Stoessel, Marleen
geb. in Meiningen / Thüringen, Autorin, Essayistin, Kulturpublizistin, lebt in Berlin. 2008 erschien »Lob des Lachens – Eine Schelmengeschichte des Humors«. (Stand 4/2024)
Siehe auch SINN UND FORM:
- 3/2014 | Erinnerung an Otto Sander
- 4/2015 | Der siebte Sinn oder die Zwölf ist ein Löwe. Erfahrungen mit Synästhesie
- 6/2016 | Mythos Georgien?
- 4/2024 | An der Grenze des Lichts. Erzählung aus der Zeit der Schatten
Synästhesie – ein Wort so luftig wie ein seidenes Gewebe, rötlich schimmernd, Y und I sticken etwas Gold und Gelb hinein. Ein schönes, rhythmisch ausschwingendes Wort – selbst das Ä, meinen Ohren empfindlich, fügt sich mit einem bläulich-lila Streif harmonisch in das zarte Klanggebilde ein. Alle Vorsilben mit Syn oder Sym haben diese gelbrot-goldene Tönung. Eingedunkelt und kompakt gerundet erscheint sie in dem Wort Symbol. Härtere Kontur wiederum gewinnt die Silbe in Symmetrie, wo dem Wort nichts Gewebeartiges mehr eigen ist – (...)
LeseprobeStoessel, Marleen
DER SIEBTE SINN
ODER DIE ZWÖLF IST EIN LÖWE
Erfahrungen mit Synästhesie
Synästhesie – ein Wort so luftig wie ein seidenes Gewebe, rötlich schimmernd, Y und I sticken etwas Gold und Gelb hinein. Ein schönes, rhythmisch ausschwingendes Wort – selbst das Ä, meinen Ohren empfindlich, fügt sich mit einem bläulich-lila Streif harmonisch in das zarte Klanggebilde ein. Alle Vorsilben mit Syn oder Sym haben diese gelbrot-goldene Tönung. Eingedunkelt und kompakt gerundet erscheint sie in dem Wort Symbol. Härtere Kontur wiederum gewinnt die Silbe in Symmetrie, wo dem Wort nichts Gewebeartiges mehr eigen ist – auch der Goldton des Y hat sich im Doppel-M seiner Mitte förmlich eingedickt zu einem Braun-Orange, bevor die Wortform im anlautenden grünstichigen Tr der dritten, jetzt hart-gelben Silbe sich scharf abgrenzt, konturiert und dann auflöst.
Silben, Wörter, Namen, Buchstaben sind seit je Farb- und Klangereignisse für mich, manchmal stofflich fühlbar in Form, Haut, Textur und Gestalt. Ebenso Wochentage, Monatsnamen, Jahreszeiten sowie Zahlen und ihre Einheiten, die Jahrhunderte oder Dekaden. Und immer Stimmen, Instrumente, manchmal auch Töne, einzelne Phrasen, Intervalle oder der Nachhall eines Musikstücks, bevor der Applaus das Klangbild zerbricht. Auch der Geschmackssinn ist betroffen: Nahrungsmittel, Getränke und Gerüche lösen stets mehr oder weniger starke Farb- und Formvorstellungen auf meiner inneren Leinwand aus, auch sie oft von stofflich-taktiler Qualität.
Wie wunderbar ein Rotwein, in dessen samtener Tiefe die Zunge den zarten rötlichen Reflexen nachzuspüren vermag. Sind diese Reflexe zu groß, zu hell und zu grell, hat der Wein die gewünschte Fülle und Reinheit nicht. Die Geschmacksknospen verschließen sich, die Blume des Weins verwelkt, ehe sie blühen konnte. Und wie das Kosten und Schmecken ist natürlich auch das Kochen ein synästhetisches Geschehen, ein Komponieren mit Farben und Aromen, wobei das klangschöne aschblaue Wort Aroma ja alles einschließt: Geschmack und Würze und Duft.
Schwingung – das ist das Zauberwort, das »Sesam, öffne dich!« zur synästhetischen Erfahrung, welches den phantastischen Schatz aufschließt, der aus dem »Mitempfinden«, dem Zusammenfall, Zusammenklang verschiedener Sinne, ihrem Miteinanderschwingen geboren wird. Ein Schatz voller Poesie, eine eigene Welt voller Reichtümer, die keiner Drogen bedarf. Diese ererbte Gabe ist ein Geschenk, das mir lange Zeit nicht bewußt, sondern selbstverständlicher Begleiter jeglicher Wahrnehmung war.
