Sloterdijk, Peter
geb. 1947 in Karlsruhe, Professor für Ästhetik und Philosophie an der Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe, Mitglied der Akademie der Künste. 2013 erschienen: »Mein Frankreich«, »Ausgewählte Übertreibungen. Gespräche und Interviews 1993–2012« und »Im Schatten des Sinai. Fußnote über Ursprünge und Wandlungen totaler Mitgliedschaft«. (Stand 6/2013)
Siehe auch SINN UND FORM:
- 5/1999 | Gespräch mit Hans-Jürgen Heinrichs
- 1/2001 | Gespräch mit Hans-Jürgen Heinrichs
- 1/2004 | Gespräch mit Hans-Jürgen Heinrichs
- 4/2012 | Homo collector, homo lector, homo corrector. Für eine kurze Geschichte des Lektorats
- 6/2013 | Das glückliche Ohr. Ein Gespräch über Musik mit Manfred Osten
Meine Damen und Herren, ohne Zweifel haben Sie es bemerkt: ich reihe mich mit der Wahl des Untertitels für diese Rede anläßlich des heutigen (...)
LeseprobeSloterdijk, Peter
homo collector, homo lector, homo corrector. Für eine kurze Geschichte des Lektorats
Meine Damen und Herren, ohne Zweifel haben Sie es bemerkt: ich reihe mich mit der Wahl des Untertitels für diese Rede anläßlich des heutigen feierlichen Ereignisses in die Schar derer ein, die ihre Eifersucht auf Stephen W. Hawking nicht verbergen können. Bekanntlich hatte dieser mit seinem Buch »Eine kurze Geschichte der Zeit« (A Brief History of Time, 1988) einen Weltbestseller lanciert, den alle sofort lesen wollten, weil der Titel die lang erwartete Kurzfassung der Theorie von allem zu liefern versprach – so daß man sich, wenn man ein aufmerksamer Leser war, nie wieder dafür würde schämen müssen, nicht zu wissen, wie alles kam. Hawking war ein phänomenaler Coup gelungen, obwohl niemand nach der Lektüre besser wußte, wie es zu allem kommen konnte und zu uns inmitten des Ganzen. In publizistischer Hinsicht ging der Schock tief. Seither wollen viele Autoren mit einer durchschlagenden kurzen Geschichte Aufsehen erregen – so auch ich heute, obschon nicht in eigener Sache, sondern um dem Anlaß gerecht zu werden, in dem es gilt, einige angemessene Worte zu Ehren des Graduandus zu sagen. Da es sich um eine akademische Ehrung handelt, die ich durch und durch bejahe, möchte ich, bevor ich die kurze Geschichte in Angriff nehme, einige Gratulationen aussprechen:
– an erster Stelle eine, die sich an die Philosophische Fakultät dieser Universität richtet, für ihre weise Entscheidung, einen der belesensten und kenntnisreichsten Menschen deutscher Sprache mit dem Grad eines Doktors h.c. der Philosophie auszustatten;
– sodann an den Empfänger der Ehrenpromotion selbst – Raimund Fellinger, meinen Lektor bei Suhrkamp seit so vielen Jahren, daß man fast Hawking bräuchte, um eine kurze Geschichte dieser Autor-Lektor-Beziehung zu verfassen;
– und schließlich an mich selbst, da ich die Ehre zu schätzen weiß, hier zugunsten des Ehrendoktoranden einige Bemerkungen vorbringen zu dürfen.
Mir ist dabei zumute, als ob eine okkulte Regie darauf gerechnet hätte, daß es eine alte Schwäche von mir ist, in Momenten festlicher Nachdenklichkeit das Wort zu ergreifen und die zeremoniellen Augenblicke, seien sie akademisch oder nichtakademisch, mit einigen zarten Übertreibungen zu verschönern. Raimund Fellinger hat übrigens vor vielen Jahren – ich glaube, es war in München – anläßlich einer literarischen Preisverleihung seinerseits eine Lobrede zu meinem Vorteil gehalten, in der er mich als einen Hyperboliker schilderte, einen Verfasser von Übertreibungen, der gleichsam das philosophische Gegenstück zu dem gewaltigen Polterer Thomas Bernhard darstelle – indessen er mir, soweit ich mich erinnere, nur dessen cholerisches Temperament absprach. Im Grunde bleibt mir heute nichts anderes übrig, als meinem Lektor coram publico recht zu geben, und ich tue dies widerwillig – da eine Gelegenheit wie diese nicht leicht wiederkehrt, mich öffentlich dafür zu rächen, daß er auch sonst immer recht hat. Doch die Würde der Situation verbietet die private Abrechnung, und so betrete ich, weil Fellinger wieder einmal recht hatte, meine Übertreibungswerkstatt und nehme eine schöne, fast fertige Übertreibung von der Staffelei, die sich möglicherweise nach einigen Retouchen als Festgabe für diesen Anlaß eignet.
