Stevenson, Robert Louis
(1850 –1894). Auf deutsch erschienen zuletzt Neuübersetzungen der Romane »Die Ebbe« (2012) und »Die Schatzinsel« (2013) sowie als Erstübersetzung »Aussatz. Ein offener Brief an Ehrwürden Hyde« (2013). (Stand 2/2017)
Siehe auch SINN UND FORM:
- 4/2014 | Henry David Thoreau. Sein Charakter und seine Überzeugungen
- 3/2015 | Charles d’Orléans
- 2/2017 | Über das Genießen unangenehmer Orte
I Thoreaus schmales eindringliches Gesicht mit der großen Nase deutet selbst in einem schlechten Holzschnitt noch auf seine geistigen und (...)
LeseprobeStevenson, Robert Louis
HENRY DAVID THOREAU
Sein Charakter und seine Überzeugungen
I
Thoreaus schmales eindringliches Gesicht mit der großen Nase deutet selbst in einem schlechten Holzschnitt noch auf seine geistigen und charakterlichen Grenzen hin. Sein schier beißend scharfer Verstand, seine schier animalische Geschicklichkeit gingen nicht mit der großen, unbewußten Herzlichkeit der Welthelden einher. Er war nicht ungezwungen, nicht großzügig, nicht weltgewandt, nicht einmal freundlich; seine Freude lächelte kaum, oder das Lächeln war nicht breit genug, um zu überzeugen; in seinem Wesen gab es weder Brachen noch prähistorische Küchenabfälle, aber alles war bis zu einem gewissen Grade verfeinert und geschärft. »Er war für keinen Beruf ausgebildet«, sagte Emerson; »er heiratete nie; lebte allein, ging nicht zur Kirche, wählte nicht, weigerte sich, dem Staat Steuern zu zahlen; er aß kein Fleisch, trank keinen Wein, rauchte nie Tabak; und wiewohl Naturkenner, benutzte er weder Falle noch Gewehr. Bei Tisch gefragt, welche Speise er wünsche, erwiderte er, ›was am nächsten steht‹.« So viele negative Vorzüge geraten leicht in den Ruch von Dünkel. Aus seinen Spätwerken tilgte er die lustigen Stellen, in der Meinung, sie seien unter der Würde seiner moralischen Denkungsart; und da sehen wir den Dünkling stehen, öffentlich und offenbart. Es war, bemerkt Emerson scharfsinnig, »viel leichter« für Thoreau, nein statt ja zu sagen; und dieser Charakterzug beschreibt den Mann. Es ist nützlich, nein sagen zu können, doch das Wesen der Liebenswürdigkeit besteht sicherlich darin, ja zu sagen, wann immer es möglich ist. Einem Menschen, der sich nicht selbst verabscheut, wenn er genötigt ist, nein zu sagen, fehlt etwas. Und diesem geborenen Dissidenten fehlte viel. Er hatte geradezu erschreckend wenige Fehler; er hatte nicht genügend viele, um dem Menschlichen völlig entgegengesetzt zu sein; ob man ihn Halbgott oder Halbmensch nennt, er war gewiß keiner von uns, denn er hatte nicht das geringste Gefühl für unsere Schwächen. Die Helden der Welt haben im geräumigen Theater ihrer Naturanlagen Platz für alle positiven Eigenschaften, sogar für solche, die ehrenrührig sind. Sie können viele Leben leben; während ein Thoreau bloß eins leben kann, und auch dieses nur mit ständigem Vorbedacht.
