Venclova, Tomas
geb. 1937 in Klaipeda (Memel), litauischer Dichter, Schriftsteller und Übersetzer. 1977 erzwungene Emigration in die USA, Lehrtätigkeit an verschiedenen Universitäten, ab 1980 an der Yale University, lebt in Vilnius. Auf deutsch erschienen u. a. »Gespräch im Winter. Gedichte« (2007) und »Der magnetische Norden. Gespräche mit Ellen Hinsey« (2017). (Stand 1/2020)
Siehe auch SINN UND FORM:
- 2/2018 | Der Fürst und sein Zar. Briefe aus dem Exil
- 1/2020 | Prosper Mérimées letzte Novelle
Manchmal denke ich, man sollte alle Länder der Welt in zwei Klassen einteilen – in Immigrations- und Emigrationsländer. Man könnte mir (...)
LeseprobeVenclova, Tomas
Der Fürst und sein Zar. Briefe aus dem Exil
Manchmal denke ich, man sollte alle Länder der Welt in zwei Klassen einteilen – in Immigrations- und Emigrationsländer. Man könnte mir entgegenhalten, dies sei eine unzulässige Vereinfachung, die darauf zurückführen ist, daß ich selbst sowohl Immigrant als auch Emigrant bin. Doch ich würde meine Ansicht verteidigen. Jeder weiß, daß die Vereinigten Staaten – ihre Stärke, ihr Wohlstand, ihre Kultur – vornehmlich, wenn nicht sogar ausschließlich von den Massen von Ankömmlingen geschaffen wurden, die frei zu atmen begehrten (um es mit den Worten der Inschrift der Freiheitsstatue zu sagen). Im Gegensatz dazu wurde Rußlands Kultur – nicht jedoch seine Stärke und seine nicht vorhandene Prosperität – in beinah demselben Ausmaß von Emigranten, von den bemitleidenswerten Verstoßenen jenes alten, pompösen Imperiums erschaffen. Dasselbe läßt sich im wesentlichen auch über Polen sagen und vermutlich auch über Litauen, mein Heimatland – sowie über alle Länder jener schwer zu definierenden Region namens Ost- oder bisweilen auch Mitteleuropa im Schatten des besagten Imperiums.
Die Emigranten dieser Länder kann man, wiederum, mindestens in zwei Gruppen einteilen. Die einen, wie Adam Mickiewicz und Alexander Herzen im 19. Jahrhundert und meine Zeitgenossen Czesław Miłosz und Joseph Brodsky, verlassen ihre Heimat für immer. Andere, wie Boris Pasternak oder Michail Bulgakow, werden zu inneren Emigranten. Die »innere Emigration« ist eine russische Spezialität. Selbst Alexander Puschkin war in einem gewissen Sinne ein innerer Emigrant. Er wollte immer ins Ausland reisen, bekam aber, wie sich leicht erraten läßt, niemals eine Ausreisegenehmigung. In seiner Verzweiflung verfiel er auf die seltsamsten Ideen: Er versuchte, sich einer russischen Delegation nach Peking anzuschließen, und meldete sich im russisch-türkischen Krieg sogar freiwillig zur Armee, nur um ein einziges Mal im Leben ausländischen Boden zu betreten. Es gelang ihm auch, doch da war der besetzte türkische Boden, wie er enttäuscht feststellte, bereits russisch geworden.
Viele Russen haben die Trennlinie zwischen innerer und echter Emigration überwunden, und manche von ihnen sind sogar zurückgekehrt, beispielsweise Marina Zwetajewa und Sergei Prokofjew, und es hat ihnen, milde ausgedrückt, nicht gutgetan. Im übrigen läßt sich auch keine klare Trennlinie zwischen beiden Formen der Emigration und dem Tod ziehen.
Dagegen gibt es einen deutlichen Unterschied zwischen einer gewöhnlichen und einer aussichtslosen Tyrannei. Die letztere zeichnet sich durch totale Isolation und Abgeschlossenheit aus (was der Marquis de Sade sehr gut verstand). Länder, die ihre Grenzen auf Dauer schließen, rechtfertigen diese Entscheidung mit eindrucksvollen Mythen. Diese Mythen sind Hunderte Male widerlegt worden und trotzdem unglaublich lebendig. Sie erhalten sich nicht nur durch die Bemühungen der Regierungen, sondern auch durch die in den Gesellschaften vorherrschenden Meinungen. Meistens ist die Argumentation die folgende: Die Abkehr von der eigenen Gesellschaft (und sogar die Entscheidung für die innere Emigration) ist geistiger Selbstmord. Es ist ein nichtswürdiger Akt, der dem Betrug an der eigenen Frau oder, noch besser, an der eigenen Mutter gleichkommt. Es ist ein religiöses Verbrechen, die Ablehnung des wahren Glaubens. Emigration ist die Abwendung von gewissen mystischen Wahrheiten, deren Erkenntnis nur auf heimatlichem Boden möglich ist. Natürlich ist das Leben auf diesem Boden schwer, niemand wird das bestreiten, aber das eigene, von unendlichem Leid heimgesuchte Land im Stich zu lassen, ist unmoralisch und ehrlos. Der Mensch kann ohne die heimatliche Landschaft vor Augen nicht leben. Ein Schriftsteller kann ohne seine Muttersprache nicht existieren. Die menschliche Kreatur ist nicht von sich aus klug und anständig – sie ist ein untrennbarer Teil ihres heimatlichen Bodens, ein Tropfen Heimatblut, ein Rädchen im geistigen Getriebe der Heimat. Verstand und Anstand können ohne kollektive Volkseele nicht existieren. Der Mensch ist ein Embryo, der stirbt, wenn die Nabelschnur durchtrennt wird, die ihn mit dem warmen, starken Körper seiner Großen Mutter verbindet. Das Individuum existiert nicht, basta.