Ich liefere also eine kurze Geschichte des Lektorats – mit Schwerpunkt auf der Frühgeschichte, wie sich versteht. Dabei schöpfe ich, außer bei Hawking, wichtige Anregungen beim Museum of Natural History in Cape Cod, Massachusetts – Sie wissen, meine Damen und Herren, das ist der Ort, an dem die ersten Schiffe der frommen englischen Pilgerväter an Land gingen, aus denen später aufgrund undurchschauter Gesetze des Gestaltwandels die Amerikaner wurden. An dieser denkwürdigen Stätte errichtete man mit klarem Sinn für Symbolik ein Museum, in dem jedem Besucher die wahre Finalität der Evolution klargemacht wird. Man sieht dort die kurze Geschichte von allem für Amerikaner und Jugendliche in bildlicher Anschaulichkeit ablaufen. Wer das Gebäude verläßt, weiß ein für allemal, wie zielstrebig die Evolution vorwärtsstrebte – in einer pfeilgeraden Linie vom Urknall über die Farne und die Mammiferen bis zur Unabhängigkeitserklärung. Etwas Ähnliches bräuchten wir auch in unserer Sache. Freilich wird damit der Vorgang aus psychologischen Gründen etwas kompliziert. Raimund Fellinger ist ein diskreter und bescheidener Mensch, der niemals eine Universalgeschichte würde lesen oder hören wollen, die auf ihn selber zuläuft, obschon er von Berufs wegen mit Menschen zu tun hat, die solche Hemmungen nicht kennen. Darum ist es heute doppelt traurig, daß Siegfried Unseld nicht mehr unter uns ist, zum einen weil er sich von Herzen über die Auszeichnung seines unersetzlichen Lektors und langjährigen Schachgegners gefreut hätte, zum anderen weil er in Sachen »kurze Geschichte« zu viel unkomplizierteren Empfindungen neigte. Er hätte sich ohne weiteres eine Darstellung der Evolution vom Urknall bis Unseld vorstellen können – schon die Alliteration hätte ihm eine tiefe Genugtuung bereitet, ja, er hätte sie als eine Art Vorzeichen, um nicht zu sagen: eine Verpflichtung empfunden, so wie er auch seinen Vornamen schon früh als einen Wink aus den kabbalistischen Tiefen der Sprache aufgefaßt hatte. Überdies wußte er aus der Zeit, als er selber noch Lektor war, den Charme der dunklen Vokale und der Anfangsreime in Buchtiteln zu schätzen.
Kurzum, verehrte Festgemeinde, die Frage, ohne Umschweife gestellt, konkret und hyperbolisch zugleich, lautet: Wie kommt der Lektor in die Welt?
Die Antwort, deren Aktualität niemand leugnet, kann nur in zwei Teilen gegeben werden, einem prinzipiellen und einem historischen.
Im prinzipiellen Teil ist festzustellen, daß die Entstehung von Lektoren evolutionär betrachtet zum Unwahrscheinlichsten gehört, was die Geschichte des Universums zu bieten hat, egal, ob man sie in der langen oder kurzen Fassung erzählt – sie übertrifft an Unwahrscheinlichkeit sogar die Entstehungsgeschichte des Giraffenhalses und des Pfauenaugenflügels, obgleich auch diese Gebilde hart an der Grenze zum Unmöglichen angesiedelt sind. Dennoch sprechen unter Zugrundelegung des anthropischen Prinzips viele Argumente für die Behauptung, daß »unwahrscheinlich« nicht »unmöglich« bedeutet, und da der reale Lektor nun einmal da ist, und zwar als Eidos und als Individuum im Saal, muß es im Gang der Dinge etwas gegeben haben, das auf den verwirklichten Lektor hinauslief.