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Nehmen wir die Zahlen. Natürlich sind das Wesen, Wesenheiten, kleinere oder größere »Persönlichkeiten« mit Farben und Charakter, mir mal mehr, mal minder sympathisch. Sie sind Realien, Realitäten, keine Abstraktionen – weshalb mir der alte philosophische Universalienstreit immer unverständlich blieb. Wie die Buchstaben, so sind auch die Zahlen ein Kosmos für sich, und manche teilen miteinander einzelne Farben und Tonwerte. Die 1 ist eine anthrazitfarbene, leicht aufgerauhte, aufrechte Gestalt, schmucklos und sehr ernst, als spüre sie die Verantwortung als Anführerin der ihr folgenden Zahlenherde. Die 2, von sanftem Ocker mit einem Schimmer Rosé darin, schwimmt versonnen dahin wie eine Ente. Die 3 ist lilienfarben, sehr rein, sehr heilig, sonntäglich. Obwohl der Duft von Lilien mir Atemnot bereitet, wirkt in der 3 nur ihr milde strahlendes Blütenweiß. Die 4 – eine wichtige Lebens- und lange meine Lieblingszahl – ist tief blau, veilchenblau. Zum Quadrat gefügt, präsentiert sie sich in akkurat rechtwinklig stählernem Schwarzblau. Im lebendigen Geschwisterquartett wiederum, lockerer gefügt als im strengen Quadrat (drei Brüder, als vierte ich), leuchtet sie in ihrem tiefen, dunklen Brüderblau.
Übergehen wir die freundliche strumpffarbene 5, die wie ein behaglicher Wollsocken ist, sowie die silbrige, immer auf Erfolg und Gewinn ausgerichtete 6 und kommen zu meiner absoluten Lieblingszahl, der 7. Wann sie die 4 ausgestochen hat oder ob sie schon immer, wie ich vermute, neben ihr herlief, weiß ich nicht. Die 7 ist grün. Wiesengrün. Paradiesisch grün. Metaphysisch grün. Sie läßt sich, trifft man nur den Zauberton, wunderbar mit dem dunklen Blau kombinieren. Auch wenn es mir eine Weile so schien, 4 und 7, Dunkelblau und Wiesengrün, konkurrieren nicht, so wenig wie die Veilchen mit der Wiese, in deren feuchten Gründen sie ihrer Entdeckung harren. Vom vierblättrigen Kleeblatt, dessen geheime Winkel Kinderwissen sind, zu schweigen.
Natürlich gibt es noch mehr Lieblingszahlen, die es auch nur sein können, weil einige andere es nicht sind. So habe ich ein schwieriges Verhältnis zur 8. Sie ist magentafarben – eine Farbe, die, zu grellem Pink gesteigert, mir ein wirkliches Ärgernis ist. Sie beleidigt die Sinne, tut mehr als nur den Augen weh. Die 8 als solche aber bewahrt ohne derartige Steigerung eine gewisse Zurückhaltung, ihr blauroter Mischton hält auf Abstand, nie weiß ich, ob sie mir wohlwill oder nicht. In ihrer Doppelung, sprich 88, oder in weiterer Vervielfachung intensiviert sich die Farbe, und je dunkler, desto angenehmer, ja vornehmer wird sie. Die 9 ist ebenso faszinierend wie unheimlich. Fast schwarz, ist sie die Todeszahl.