Er war kein Asket, eher ein Epikureer der vornehmeren Art; und er hatte dieses eine große Verdienst, daß er insofern Erfolg hatte, als er glücklich war. »Ich liebe mein Schicksal zuinnerst und zuäußerst«, schrieb er einmal; und sogar, als er im Sterben lag, hier das, was er diktierte (denn offenbar war er schon zu schwach, um die Feder zu führen): »Sie fragen besonders nach meinem Befinden. Ich vermute, daß ich nicht mehr viele Monate zu leben habe, aber natürlich weiß ich darüber nichts. Ich darf sagen, daß ich das Dasein wie eh und je genieße und nichts bedauere.« Nicht jedem ist es vergönnt, die Süße seines Schicksals so klar zu bezeugen, und auch keinem ohne Mut und Klugheit; denn diese Welt ist nur ein jammervoller, unwohnlicher Ort, und dauerhaftes Glück, zumindest für den Selbstbewußten, kommt nur von innen. Nun war Thoreaus Zufriedenheit und Lebensbegeisterung sozusagen eine von ihm mit weiblicher Fürsorglichkeit gegossene und gepflegte Pflanze; denn ein Leben, das ohne Schwung und Freiheit verläuft und vor der kraftspendenden Berührung mit der Welt zurückscheut, hat leicht etwas Unmännliches, fast Memmisches. Mit einem Wort: Thoreau kniff. Er wollte nicht, daß ihm unter seinen Mitmenschen die Tugend abhanden kam, und verdrückte sich in eine Ecke, um sie für sich zu horten. Um ein paar tugendhafter Schwelgereien willen gab er alles auf. Er hatte wahrlich noble Neigungen; seine herrschende Leidenschaft war, von der Welt unentdeckt zu bleiben; und daß all seine Hochgenüsse von derselben gesunden Ordnung waren wie kalte Bäder und frühes Aufstehen. Doch der Mensch kann beim Streben nach Güte auch kalt-grausam und beim Streben nach Gesundheit sogar krankhaft sein. Ich finde jetzt nicht die Stelle, wo er seine Kaffee- und Teeabstinenz erläutert, aber ich glaube, den Inhalt hinzubekommen. Dies ist er: Er hielt es für unökonomisch und eines wahren Empiristen für unwürdig, das natürliche morgendliche Entzücken durch derart schmutzige Genüsse zu verderben; man lasse ihn nur den Sonnenaufgang sehen, und schon sei er auf die Mühen des Tages hinlänglich eingestimmt. Das mag ein guter Grund sein, sich des Tees zu enthalten; aber wenn wir feststellen, daß derselbe Mensch, aus denselben oder ähnlichen Gründen, sich beinahe all der Dinge enthält, die seine Nachbarn unschuldig und vergnügt benutzen, und dazu auch der Schwierigkeiten und Prüfungen der menschlichen Gesellschaft, erkennen wir jene hypochondrische Gesundheit, die heikler als Krankheit ist. Ein Zustand künstlicher Ertüchtigung verdient nicht unsere Achtung. Shakespeare, dürfen wir uns vorstellen, konnte seinen Tag mit einem Krug Bier beginnen und doch den Sonnenaufgang wie Thoreau genießen und diesen Genuß in weitaus besseren Versen feiern. Wer sich, um glücklich zu sein, von den Gepflogenheiten seiner Nachbarn trennen muß, ist in vielem derselbe Fall wie einer, der dazu Opium braucht. Wir aber wollen einen sehen, der kühn in die Welt hinauszieht, ein Mannestagewerk verrichtet und sich dennoch seine ursprüngliche, reine Daseinsfreude bewahrt.
Thoreaus Fähigkeiten paßten zu seiner moralischen Schüchternheit; denn es waren samt und sonders Feinfühligkeiten. Er fand sich in finsterster Nacht vermöge seines Fußtastsinns im Wald zurecht, er konnte Strecken durch Abschreiten exakt abmessen und Rauminhalte mit dem Auge schätzen. Sein Geruchssinn war so fein, daß er die Ausdünstungen der Wohnhäuser wahrnahm, die er nachts passierte; sein Gaumen war so unverbildet, daß er, gleich einem Kinde, den Geschmack von Wein als widerlich empfand – oder, da in Amerika zu Hause, vielleicht nie etwas Gutes gekostet hatte; und sein Naturwissen war so vollkommen und seltsam, daß er anhand der Pflanzen das Datum des Jahres fast auf den Tag genau bestimmen konnte. Im Umgang mit Tieren war er das Urbild von Hawthornes Donatello. Das Waldmurmeltier zog er am Schwanz aus seinem Bau; der Fuchs suchte Schutz bei ihm; in seine Weste schmiegten sich