Die bizarre Dynamik der Abarbeitung der Unwahrscheinlichkeit bis zum Verwirklichungspunkt kann mit dem britischen Biologen Richard Dawkins als Klettern auf den Berg des Unwahrscheinlichen um schrieben werden – wie er es im Titel eines seiner unnachahmlich populären Bücher ausgedrückt hat: Evolution ist nach ihm eine alpine Disziplin, und ihr wahrer Name lautet: Climbing Mount Improbable. Den Berg der Unwahrscheinlichkeit besteigen. Daraus folgt nun: Da es den Lektor wirklich gibt, hat in den Nordwänden des Seins notwendigerweise irgendwo ein wie auch immer fast unmöglich und wahrscheinlich nur unter größter Lebensgefahr zu durchquerender Aufstiegskamin existiert, durch den einige Pioniere der späteren Lesefähigkeit den Weg zum Gipfel gefunden haben. Damit können wir von der Ebene des Prinzipiellen zu jener der historischen Entwicklungslinien übergehen. Da wir früh anfangen wollten, müssen wir nach der Naturgeschichte des sammelnden Verhaltens fragen, denn was man eines Tages das Lesen nennen wird, ist in historischer und anthropologischer Sicht ein Sproß am Stamm der zusammentragenden Tätigkeiten, die weit in die animalische Sphäre zurückreichen. Ich verzichte darauf, die Ansätze hierzu im Tierreich aufzuspüren, so reizvoll es auch wäre, den humanen Lektor bei den Elstern und anderen Lebewesen mit sammelnden Talenten vorgebildet zu sehen.
Wir halten uns also an die menschlichen Anfänge des sammelnden Verhaltens. Dieser Blick in frühe Stadien der Kultur katapultiert uns in einen vorsokratischen Raum. Bekanntlich war Martin Heidegger, der Neu-Vorsokratiker aus dem südlichen Schwarzwald, so weit gegangen zu behaupten, das philosophische Urwort »Logos« könne unmöglich verstanden werden, wenn man es nicht in die Verbform »legein« zurückübersetzt, so daß aus dem steifen Allgemeinbegriff ein bewegliches Tätigkeitswort wird, aus der aufragenden Abstraktion ein Gewimmel von Mikroereignissen. Wenn »Logos« eigentlich »legein« ist, die Summe der lesenden, auflesenden, zusammenlesenden Gesten, dann meint es das Zusammentragen all der Dinge in der Rede, die die Welt bedeuten. Französische Heideggerianer haben geradewegs vom Sein-zumText gesprochen. »Legein« heißt im klassischen Griechisch zwar soviel wie erzählen, aufzählen, reden, sprechen, aufschreiben – aber Heidegger wäre nicht der gewesen, der er war, wenn er nicht unter der klassischen oder olympischen Schicht eine ältere, gleichsam elementare oder titanische freigelegt hätte, eine semantische Schicht, in der das Erzählen, Reden und Aufschreiben etwas Grundsätzlicheres bedeuteten: Das alte »legein« ist für ihn nämlich das Ernten, das Zusammenlesen, das Zusammenbringen, das Heimholen des Lebenswichtigen und Wissenswichtigen in eine existentielle Zentrale, mochte man diese als Speicher oder als Tempel oder als Schatz begreifen – zuletzt auch als Buch. Kornhäuser, Tempel, Schätze, Erinnerungen, Papyri, Codices, Folianten, Enzyklopädien, sie alle wären Belege dafür, wie die höhere Kultur aus dem Instinkt der Anhäufung oder der Kollekte hervorgeht. In dem Buchtitel »Sein und Zeit« versteckt sich die Formel »Sein und Sammlung«. Denn wo solche Verdichtungen sich bilden, beginnt die menschliche, die existentielle Zeit zu laufen. Der Mensch wird erst angesichts der Sammlung zu dem Wesen, das vom Vorrat lebt – nicht von der Hand in den Mund, sondern von der Kollekte: rückwärts in die Geschichte und vorwärts ins Projekt.
Die deutsche Sprache stützt solche Erwägungen sehr stark, da sie die Lese und das Lesen aus derselben Silbenquelle fließen läßt. Kurzum, wer den Lektor von weit herkommen sehen will, muß sich mit der Natur- und Frühgeschichte der Kollekte befassen und im sprechenden Menschen selbst, dem »zoon logon echon«, das Geschöpf bemerken, das dank des »Logos« an einem ontologischen Sammeltrieb teilhat.