Tod und Vollendung. Schwarze Verhüllung. Transzendenz. Ein Rest von Blau wirkt noch darin. Daher die Faszination. In der 19 aber hat sie alles Transzendente verloren, hier erscheint sie nur noch negativ. Diesseitig, ohne jeden Farbenhof, unansehnlich in ihrem abgeschabten stumpfen Schwarz, erinnert mich die Zahl an die physische Seite des Todes. Auch als Primzahl, durch nichts als sich selber teilbar, vermag die 19 ihr Ansehen nicht zu verbessern. An jedem 19. August erlebe ich überdies atmosphärisch, an Licht und Geruch den Übergang zum Herbst, noch ehe ich mir des Datums bewußt geworden bin. Ein Abschied. Die 10 wiederum trägt einen mittelgrauen Anzug, kleines Karo, ein Bürotyp, korrekt, freundlich-beflissen, ein bißchen langweilig. Immerhin hat er, sprich sie, die Null im Gepäck, die nicht zu unterschätzen ist. In ihrer Tarnkleidung ist die 10, Begründerin des Dezimalsystems, wichtiger, als sie erscheint. Keine Dekade, kaum eine Maßeinheit ohne sie. Die 11 indessen ist sehr geheimnisvoll: ein hauchdünnes weißgraues Gespinst, an dem die Elfen und Feen, die Nebel, Gespenster und Geister weben. Märchenhaft. Ich mag sie gern. Mit dem Karneval hat sie in meinen Augen nichts zu tun – das wäre viel eher Sache der schrägen, spottlustigen 13.
Die 12 ist eine weitere Lieblingszahl, mit einer weiteren Lieblingsfarbe: dem Goldbraunbronzeton. Die ocker-roséfarbene 2 hat sich hier gewissermaßen vergoldet, vergrößert, gewölbt und gerundet – statt des schwimmenden Entleins lagert hier majestätisch: ein Löwe! Zugleich ist bei der 12, mehr als bei den anderen Zahlen, der Unterschied wichtig, ob sie sich als Ziffer oder als Wort präsentiert. Im Klang sind beide gleich, als Ziffer jedoch erscheint mir die 12 nur goldbraun, wie ein schön gebackenes Brötchen. Als ausgeschriebenes Wort aber ist die Zwölf der Löwe: dahingelagert mit seinem schweren Rumpf und dem mächtigen Kopf mit der Mähne, der sich um den Wortleib schmiegende Schweif mit der krausen Quaste läuft sinnfällig aus im grau-lila Buchstaben F. Zwölf: ein hoch sich wölbendes und zugleich in sich ruhendes Wort. Goldbraun, mähnen stolz, majestätisch – von löwenhafter Evidenz.
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SINN UND FORM 4/2015, S.497-508, hier S.497-499
Dies sind nur tastende Worte der Annäherung an ein Land, eine Stadt, Tbilisi, die sich mir vor allem im Hitzeschleier zeigte, in einer Dunstglocke, die ihre Farben dämpfte und ihr etwas von einem "panischen Schlaf" verlieh. Einem ewigen Mittag, dessen Pulsschlag ich für ein paar Tage im Juni mitträumte und dessen Traumbild jetzt Erinnerung ist. Aus dieser erinnerten Ferne, Monate später, der Versuch einer Annäherung an dieses Bild, mein Tasten nach dem Ton, dem Wort, das ihm entspricht. Sagt sich all das doch so leicht: (...)
LeseprobeStoessel, Marleen
Mythos Georgien?
Dies sind nur tastende Worte der Annäherung an ein Land, eine Stadt, Tbilisi, die sich mir vor allem im Hitzeschleier zeigte, in einer Dunstglocke, die ihre Farben dämpfte und ihr etwas von einem »panischen Schlaf« verlieh. Einem ewigen Mittag, dessen Pulsschlag ich für ein paar Tage im Juni mitträumte und dessen Traumbild jetzt Erinnerung ist. Aus dieser erinnerten Ferne, Monate später, der Versuch einer Annäherung an dieses Bild, mein Tasten nach dem Ton, dem Wort, das ihm entspricht. Sagt sich all das doch so leicht: »Mythos Georgien«, die Elogen und Superlative, die Projektionen und Klischees, die uns jeder Reiseführer, jede Reisewerbung bietet. Mythos ist immer Erzählung, Legende, ihre besungene, gefilterte Wahrheit und ebenso ihre verzerrte, historisch vielfach entstellte Wahrheit, die Lüge. Von beiden Arten hat dieses uralte Land, dessen westlicher Saum am Schwarzen Meer einst Kolchis hieß – Sehnsuchtsort der Argonauten auf der Suche nach dem Goldenen Vlies –, übergenug. Das Alter und die Sprache, die keiner der großen bekannten Sprachfamilien angehört, tragen dazu bei. Mehr konsonantisch als vokalisch, wirkt ihr Klang wie aus Holz und kaukasischem Mineral gemeißelt, dem Auge aber präsentiert sich ihre runde, ornamental geschwungene Schrift wie in Gold geprägt, oder wie das einstmals aus den Wassern »gevlieste« Gold.