wilde Eichhörnchen, wie man gesehen haben wollte; er steckte den Arm in einen Teich und holte einen glänzenden, nach Luft schnappenden Fisch heraus, der unerschrocken auf seiner flachen Hand lag. Es gab nicht viel, was er nicht konnte. Er baute ein Haus, ein Boot, machte Bleistifte und Bücher. Er war Vermesser, Gelehrter, Naturgeschichtler. Er konnte laufen, wandern, klettern, Schlittschuh laufen, schwimmen, Boote lenken. Der geringste Anlaß genügte ihm, seine Körpertüchtigkeit hervorzukehren; und ein Fabrikant, der bloß sein geschicktes Hantieren an einem Waggonfenster sah, offerierte ihm sofort eine Stellung. »Der einzige Gewinn vielen Lebens«, bemerkt er, »ist die Fähigkeit, Unwichtiges besser zu machen.« Doch seine Sinne waren derart genau, er war in allen seinen Fasern derart lebendig, daß diese Maxime für ihn anscheinend geändert werden mußte, denn er machte das meiste mit seltener Vollendung. Und vielleicht betrachtete er sich selbst mit Wohlgefallen, als er schrieb: »Obwohl die Jungen letztlich gleichgültig werden, sind die Gesetze des Universums nicht gleichgültig, sondern stets auf der Seite des Empfindsamsten.« […]
SINN UND FORM 4/2014 S. 480-500, hier S. 480-482
Aus einem beliebigen Ort das Beste zu machen ist schwierig, und vieles liegt in unserer Macht. Was man geduldig Seite für Seite betrachtet, zeigt am (...)
LeseprobeStevenson, Robert Louis
Über das Genießen unangenehmer Orte
Aus einem beliebigen Ort das Beste zu machen ist schwierig, und vieles liegt in unserer Macht. Was man geduldig Seite für Seite betrachtet, zeigt am Ende gewöhnlich auch eine, die schön ist. Vor ein paar Monaten wurde im »Portfolio« etwas über »enthaltsame Lebensführung in einer Scenerie« gesagt und solche Selbstzucht sodann als »heilsam und den Geschmack kräftigend« empfohlen. Das ist gleichsam der Text des vorliegenden Essays. Diese Selbstzucht in einer Scenerie, muß man wissen, ist mehr als ein bloßer Spaziergang vorm Frühstück, um den Appetit anzuregen. Denn wenn man in einer unansehnlichen Gegend abgesetzt wird und besonders, wenn man mehr oder weniger von dem abhängig geworden ist, was man sieht, muß man sich vornehmen, schöne Dinge aufzuspüren, mit all der Leidenschaft und Geduld eines Botanikers, der hinter einem Roggengewächs her ist. Tagtäglich vervollkommnen wir uns in der Kunst, die Natur vorteilhafter zu sehen. Wir lernen, mit ihr zu leben, so wie Menschen mit mißlaunigen oder gewalttätigen Ehegatten zu leben lernen; liebevoll auf dem zu verweilen, was gut ist, und die Augen vor allem zu verschließen, was öde oder unharmonisch ist. Zudem lernen wir, jeden Ort im richtigen Geist zu besuchen. Der Reisende, so sagt Brantôme uns originell, »fait des discours en soi pour soutenir en chemin«; und in diese Reden webt er etwas von allem, was er unterwegs erlebt und erleidet; sie erhalten ihren Ton hauptsächlich von der wechselnden Eigenart der Szene; ein steiler Anstieg bringt andere Gedanken als eine ebene Straße; und die Einbildungen des Menschen werden leichter, wenn er aus dem Wald auf eine Lichtung kommt. Und die Scenerie beeinflußt die Gedanken ebensowenig wie die Gedanken die Scenerie. Wir sehen Orte durch unsere Stimmungen wie durch unterschiedlich gefärbte Augengläser. Wir sind selbst ein Term in der Gleichung, eine Note des Akkords, und erzeugen fast nach Belieben Dissonanz oder Harmonie. Über das Ergebnis besteht keine Besorgnis, sofern wir uns der Landschaft, die uns umgibt und folgt, nur hinreichend auszuliefern vermögen, so daß wir beim Gehen stets passende Gedanken denken oder uns eine passende Geschichte erzählen. Auf diese Weise werden wir gewissermaßen zu einem Mittelpunkt von Schönheit; wir erwecken Schönheit, gleichwie eine freundliche, offene Art bei anderen Offenheit und Freundlichkeit erweckt. Und sogar dort, wo Harmonie selbst von den flinksten und fügsamsten Geistern nicht hervorzubringen ist, können wir einen Ort noch mit romantischem Reiz ausschmücken.