Da kommt er also erstmals, sehr konfus und funktional ungeschieden, um die evolutionäre Kurve – der spätere Lektor. Wo viel zusammengetragen wird, in der Zeit der ersten Vorratsbildungen, der ersten Mittelpunktaufstellungen, der ersten Urbi-etorbi-Regungen, da gibt es viel zu hüten, zu sichten, zu prüfen, zu evaluieren, zu emendieren, zu restaurieren. Das erste Leseamt, ganz präliterarisch, ist in der Schatzwächterfunktion embryonal enthalten – weswegen eine Familienähnlichkeit zwischen Lektoren, Drachen und Schweizergardisten besteht, die man im Licht der evolutionären Analyse mit einemmal viel besser versteht. Im übrigen ist in dem Feld der ersten Kollekten auch schon die Autorenfunktion keimhaft angelegt, und was später als ausdifferenzierter Autor deprimiert über die Frankfurter Messe läuft, war im archaischen Stadium ein großsprecherischer Schatzbildner, ein stolzer Plünderer, ein ruhmlüsterner Herr der Sammlung – ein Mann, den die archaische Gewißheit erfüllte, Schatzaufhäufung und Urheberschaft seien ein und dasselbe. Im übrigen hatte Heidegger bei seiner hyperbolischen Herleitung der Lese aus der landwirtschaftlichen Erntefunktion einen Vorgänger, dem erstmals die Analogie zwischen Schrift und Ackerbau aufgefallen war – ich meine Cicero. Wir verdanken dem großen Orator ja nicht allein die Musterstücke gut gebauter Reden, mit denen man noch nach 1945 die gymnasiale Jugend in der Kunst unterrichtete, gegen Catilina zu polemisieren. Auch ist er nicht nur für die Einführung der griechischen Lebensform Philosophie ins postrepublikanische Rom verantwortlich – denn Philosophie beginnt bekanntlich dort, wo die »polis« und die »res publica« aufhören; er war auch der Mann, auf den das schicksalhafte Grundwort des europäischen Bildungsvokabulars zurückgeht, nämlich der Ausdruck »Kultur« in seiner allgemeinsten wie konkretesten Bedeutung. Obendrein war Cicero der erste, der über die Verben des Lesens nachgedacht hatte, wobei ihm wie nebenbei eine kleine Phänomenologie des kultivierten Daseins gelang.
Das lateinische Wort »cultura« bezeichnete vor Cicero unmißverständlich den Ackerbau. Ebendiese für Römer irreversibel festgeschriebene Prägung des Begriffs erkannte Cicero als seine Chance. Da die Römer es sich auch in der Zeit ihrer höchsten Urbanität nicht nehmen ließen, sich als Leute mit Bezug zum altväterlichen Landbau zu verstehen, konnte man ihnen die neue Lesekultur, die Philosophie und die literarische »humanitas«, mit keinem besseren Argument nahebringen als mit der Behauptung, der lesende Mensch betreibe so etwas wie eine »cultura animi«, sprich Ackerbau und Bodenbestellung der Seele. Von da aus war es nicht mehr weit zur Analogie zwischen der Furche und der Zeile und zwischen dem Acker und der Seite. Man kann geradewegs die These aufstellen, das, was wir heute Europa nennen, dieser Kontinent des Individualismus und der Sorge um sich selbst, stelle eine Nebenwirkung dieser fabelhaften ciceronischen Übertreibung dar. Mit ihr schuf der römische Intellektuelle dem Imperativ des Lesens das wirkungsvollste Werkzeug. Denn wie der wohlhabende Römer gewohnheitsmäßig im Sommer auf die Landgüter fuhr, um noch einmal den Bauern zu spielen, der aus purer Agrarromantik da und dort selber Hand anlegte, so konnte der gebildete lesende Mensch künftig die Villeggiatura der Seele aufsuchen – sogar mitten in der Stadt, unabhängig von der Jahreszeit. Auf einmal war es möglich, mit dem Pflug der Lektüre den Innenweltboden zu bestellen und auf dem Acker der Seele Früchte zu ernten, Lesefrüchte, Askesefrüchte, vielleicht auch Worthülsenfrüchte, die keinem Rustikalen je in die Hände gefallen waren.
Meine Damen und Herren, die nebulöse Figur des »homo lector« nimmt an der Schwelle zu der Zeit, die wir im Rückblick die der silbernen Latinität nennen, etwas deutlichere Konturen an, auch wenn sie dem heutigen Lektor immer noch sehr wenig gleicht. Nebenbei erinnere ich nochmals daran, daß es Cicero war, der den Verben des Lesens einen folgenreichen Moment des Nachdenkens widmete, als er in einer Erörterung über den Ursprung des Worts »religio« in seinem Traktat »De natura deorum« die These aufstellte, es gehöre in die Familie der »verba legendi« – die von Ferne mit den »verba dicendi« verwandt sind. Die sogenannte Religion wäre demnach ein Modus von »legere«. Denn so wie man die Menschen, die sich aufs »eligere« verstehen, das Auslesen und Bevorzugen, die Eleganten nennt, so wie man die Menschen, die dem »diligere« zuneigen, dem sorgfältigen Unterscheiden der Nuancen, die Diligenten, die Sorgfältigen, die wissend Liebenden, die Dilettierenden nennt, so wie man die Menschen, die das »intelligere« praktizieren, die Intelligenten, die zwischen den Zeilen zu lesen Fähigen nennt, so nenne man die Menschen, die sich das »religere«, das Aufmerken und das behutsame Vergleichen von Vorschrift und Ausführung zu eigen machen, die Religiösen. Auf diese Weise entsteht bei Cicero auf weniger als einer halben Seite eine veritable Zivilisationstheorie in nuce – ein Traktat von der Geburt der zivilisierten Seele aus den Konjugationen der lesenden Psyche.