Selbstverständlich hat es Menschen gegeben, die diese Mythen bewußt oder unbewußt abgelehnt haben. Oder wenigstens mit ihnen gerungen haben wie Jakob mit dem Engel. Es gibt gute Gründe für die Behauptung, daß auf diese Weise – durch Ablehnung und Ringen mit diesem Mythos – das Beste entstanden ist, was die russische und osteuropäische Kultur hervorgebracht hat.
Über diese Menschen kann man unendlich viele Geschichten erzählen, die nicht immer interessant, aber meistens lehrreich sind. Zum Beispiel die Geschichte, wie Boris Godunow, jener relativ liberale – von Puschkin ein bißchen zu Unrecht in dem bekannten Drama verurteilte – Zar, zu Beginn des 17. Jahrhunderts eine ganze Reihe junger russischer Aristokraten zum Studium ins Ausland schickte und kein einziger zurückkam. Das hatte, um es mit Ossip Mandelstam auszudrücken, einen sehr einfachen Grund: Es gibt keinen Weg zurück aus dem Sein ins Nichtsein. Die Konfrontation mit dem Sein jedoch war offenbar kaum zu verkraften, zumindest nicht für einige der jungen Männer. Einer von ihnen ging jeden Tag zu jenem Gebäude in London, in dem sich damals die russische Gesandtschaft befand, und rief aus sicherer Entfernung: »Ihr Moskowiter seid alle verdorbene Dummköpfe!« Später begann er zu stehlen und wurde entsprechend der englischen Rechtsprechung feierlich hingerichtet. Dies ist, leider, ein beständiges Schema, dem das Schicksal von russischen (und osteuropäischen)
Emigranten folgt.
Viel später, im 19. Jahrhundert, gab es Wladimir Petscherin, einen Philosophen und Dichter von unbestreitbarem (wenngleich nicht außergewöhnlich großem) Talent. Vom russischen Staat nach Europa entsandt, desertierte er und konvertierte sogar zum Katholizismus, trat in ein Redemptoristenkloster ein und starb mit achtundsiebzig Jahren in Dublin. Er war allmählich zu extrem konservativen Überzeugungen gelangt und organisierte sogar eine öffentliche Verbrennung von Büchern, die er für häretisch hielt, was einen großen Skandal auslöste. Manche behaupten, er sei der Prototyp des Großinquisitors der »Gebrüder Karamasow«. Zwei Verse von ihm seien hier erwähnt:
Oh, wie süß es ist, sein Heimatland zu hassen
Und ständig seinen Untergang herbeizusehnen!
Ich bin der Meinung, daß dies einer der originellsten – und, mag sein, auch furchtbarsten – Texte der Weltliteratur ist. Mich läßt er allerdings weniger über die Morallosigkeit eines Petscherin als vielmehr über ein Heimatland nachdenken, das zu solchen Versen inspiriert.
Aber die längste Emigrantengeschichte, die ich erzählen möchte, ist eine andere. Ihr Protagonist war zweifellos von größerer Weisheit als Petscherin und reifer als jener unglückliche junge Mann, der im London des 17. Jahrhunderts zugrunde ging. Er war ein Militär und Staatsmann sowie ein guter – wenngleich kein herausragender – Schriftsteller. Überdies war er der erste russische Emigrant, der es wagte, die Nabelschnur zur kollektiven Seele zu kappen und sich zu einem unabhängigen menschlichen Wesen zu entwickeln. Über vierhundert Jahre trennen uns von ihm. Sein Name war Fürst Andrei Kurbski. Kurbski war und ist in einem gewissen Sinne unser Patron – kein heiliger Patron (er war alles andere als heilig), sondern eine Art Vorvater: ein Mann, der vielfach mit denselben Problemen konfrontiert war wie wir und manchmal sogar dieselben Worte verwendete.
Diese Geschichte hat, genauer gesagt, zwei Protagonisten. Der andere ist sogar noch außergewöhnlicher. Es ist der Zar von ganz Rußland, der erste, der sich überhaupt als »Zar« bezeichnet, als Imperator. Im Westen ist er als Iwan der Schreckliche bekannt. Diese Übersetzung ist ein wenig ungenau, denn »grosnyj« bedeutet streng und furchteinflößend. Mit diesem Adjektiv bezeichnet man einen Vater, eine Naturgewalt oder eine Gottheit. Es wurde häufig auch auf Stalin angewendet. Einer verbreiteten Meinung zufolge bedeutete es, daß dieser Herrscher zwar furchteinflößend war, aber auch für seine treuen Untertanen gesorgt hat. Hier wollen wir ihn Iwan den Gestrengen nennen.
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Aus dem Litauischen und Englischen von Claudia Sinnig
SINN UND FORM 2/2018, S. 209-218, hier S. 209-212