Wir können lernen, für Assoziationen weit vom Weg abzugehen, und sie mühelos benutzen, wenn wir sie gefunden haben. Zuweilen kommt uns ein alter Druck zur Hilfe; so manchen Ort sah ich vor malerischen Imaginationen jäh erstrahlen, durch eine Erinnerung an Callot, Sadeler oder Paul Brill. Dick Turpin war meine Gliederpuppe für manchen englischen Heckenweg. Und das Trossachs wäre für die meisten Touristen wohl kaum das Trossachs, hätte nicht ein Mann mit bewundernswertem romantischem Instinkt das Tal für sie mit harmonischen Gestalten bevölkert und sie mit auf den Eindruck richtig vorbereiteten Gesinnungen dorthin geführt. Solche Vorbereitung ist an sich bereits ein großer Gewinn. Zum Beispiel: Die wilden und unwirtlichen Orte unserer Highlands vermochte ich selten im geeigneten Geist zu besuchen. Ich bin glücklicher, wo es zahm und fruchtbar ist, und ohne Bäume nicht leicht zu erfreuen. Ich verstehe, daß es Phasen von Gemütsleiden gibt, die mit solchen Gegenden gut harmonieren, und daß manche Menschen durch die befreiende Macht der Einbildungskraft imstande sind, im Geist Jahrhunderte zurückzugehen und sich in das gehetzte, unbehauste, ungesellige Leben einzufühlen, das auf diesen wilden Höhen damals statthatte. Also wenn ich schwermütig bin, möchte ich, daß die Natur mich aus meiner Schwermut zaubert, wie David vor Saul; und der Gedanke an jene vergangenen Jahrhunderte erregt in mir nur unangenehmes Mitleid; so daß ich nie in die richtige Stimmung für diese Art von Landschaft komme und folglich viel Freude verliere. Dennoch, selbst hier, wenn man mich nur in Ruhe ließe und mir genügend Zeit gäbe, hätte ich alle möglichen Freuden und würde beim Fortgehen viele klare und schöne Bilder mit mir nehmen. Wenn wir uns nicht in die großen Charakterzüge einer Gegend einfühlen können, lernen wir, sie zu ignorieren, und stecken den Kopf ins Gras nach Blumen, oder grübeln lange Zeiten über den wechselvollen Lauf eines Stroms. Wir kommen herab zur Predigt in Steinen, wenn wir in der ausgebreiteten Landschaft von jedem Gedicht ausgeschlossen sind. Wir beginnen zu lugen und zu botanisieren, wir interessieren uns für Vögel und Insekten, wir finden viele Dinge in Miniatur schön. Der Leser erinnert sich sicherlich an die kleine Sommerszene in »Sturmhöhe« – vielleicht die einzige warme Szene in dem ganzen packenden, trübseligen Roman – und an den großen Charakterzug, den darin Gräser, Blumen und ein bißchen Sonnenschein erschaffen: Das ist die Stimmung, von der ich hier rede. Und letztlich können wir ja nach drinnen gehen; Interieurs sind manchmal ebenso schön, oft malerischer als die Darbietungen der Freiluft, und sie haben dieses Schützende, zu dem ich gleich mehr sagen muß.
All dessen eingedenk war ich oft versucht, das Paradox auszusprechen, daß man in allen Orten einigermaßen leben, aber nur in wenigen, und zwar höchst beliebten, ein paar Stunden angenehm verbringen kann. Denn wenn man in einer Gegend nur lange genug bleibt, wird man dort heimisch. Erinnerungen an uninteressante Ecken sprießen auf wie Blumen. Man vergißt, bis zu einem gewissen Grade, die überlegene Schönheit anderer Orte und verfällt in eine nachsichtige und wohlwollende Stimmung, die ihre eigene Belohnung und Rechtfertigung ist. Als ich neulich auf einige meiner eigenen Erinnerungen zurückblickte, staunte ich, wie vieles ich einem solchen Aufenthalt verdankte; sechs Wochen in einer unangenehmen ländlichen Gegend hatten meine Empfindsamkeit offenbar mehr geschärft und ausgebildet als viele Jahre an Orten, die meiner Neigung näher lagen.