Doch wie immer anregend diese Reminiszenzen sein mögen, wir sind damit noch immer nicht bei unserem zeitgenössischen Lektor angekommen. Zu ihm gelangen wir erst in der letzten Minute der kurzen Geschichte, denn nach allem, was wir von ihm wissen, ist er zu Beginn des 20. Jahrhunderts so in Erscheinung getreten, daß wir von ihm zu sagen vermöchten, wir erkennen ihn wieder, ohne auf anthropologische und philosophische Umwege ausweichen zu müssen. Max Weber, dem wir die beiden großen Essays »Wissenschaft als Beruf«, 1917, und »Politik als Beruf«, 1919, verdanken, ist uns den dritten Teil seiner Reflexionen über schicksalhafte Professionalisierungen mit Last- und Pflichtcharakter schuldig geblieben. Dieser hätte vom »Lesen als Beruf« handeln müssen. Weber hätte die einschlägigen Phänomene in seiner Lebenszeit wahrnehmen können, denn Lektoren im modernen Sinn des Wortes existieren erst seit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, als die Verleger auf breiter Front begannen, ihre Beziehungen zu den Autoren über Dritte laufen zu lassen – wie anders in einer Lage, als bei den Literaturverlagen um 1930 schon bis zu 1000 unangeforderte Romanmanuskripte einlangten. Ute Schneider, der wir die umfangreichste Aufarbeitung der deutschen Lektorengeschichte seit 1900 verdanken, nannte ihre Studie »Der unsichtbare Zweite« – und dies nicht zu Unrecht. Denn indem sie alle Materialien bereitstellt, um die neuerdings voll entfaltete triadische Struktur des editorischen Feldes aus Verleger, Lektor und Autor zu begreifen, weist sie völlig triftig darauf hin, daß den Autoren selbst in der Figur des Lektors ein Alter ego heranwuchs, ohne die das Spiel der neueren Literatur seit geraumer Zeit nicht mehr vorstellbar ist. Wenn man weiß, wie viele Lektoren in der Frühzeit des professionalisierten Lektorats in Deutschland namhafte Autoren waren oder wurden – ich nenne nur Oskar Loerke, Franz Werfel, Christian Morgenstern, Hermann Kasack –, so erkennt man das Potential der Lektoratsfunktion, das da und dort weit über die Rolle des unsichtbaren Zweiten hinauswies.
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluß. Natürlich hatte ich Ihnen zuviel versprochen, als ich eine kurze Geschichte des Lektorats ankündigte. In einem Punkt jedoch werde ich Wort halten, was die Kürze betrifft. Kurz ist ja auch die Geschichte des Lektors im buchstäblichen Sinn. Seine Herleitung aus dem Alten und Allerältesten war, wie von Anfang an erklärt, eine hyperbolische Übung, die dem festlichen Anlaß dieses Tages geschuldet ist.
