welt irgendwie präsentieren kann. Die Qualität dieser Aufführungen ist naturgemäß sehr unterschiedlich. Die Bandbreite reicht vom Schmierentheater bis zu großem Kino. Im einigermaßen gelungenen Fall aber bringt der Intendant »Selbst« ein theatrales Arbeitsumfeld zustande, das Heinz Kohut in seinem Buch »Die Heilung des Selbst« als einen »psychologischen Sektor« beschreibt, »in dem Strebungen, Fertigkeiten und Ideale ein ungebrochenes Kontinuum bilden, das von Freude erfüllte Tätigkeit ermöglicht«. Was jenes Selbst aber eigentlich ausmacht, das da im Interesse einer gelungenen Lebensaufführung mit Es, Ich und Über-Ich verhandelt, weiß man im Grunde nicht. Das Selbstgefühl ist die geheimnisvollste Instanz des inneren Apparats.
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SINN UND FORM 6/2021, S. 725-737, hier S. 725-730