Die Gegend, die ich meine, war ein ebenes, baumloses Plateau, über das die Winde wie Peitschen schlugen. Meilenweit dasselbe. Zwar mündete nahe der Stadt, in der ich wohnte, ein Fluß ins Meer; doch sein Tal war seicht und kahl, so weit ich ihm zu folgen wagte. Wohl gab es Straßen, aber Straßen, die weder schön noch interessant waren; denn da es keine Bewaldung und nur geringe Bodenunebenheiten gab, sah man von Anfang an die ganze Wanderstrecke vor sich liegen; nichts war mehr der Phantasie überlassen, nichts zu erwarten, nichts am Wegesrand zu sehen, außer hier und da ein unwohnlich wirkendes Gehöft und hier und da ein bebrillter Steinklopfer; und begleitet wurde man, während man beharrlich ausschritt, nur von den hageren Telegraphenmasten und dem Summen der widerhallenden Drähte im schneidenden Seewind. Wer ihr Lied in warmen angenehmen Orten am Mittelmeer gehört hatte, mochte meinen, es verspotte das Land und mache es durch den suggerierten Gegensatz noch öder. Sogar die Wüstungen am Wegesrand waren nicht, wie Hawthorne zu sagen pflegte, durch eine ordentliche grüne Bedeckung »der Natur zurückgegeben«. Das Land schien brachzuliegen, wo immer nur möglich. Es gibt eine lohfarbene Nacktheit des Südens, kahle, sonnenverbrannte Ebenen, löwengelb, und Hügel, nur in die blaue glasklare Luft gehüllt; aber die hier war anders – dies war die Nacktheit des Nordens; die Erde schien zu wissen, daß sie nackt war, und sie schämte sich und fror.
An jener Küste wehte es anscheinend immer. Tatsächlich war dies in die Sprache der Bewohner eingegangen, und wenn sie sich begegneten, begrüßten sie einander mit »windig, windig« statt mit dem weiter südlich üblichen »schöner Tag«. Die andauernden Winde waren nicht wie die Erntebrise, die man beim Gehen nur wie einen gleichmäßigen Druck im Gesicht spürt und die all die Bäume hoch droben zum Sprechen bringt oder den Geruch von regennasser Erde mit sich führt. Sie waren von der grimmigen, scharfen, zähen Sorte, die Sicht und Atmung behindert und die Augen reizt. Am richtigen Ort und zur richtigen Zeit haben selbst solche Winde ihren Wert. Es ist schön anzusehen, wenn sie Unmassen von Schatten schwenken. Und wie sie die Farbe der Welt bestimmen! Wie sie die dichten Wälder auf ihrem Weg zerzausen und sie wie eine einzelne Weide schlottern und erbleichen lassen! Nichts ist so schwindelerregend wie ein solcher Wind im Wald, mit all seinen Anblicken und Geräuschen; und die Wirkung kommt zwischen einige Maler und ihren nüchternen Blick, so daß, auch wenn ihr übriges Bild ruhig ist, die Blätter gefärbt sind wie Blätter im Sturm. Doch so etwas gewahrte man nicht in einem Landstrich, wo es keine Bäume gab und kaum Schatten, außer den passiven Schatten der Wolken oder jenen von starren Häusern und Mauern. Aber der Wind war dennoch ein Anlaß zur Freude; denn nirgendwo sonst konnte man eine plötzliche Flaute oder eine rechtzeitig erreichte Zuflucht so tief auskosten. Der Leser weiß, was ich meine; er wird sich erinnern, mit welcher Wonne er, auf einem Hügel hinter einem Erdwall sitzend, den Wind an seinem Rücken durch die Ritzen fauchen hörte; wie sein ganzer Körper vor Wärme prickelte und wie er, mit gleichsam allmählicher Überraschung, inne wurde, daß diese Gegend schön, die Heide purpurn und das ferne Bergland ganz mit Sonne und Schatten übersprenkelt war.