Die beste Definition des aktuellen Berufsbilds finde ich in einem Passus der Erinnerungen, die der Ullstein-Lektor Max Krell 1961 unter dem Titel »Das alles gab es einmal« herausbrachte: »Der Lektor muß in sich die Eigenschaften eines Spezialarztes, eines Beichtvaters, eines Detektivs vereinigen. Er muß Mut zusprechen, unter Umständen den Hoffnungsstrahl einer finanziellen Hilfe aufleuchten lassen. Wer schon in engerem Kontakt zum Verlag steht, soll zu neuen Taten angestiftet werden; wer noch nicht das Licht der Öffentlichkeit erfahren hat, soll aufgespürt werden, man muß ihn zum Verrat seiner Geheimnisse reizen.«
Lieber Raimund, ich vermute, du kannst mit den Charakterisierungen des älteren Kollegen sehr viel anfangen – und die technischen Hinweise auf Geheimnisverrat und Hoffnungsstrahlerzeugung dürften für dich tägliche Evidenzen sein. Wer wie du mit so vielen heiligen Monstren der Literatur so enge Berührungen erlebte – mit Wolfgang Koeppen, mit Uwe Johnson, mit Thomas Bernhard, mit Peter Handke, mit Siegfried Unseld, um nur sie zu nennen –, wie sollte der nicht auch Detektiv und Beichtvater sein? Krells drittes Berufsmerkmal, den Spezialarzt, können wir getrost durch den Ausdruck Psychiater ersetzen. Glücklicherweise unterliegst du nicht der ärztlichen Schweigepflicht. Bei einigen der Genannten hast du in den letzten Jahren die Krankenakten geöffnet, und große Literatur erschien vor den Augen einer staunenden Öffentlichkeit. Nur eine Nuance wäre an dem von Krell gezeichneten Bild zu ergänzen. Der große Lektor verfügt über eine Fähigkeit, die nur erwirbt, wer viele Jahre über die Gipfel des Mount Improbable geklettert ist – ich meine die seltene, allzu seltene Kunst, den Autoren zugleich ein selbstloser Komplice und ein intimer Gegner zu sein. In dieser Kunst, laß es mich sagen, bist du der unerreichte Meister.
Meine Damen und Herren, seit mindestens 25 Jahren beenden Raimund Fellinger und ich unsere Telefongespräche mit dem Satz: »Arbeiten wir weiter!«, gleichgültig, wovon davor die Rede war. Ich nehme an, das wird nach dieser Greifswalder Zeremonie nicht anders sein. Nur werden wir vielleicht dann und wann etwas deutlicher spüren, daß »weiterarbeiten« nichts anderes ist als ein Codewort für immer neue Aufstiege auf die Gipfel des Unwahrscheinlichen.
SINN UND FORM 4/2012, S. 559-564
MANFRED OSTEN: Vielleicht sollten wir mit der Rehabilitierung eines Stiefkinds der europäischen Geistesgeschichte beginnen, mit der (...)
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Das glückliche Ohr. Ein Gespräch über Musik mit Manfred Osten
MANFRED OSTEN: Vielleicht sollten wir mit der Rehabilitierung eines Stiefkinds der europäischen Geistesgeschichte beginnen, mit der Rehabilitierung des Hörens. Haben wir nicht das Ohr als Erkenntnisorgan allzu lange unterschätzt?
PETER SLOTERDIJK: Ich bin mir nicht sicher, ob wir dem Ohr wirklich so untreu geworden sind, wie es Ihre Worte nahelegen, denn unsere Kultur beruht vom ersten Tag an auf der Allianz zwischen dem Auditiven und dem Visuellen. Das hat unter anderem damit zu tun, daß die Europäer die ersten waren, die den von den Phöniziern und anderen Vorgängerkulturen übernommenen Alphabeten Vokale hinzugefügt haben. Also wären die Griechen, wenn sie sonst nichts geleistet hätten, trotzdem das bedeutendste Volk der Geistesgeschichte Europas, eben weil sie die orientalischen Konsonantenschriften um Vokale ergänzt und dadurch etwas möglich gemacht haben, worauf unsere ganze audiovisuelle Kultur beruht: das autodidaktische, das selbständige Lesen, die vollständige Vokalisierung des lesbaren Textes und damit die Entstehung einer psychoakustisch prägnanten Halluzination im inneren Ohr des lesenden Menschen, der glaubt, er höre den Autor sprechen. Wir haben eine Kultur des inneren Hörens, des betreuten Halluzinierens geschaffen, in der sich die Stimme des Autors gleichsam wie eine Hand auf die Schulter des Lesers legt und ihm erlaubt, sich ein Bild von dem zu machen, was er gesagt hätte, wenn ihn nicht jahrhundertelanges Totsein am unmittelbaren Verkehr mit seinem Fernschüler hindern würde. Die Griechen haben, wenn Sie so wollen, durch ihre Schrift die Teleakademie erfunden. So würde man das heute nennen. Und Teleakademien haben das besondere Merkmal, daß in ihnen Fernstimmenübertragungen stattfinden. Ich würde sagen, das ist die Basis unserer Kultur.