Dort, in Batumi, direkt am Ufer des Schwarzen Meers, ragt heute ein neun Meter hohes Kunstwerk empor, eine kinetische Skulptur der Künstlerin Tamara Kvesitadze, »Man and Woman« genannt. Zwei aus vielen schmalen Aluminiumringen bestehende Figuren, männlich und weiblich, bewegen sich allabendlich aufeinander zu, verschmelzen miteinander und entfernen sich wieder. Allegorien all jener Differenzen, die unser Eigensein und Anderssein bezeichnen, ob geschlechtlich, ethnisch, kulturell. »Ali und Nino« werden sie im Volksmund genannt, nach dem berühmten Roman von Kurban Said, der die Geschichte einer Liebe zwischen der georgischen, europäisch-christlich erzogenen Nino und Ali, dem muslimischen Sohn aus vornehmem aserbaidschanischen Haus in Baku, erzählt. Eine Liebe, die alle kulturellen Kluften zu überbrücken scheint und doch an ihnen scheitert.
Ihr Verfasser stellt einen eigenen Mythos dar, dessen Webmuster aus seinen drei Namen gebildet ist: Zwei Pseudonyme, Kurban Said und Essad Bey, überblenden seinen eigentlichen Namen Lev Nussimbaum, als der er 1905 in Baku geboren wurde, als Sohn eines aus Tiflis stammenden jüdischen Ölbarons und einer russisch-jüdischen Revolutionärin und Stalin-Vertrauten, die Selbstmord beging, als Lev gerade sechs Jahre alt war. Revolution und russische Okkupation vertrieben Vater und Sohn aus dem Land, nach abenteuerlicher Flucht quer durch die benachbarten Länder landeten sie 1920 in Berlin. Dort konvertierte der Gymnasiast Lev zum Islam, nannte sich von da ab Essad Bey, später dann, als weitere Tarnung gegenüber den Nationalsozialisten, auch Kurban Said. Mehrere Dutzend Bücher hat der mit 36 Jahren schwerkrank und verarmt in Positano verstorbene Nussimbaum hinterlassen, darunter auch Biographien Mohammeds und Stalins. Eine Gedenktafel mit seinem Porträt erinnert gegenüber dem Berliner Literaturhaus an den heute weitgehend Vergessenen. Hundert Jahre später folgte der amerikanische Journalist Tom Reiss den Spuren, man könnte auch sagen: der einzigartigen Schelmengeschichte dieses Autors, der sich selbst zum Mythos stilisiert hatte, und es gelang Reiss in seinem höchst spannenden Buch »Der Orientalist«, Lev Nussimbaums Geheimnis weitgehend zu lüften.
Nicht zuletzt der Roman »Ali und Nino« war es, der vor über zwanzig Jahren meine Sehnsucht nach diesen Ländern jenseits des Schwarzen Meeres weckte, der mir Ansätze für mein Verstehen fremder, muslimischer Sitten und Ehrbegriffe vermittelte und mir desto schärfer die westliche Überheblichkeit gegenüber dem Osten, dem »Orient« vor Augen führte. In meinen Literaturlexika suche ich bis heute Roman und Namen des Autors vergebens, obgleich doch gerade in der Auseinandersetzung mit dem seinerzeit von Edward Said kritisch ins Feld geführten Begriff des »Orientalismus« Lev Nussimbaums ebenso ironische wie ernstgemeinte Maskerade erhellend ist. Dem Erstaunen über diese Leerstelle sekundiert die Tatsache, daß es erst Navid Kermani mit seiner Paulskirchenrede gelang, das mit westlich-aufklärerischer Arroganz verdrängte Bild der uralten islamischen und arabischen Kulturen wiederzuerwecken. Als gäbe es dort nur primitive, brutale Völker und Stämme und nicht Gelehrte wie Avicenna, Kultur- und Dichterheroen wie Hafis, Al Ghazali oder Rumi, letztere auch Angehörige der Sufis, die freilich bis heute, so wie früher alle unorthodoxen Strömungen in den monotheistischen Religionen, verfolgt werden.