In einer wunderbaren Passage des »Präludiums« verwendet Wordsworth dies als ein Bild für das Gefühl, das die stillen Nebenstraßen Londons nach dem Lärm der großen Verkehrsadern in uns wecken; und der Vergleich läßt sich mit demselben guten Effekt umkehren:
»Und weiter geht das Toben, bis wir schließlich,
Gleichsam dem Feind entkommen, unversehns
In einen abgelegnen Winkel biegen,
Der still ist wie ein Unterschlupf im Sturm.«
Ich erinnere mich, daß ich in der Eisenbahn einen Mann traf, der mir das wohl perfekteste Exempel für diese Freude des Entkommens erzählte. An einem sonnigen windigen Morgen war er irgendwo im Ausland einen Dom hochgestiegen; ich glaube, es war der Kölner Dom, dieses große unvollendete Wunder am Rhein; und nach einer langen Zeit auf dunklen Treppen trat er schließlich in den Sonnenschein hinaus, auf eine Plattform hoch über der Stadt. Dort oben war es ganz still und warm; Sturm war nur in den unteren Luftschichten, aber im ruhigen Kirchinneren und während seines langen Aufstiegs hatte er ihn vergessen; und so kann man sich seine Überraschung denken, als er, die Arme auf die besonnte Balustrade gestützt und auf den Ort weit unter sich schauend, sah, wie die guten Leute ihre Hüte festhielten und sich beim Gehen mit dem ganzen Körper gegen den Wind stemmten. In diesem kleinen Erlebnis meines Reisegefährten liegt für mich etwas höchst Vollkommenes. Die Gewohnheiten der Menschen erscheinen einem völlig banal, wenn man allein oben auf einer Kirche ist, mit dem blauen Himmel und ein paar hohen Ziertürmen, und weit unter sich die steilen Dächer und die kurzen Strebepfeiler sieht sowie die stumme Geschäftigkeit der Straßen; doch als was alles müssen sie ihm nicht erschienen sein, als er dort stand, nicht nur über dem Treiben anderer Menschen, sondern auch über dem Klima anderer Menschen, in einer goldenen Zone wie der Apolls!
Von der Art war die Freude, die ich in dem Landstrich fand, über den ich schreibe. Es war die Freude, aus dem Wind weg zu sein und ständig an ihn zu denken und sich zu der Zuflucht zu gratulieren. Und solche geschützten Orte fanden sich nur am Meer. Zwischen den schwarzen wurmstichigen Landspitzen gibt es gegen Seegang und Wind gut abgeschirmte kleine Buchten und Häfen, wo Sand und Kraut aus einer Tiefe von stillem Wasser zum Betrachter aufschauen und nur die Seevögel, die auf den zerfallenen Klippen schreien und flattern, die Stille und den Sonnenschein stören. Namentlich ein Ort hat sich meinem Gedächtnis eingeprägt. Auf einem Felsen direkt am Meer hatten sich alte nordische Recken eine Doppelfeste gebaut; die beiden Burgen standen Wand an Wand wie Haushälften; und dennoch war die Fehde zwischen den Besitzern so heftig geworden, daß der eine aus dem Fenster den anderen in seinem Tor erschoß. Das Nebeneinander der beiden Feinde ist von tief tragischer Ironie. Es ist schrecklich zu denken, daß bärtige Männer und bittere Frauen nachts über ihrem Hallenfeuer haßvoll beratschlagen, während das Meer gegen die Grundmauern brauste und der wilde Winterwind über den Zinnen los war. Und in der Studierstube können wir uns eine blasse Nachbildung vom Leben damals machen. Nicht, wenn wir am Ort sind; wenn wir dort sind, kommen uns solche Gedanken nur, um einen gegensätzlichen Eindruck zu verstärken, und die Assoziation wird gegen sich selbst gerichtet. Ich erinnere mich, daß ich drei Nachmittage hintereinander dorthin wanderte, die Augen erschöpft vom ständigen Gegenwind, und wie ich, plötzlich über den Gipfel der Düne fallend, mich in einer neuen Welt von Wärme und Schutz befand. Der Wind, dem ich wie einem »Feind entkommen« war, schien rein lokal zu sein. Er brachte keine Wolken und kam aus solcher Richtung, daß er die sichtbare See nicht aufwühlte. Die beiden Burgen, schwarz und zerfallen wie die Felsen über ihnen, waren