Die Griechen haben zudem eine Merkwürdigkeit an den Tag gelegt, über die wir heute noch staunen können, sie haben nämlich die Buchstaben zugleich für Zahlen und Musiknoten benutzt. Das können wir uns gar nicht mehr vorstellen, weil wir ja Zahlen und Notationen und Buchstaben haben. Der verstorbene Friedrich Kittler hat über diese Entdeckung in seinen reiferen Tagen fast den Verstand verloren, weil er zu verstehen versucht hat, was es bedeutet, wenn man gleichzeitig Mathematik, Musik und geschriebenes Denken praktiziert. Doch alles, was ich gesagt habe, ist nur eine Annäherung an den großen Satz von Thomas Mann, der in meinen Augen am Anfang jeder Besinnung über Fragen der Musik stehen könnte: »Die Musik ist dämonisches Gebiet.«
OSTEN: Die Rangerhöhung der Musik fand in der Spätromantik statt, etwa in Nietzsches berühmter »Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik«. Da wurde plötzlich das Ohr an die Herzkammer des Weltwillens gelegt. Der Gedanke, daß der Weltgrund musikalisch, daß Musik im Grunde eine metaphysische Tätigkeit ist, ist doch ungeheuer. Wie kommt man zu solchen Überlegungen?
SLOTERDIJK: Durch die Entdeckung der Mehrschichtigkeit der Audiovisualität als solcher. Ursprünglich hat die europäische Kultur die beiden Fernsinne Auge und Ohr gegenüber dem, was man die Nähesinne nennt, unendlich privilegiert, also gegenüber dem Geruchssinn, dem Tastsinn, dem atmosphärischen Spüren. Im Grunde genommen ist das Spüren der große Verlierer der Kulturgeschichte. Es wird jetzt unter verschiedenen Namen, unter anderem dem der Haptonomie, mühsam wieder in unser Weltbild integriert. Die Nähesinne mußten unter den Sinnen des Menschen zweitausend Jahre lang den Idioten der Familie spielen. Wir haben das Tasten, das Riechen, das Schmecken und das gesamte atmosphärische Empfinden, also den Umgang mit dem, was bei den Phänomenologen tertiäre Qualität heißt, am Eingang zur Akademie abgewiesen. Über diesem Eingang stand ja auch, die mathematisch Ungebildeten, diejenigen, die nicht bereit sind, die für die europäische Wissenschaftskultur konstitutiven Abstraktionen mitzumachen, mögen außen vor bleiben. Und wir haben bis zum Beginn der Renaissance, bis zum 14./15. Jahrhundert warten müssen, ehe die Künstler wieder von der Mathematik zur Sinnlichkeit zurückkehrten. Das ist das eigentliche Geheimnis der Renaissance, die Reinklusion der ausgeschlossenen Sinne – aber auch die müssen sich an das Idiom der Mathematik und an das Denken in Proportionen, die Lage im Raum und die Größenbestimmung halten. Das sind die sogenannten Primärqualitäten, auf sie allein stützt sich wahres Wissen. Musik hat im innersten Kreis der Wissenschaften zwar eine Rolle gespielt, aber nicht als hörbare, sondern als gedachte Musik. Es ist interessant, daß von Pythagoras bis ins hohe Mittelalter immer auch eine Musikologie betrieben worden ist, die so etwas wie die Wissenschaft von den mathematischen Proportionen beinhaltete, auf welchen Musik beruht, auch wenn man sie nicht hört. Die Wiederkehr des Hörens meint eigentlich die niedere Musik, die so etwas Schmutziges wie eine Klangfarbe hat – schon das Wort Farbe löst bei einem echten Platoniker ja Krämpfe des Unwohlseins aus, weil damit die Verschmutzung durch Empirie beginnt.
OSTEN: Ist es nicht so, daß die Metaphern, die wir aus der europäischen Geistes- und Philosophiegeschichte übernommen haben, zum Beispiel »sich ein Bild machen«, »Licht ins Dunkel bringen« oder »Aufklärung«, meist aus dem Bereich des Sehens kommen? Man könnte sich die Aufklärung ja auch als Aufklingung denken. Aber von Aufklingung haben wir keinen Begriff. Es scheint doch irgendwann zu einer Dominanz des Visuellen, zumindest bei Metaphern und Begriffsbildungen, gekommen zu sein.