Diese tief dem Mythos »Orient« eingelagerten Schätze, die es auch im Westen neu zu heben gilt – sie wären heute gleichsam das »Goldene Vlies«. Und förmlich wie ein Vlies am eurasischen Körper zwischen Schwarzem und Kaspischem Meer erstreckt sich auch das kleine georgische Land, am nordwestlichen Ende beschnitten um das abtrünnige Abchasien und tief und wund eingerissen in der nördlichen Mitte durch das zwar autonome, aber de facto besetzte Südossetien, von den Russen scharf an seinen Grenzen bewacht.
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Vliesähnlich – das Wurzelwerk der Metapher reicht weit – auch die im nächtlichen Anflug in warmen Lichtern blinkende, sich längs des Flusses Mtkwari dehnende Stadt, die bis heute als eine der schönsten des näheren Ostens gilt: Tiflis oder, in der Sprache ihrer Bewohner heute: Tbilisi. Von heißen Schwefelquellen, die in alten osmanischen, kuppelgedeckten Anlagen noch als Heil- und Wellnessquellen sprudeln, hat die Stadt ihren Namen.
Nun lag sie vor mir im Sonnendunst, in dem ich nach einer kurzen Ankunftsnacht erwachte. Geweckt wie jeden Morgen von der absteigenden Melodie eines Ausrufers, der, wenn ich ans Fenster stürzte, grad mit seinen Tüten um die Ecke bog. Erst kürzlich erschloß sich mir sein Ruf, den ich mir rein phonetisch notiert hatte: Mazoni malaco! "Mazoni« für Joghurt und »malaco« russisch für Milch, ebenso wie den letzten noch chiffrierten Rest »Zchneti«, der den Ruf rhythmisch skandierte: Joghurt und Milch, frisch aus den Bergen, wo auf holprigen Wegen Kühe und Schafe den Autos gelassen die Vorfahrt nehmen. Und aufwärts steigend, in gleißende Weite, dehnte sich vor mir das Panorama der Stadt: darin die zahlreichen Türme der orthodoxen Kirchen, manche funkelnd in der Sonne, und jenseits des Flusses der wulstige Bau der neu errichteten Sameba-Kathedrale und der dem Berliner Reichstag nachempfundene kuppelgekrönte Präsidentenpalast.
Tief unter meiner Terrasse aber die Altstadt. In ihr schlägt das Herz der Stadt, in ihr wachte ich auf, dort bin ich stundenlang durch die staubige Hitze zwischen den verfallenden, windschiefen, zerrütteten Häusern gelaufen, wo nur einzelne schmiedeeiserne Gitter und Balkone – jene typischen, mit ihren holzgeschnitzten, etwas venezianisch anmutenden Loggien – und die Reste von Ornamenten und Dekor an einstige Pracht erinnern. Ein schweres Erdbeben hat 2002 den Verfall weiter befördert, dessen »Poesie« angesichts der Verwüstung, die kaum eine schützende Maßnahme aufzuhalten scheint, nur noch stellenweise zu finden ist. Es ist wie bei den alten Fresken, die ich in den vielen uralten Kreuzbasiliken sah: Sind sie zu ramponiert, beschädigt, verblaßt, bleibt nur noch wenig von ihrer Aura – leichtere Beschädigungen freilich wecken im Betrachter jene Imagination einer Schönheit, die in solcher Vollkommenheit vielleicht nie bestand.
Ein Bild des Verfalls, verfallender Schönheit, das mein Traum-Erinnerungsbild auf eigentümliche Weise grundiert: Als stünde die Zeit wie in jener »panischen« Mittags-Hitzestunde still, als hielte sie den Atem an, erzeugte eine scheinhafte Leere, ein Vakuum, in dem die Zeichen jüngster und vergangener, ja auch uralter Geschichte ein Muster von Hoffnung und Bedrohung zugleich ergeben, ein Nachbild, in dem die Trümmer und Reste dieser Geschichte sich zu einer Konstellation der Möglichkeiten fügen, von denen – und wie sie ergriffen werden – mir das zukünftige Schicksal dieser Stadt, dieses Landes und seiner Menschen abzuhängen scheint.
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SINN UND FORM 6/2016, S. 779-789, hier S. 779-782