von diesen durch etwas in ihrer Silhouette, das noch unsicherer und phantastischer aussah, zu unterscheiden, etwas, das nach dem letzten Sturm überhing und das der nächste ganz abreißen würde. Das mich an diesen drei Nachmittagen beherrschende Gefühl von Ruhe und Frieden in Worte zu fassen wäre schwierig. Es wurde, wie ich schon sagte, durch den Gegensatz gestützt. Die Küste war durch frühere Unwetter schlimm zugerichtet; im tiefsten Innern bewahrte ich die Erinnerung an den irrsinnigen Streit der Kobolde, die diese beiden Burgen errichtet und sie in Mißtrauen und Feindschaft gegeneinander bewohnt hatten, und ich wußte, ich brauchte nur den Kopf aus dieser kleinen Schutzschale zu stecken, um in den Augen den scharfen Wind zu spüren; und doch waren da die zwei großen Bahnen aus regloser blauer Luft und friedlicher See, welche, gleichgültig und getrennt, auf das Getümmel der Gegenwart und die Denkmäler der prekären Vergangenheit schauten. Der Eindruck von starkem Wind unter wolkenlosem Himmel hat immer etwas Flüchtiges und Ärgerliches; er hat offenbar keine Wurzel in der Konstitution der Dinge; wie eine abgeschnittene Blume muß er rasch verblassen und welken. Und an solchen Tagen kamen sich der Gedanke an den Wind und der an das menschliche Leben sehr nahe in meinem Geist. Unsere lauten Jahre erschienen wahrhaftig wie Momente inmitten des ewigen Schweigens; und der Wind war, angesichts dieses großen Feldes von stillstehendem Blau, wie der Hauch eines Schmetterlingsflügels. Die Ruhe der See war etwas, an das man sich ebenso erinnern mußte. Shelley spricht von der See, die »nun gestillt sein will« (hungering for calm), und hier an diesem Ort begann man die Bedeutung der Wendung zu verstehen. Als ich von der zerbrochenen Felskante in diese grünen Wasser hinabsah oder im Sonnenschein gemächlich schwamm, schien es mir, als ob sie ihre Stille genössen; und wenn sie ab und an gestört wurden durch ein Kräuseln auf der Oberfläche oder durch das dunkle Huschen eines Fisches in der Tiefe, setzten sie sich wieder (mochte man meinen) erleichtert. Auch an der Küste, im Schlupfwinkel, war alles dermaßen gedämpft und still, daß schon die kleinste Besonderheit wohltuende Überraschung in mir auslöste. Das sporadische Platzen von Ginsterhülsen in der Nachmittagssonne usurpierte das Gehör. Der tagsüber von Sonne durchdrungene heiße, süße Atem des Ufers war wie der Atem eines Mitgeschöpfs. Ich weiß noch, daß zwei Zeilen eines französischen Gedichts mir nicht aus dem Kopf gingen; auf irgendwie dumme Weise paßten sie anscheinend zu meiner Umgebung und zu dem Behagen, das in mir war, und ich sagte andauernd vor mich hin: »Mon cœur est un luth suspendu / Sitôt qu’on le touche, il résonne.«
Warum mir diese Zeilen damals einfielen, vermag ich nicht zu sagen; und deshalb wiederhole ich sie hier. Soviel ich weiß, können sie den Eindruck im Geist des Lesers vervollständigen, da sie für mich gewiß dazugehörten.
Und das passierte mir ausgerechnet an diesem Ort, wo ich am wenigsten zu bleiben wünschte. Wenn ich daran denke, schäme ich mich meiner Undankbarkeit. »Und Süßigkeit (ging aus) vom Starken.« Dort, im öden, böigen Norden, empfing ich vielleicht meinen stärksten Eindruck von Frieden. Ich sah, daß die See groß und ruhig war; und die Erde in diesem Winkel war ganz lebendig und freundlich zu mir. Also wo immer ein Mensch auch ist, er findet etwas, das ihn erfreut und besänftigt: in der Stadt begegnet er angenehmen Gesichtern von Männern und Frauen, und in einem Fenster sieht er schöne Blumen oder er hört an der dunkelsten Straßenecke einen Käfigvogel singen; und was die Gegend betrifft, so gibt es keine Gegend ohne irgendeinen Vorzug – er suche sie nur im rechten Geiste, und er wird sie gewiß finden.
Aus dem Englischen von Heide Lipecky
SINN UND FORM 2/2017, S. 181-186