SLOTERDIJK: Das liegt an Plato. Aber er ist nicht an allem schuld, er kann auf einen anonymen Urheber des Verhängnisses verweisen, denn er lebt in einer Kultur, in der die Alphabetisierung bereits stattgefunden hat. Sie liefert Plato seine Grundideen, denn die Idee der Idee ist der Buchstabe. Man hat aus den Vokalgallerten, die aus Menschenmündern hervorquellen und die man Sprachen nennt, durch geniale Sequenzierung die Elemente herauspräpariert, die eine phonetische und vokale Rekonstruktion des Lautes im Schriftbild begründen. Das ist ein grundstürzender Vorgang, und den hat die Philosophie als eine von ihr selber nicht verstehbare Prämisse bereits im Rücken. Als Plato mit seinem Eidos, seinem Urbild kommt, kann er sich auf zwei Urbilderfahrungen berufen, die zur Grundausstattung der griechischen Lebenswelt gehören. Die erste war die für jeden Griechen, ob alphabetisiert oder nicht, sichtbare Tatsache, daß an jeder Ecke Statuen nackter Männer standen. Ohne diese Grundgeste, ohne die in den Statuen zum Ausdruck kommende Genialität kann man die Griechen nicht verstehen. In der Statue wird das Göttliche aufgerichtet, und das Göttliche ist immer ein bißchen größer als der Mensch, aber nicht zu groß. Zehn Prozent mehr, und schon hat man einen Helden, einen Halbgott oder eine Epiphanie. So muß man sich auch die Statuen in Olympia und an anderen Orten des griechischen Siegerkults vorstellen. Zum olympischen Sieg gehört das Recht, Statuen aufzustellen. Wenn fremde Heere einfielen, verübten sie unter den Statuen einen regelrechten Völkermord. Aber wenn sie abzogen, konnten die Geschichtsschreiber sagen: Griechenland ist immer noch voller Statuen. Dieser Umstand hat Plato in gewisser Weise recht gegeben, weil er darauf verweisen konnte, daß es so etwas wie real existierende Ideen gibt. Zunächst als vergöttlichte Männerkörper in der gebundenen archaischen Gestalt des Kuros mit den am Oberschenkel angelegten Händen und später in der gelösteren Gestalt, die einen Schritt nach vorne tut. Und dann die sich vom Körper lösenden Arme – am Ende fast tänzerisch verklärte Körpererscheinungen, die im römischen Manierismus zu einer unglaublichen Höhe weitergebildet werden. Die zweite Voraussetzung des Platonismus ist noch viel unscheinbarer. Statuen springen ins Auge, werden aber in der Regel vom Betrachter nicht reflektiert, weil er sie nur als herumstehende Objekte wahrnimmt. Wir können die Statuen aufstellende Gebärde, also den Denkakt, der dazu führt, daß man einen menschlichen Körper auf solche Weise erhöht und sichtbar macht, heute nicht mehr recht nachvollziehen. Zumindest konnten wir es bis 1900 nicht, als die neue Kultur der Models aufkam und wir auch die Freude an der Körperpräsentation wieder entdeckten.
Der andere Punkt, auf den ich hinweisen möchte, ist die Tatsache, daß die Griechen bereits diese mysteriösen 24 oder 25 Schriftzeichen hatten, die die gesamte Sprache mit lautbildlicher Präzision wiedergeben konnten. Wenn Plato nach dem Urbild eines Urbilds gesucht hätte, was er aufgrund seines Eingetauchtseins in die Schriftkultur nicht tat, wäre er unweigerlich beim Buchstaben gelandet, der auf griechisch Element heißt. Die eigentliche Elementarisierung, die Sequenzierung des Seienden in kleinste Teile, ist eine Nebenfolge des Umstands, daß die Griechen das in ihrer Schrift bereits getan hatten. Bis vor kurzem war es auch die einzige erfolgreiche Form der Sequenzierung des Seienden. Erst im späten 18. Jahrhundert tauchten Tafeln der chemischen Elemente auf, die wir bis auf den heutigen Tag weiterschreiben. Authentische Sequenzierungen des Seienden kann man daran erkennen, daß man mit den freigelegten Elementen Rekombinationen vornehmen und Existierendes exakt abbilden kann. Mit dem, was darüber hinaus geht, kann man wieder neue Kombinationen erzeugen. Aus dieser Kombinatorik entsteht die erste Form von Kreativität. Das heißt, wir erzeugen durch Kombinationen von Elementen etwas Neues. Insofern war die Kabbala gar keine so dumme Sache.
Die Kabbalisten nahmen die Kunst, aus Buchstaben Wirklichkeiten zu machen, so ernst, daß sie glaubten, sie könnten durch Buchstaben-Manipulationen die Schöpfung rekapitulieren und gewissermaßen daran mitarbeiten. An diesem Punkt stehen wir heute. Wir schreiben den Dienstag der zweiten Schöpfungswoche, und in dieser geht man – was das Kombinieren und das Rekombinieren von Schöpfungsmaterie angeht – weit über die rudimentären Verfahren der ersten Woche hinaus.
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SINN UND FORM 6/2013, S. 864-877