Schöttker, Detlev
geb. 1954 in Vienenburg / Harzvorland, Senior Fellow am Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung in Berlin; lehrt als Professor für Neuere deutsche Literatur an der Humboldt-Universität zu Berlin. Zuletzt erschien »Planen, Wohnen, Schreiben. Architekturtexte der Wiener Moderne« (Mithg. 2021). (Stand 3/2024)
Siehe auch SINN UND FORM:
- 5/1998 | Reduktion und Innovation. Die Forderung nach Einfachheit
- 2/2001 | Kampf um Ruhm. Zur Unsterblichkeit des Autorsubjekts
- 3/2009 | »Vielleicht kommen wir ohne Wunder nicht aus.« Zum Briefwechsel Jünger-Scholem
- 4/2010 | Dolf Sternberger und Walter Benjamin. Ein Photographie-Aufsatz und seine Folgen
- 4/2011 | Gespräch mit Klaus Demus und Anja S. Hübner über Paul Celan
- 4/2011 | »Gefährlich leben!« Zum Briefwechsel zwischen Ernst Jünger und Dolf Sternberger
- 5/2013 | Der brasilianische Korrespondent. Auf der Suche nach Otto Storch
- 5/2013 | Der brasilianische Korrespondent. Auf der Suche nach Otto Storch
- 6/2019 | Sprachökonomie und Designökonomie. Die rhetorische Tradition der Wiener Architekturmoderne
- 1/2021 | Zeugenschaft statt Selbstdarstellung. Albert Camus’ »Pest« als literarische Chronik
- 4/2022 | Ernst Jüngers Leser in Buenos Aires. Jorge Luis Borges und die erste Übersetzung der »Stahlgewitter«
- 6/2023 | Reflexion und Resignation. Adornos »Minima Moralia« zwischen Verdrängung und Kritik
- 3/2024 | Korrespondenzen zwischen den Fronten. Bertolt Brecht, Ernst Jünger und Heiner Müller
Bald nach dem Tod von Gershom Scholem im Februar 1983 in Jerusalem bat Jacob Katz im Auftrag des Leo Baeck Instituts ehemalige Korrespondenzpartner, (...)
LeseprobeSchöttker, Detlev
Zum Briefwechsel zwischen Ernst Jünger und Gershom Scholem
Bald nach dem Tod von Gershom Scholem im Februar 1983 in Jerusalem bat Jacob Katz im Auftrag des Leo Baeck Instituts ehemalige Korrespondenzpartner, darunter auch Ernst Jünger, um die Übersendung von Briefen. Auf dem Schreiben notierte dieser neben dem Kürzel EJ und einem Erledigungszeichen: „30.V.83 mit Kopie von fünf Briefen«. Dies waren, abgesehen von einer kurzen Danksagung, alle Schreiben, die sich in Jüngers Besitz befanden. Er selbst hat vier Briefe an Scholem geschickt, die als Durchschriften in seinem Nachlaß im Deutschen Literaturarchiv in Marbach vorhanden sind. Hinzu kommt eine Postkarte, die die Korrespondenz einleitete und heute im Scholem-Archiv der Jüdischen Nationalbibliothek in Jerusalem liegt. Alle elf Schreiben werden hier erstmals veröffentlicht. Sie haben zwei Schwerpunkte, die für beide Briefpartner von großer Bedeutung waren: Es geht erstens um Scholems Bruder Werner, der mit Jünger zur Schule ging und 1940 als KPD-Mitglied im Konzentrationslager Buchenwald ermordet wurde, und zweitens um Walter Benjamin, Scholems lebenslangen Freund und Briefpartner, dessen Schriften Jünger ebenfalls kannte.
Schon der erste Kontakt zeigt, daß beide gut über einander informiert waren. In seinem Antwortschreiben betont Scholem, daß er zwei Bücher Jüngers gelesen habe und nun „bewegt« sei, dessen Handschrift zu sehen. Daß er ihm Wünsche zum 80. Geburtstag übermittelt, dürfte zu der ausführlichen und beinahe heiteren Antwort Jüngers beigetragen haben, die wenig später folgte. Auch der weitere Austausch zeugt von Auskunftsfreude und gegenseitigem Respekt. Welche Bücher Jüngers Scholem gelesen hatte, ist unklar. Doch dürfte er mit einigen Werken spätestens seit Ende der zwanziger Jahre vertraut gewesen sein. So veröffentlichte Benjamin 1930 unter dem Titel „Theorien des deutschen Faschismus« eine umfangreiche Besprechung des von Jünger herausgegebenen Sammelbandes „Krieg und Krieger«, die er Scholem - wie alle anderen Arbeiten auch - nach Jerusalem schickte, wo dieser sie archivierte.
Vermutlich kannte Scholem auch Hannah Arendts „Report from Germany«, der 1950 in der Zeitschrift „Commentary« erschienen war und einen Abschnitt über Jünger enthält. Bis zu ihrem Buch „Eichmann in Jerusalem« (engl. 1963, dt. 1964) gehörte Arendt zu Scholems engsten Vertrauten. Danach brach er den Kontakt ab, weil er die These über die Mitwirkung der Judenräte am Holocaust nicht akzeptierte. In ihrem Bericht beschreibt sie die erste Reise durch ihr Heimatland nach dem Krieg, die sie im Auftrag der Commission on European Jewish Cultural Reconstruction von August 1949 bis März 1950 gemacht hatte, und zeichnet ein anderes Bild von Jünger als die politische Publizistik in Deutschland. Zu den 1949 erschienenen „Strahlungen« heißt es: „Ernst Jüngers Kriegstagebücher liefern vielleicht den besten und ehrlichsten Beweis für die Schwierigkeiten, denen das Individuum ausgesetzt ist, wenn es seine moralischen Wertvorstellungen und seinen Wahrheitsbegriff ungebrochen in einer Welt erhalten möchte, in der Wahrheit und Moral jeglichen erkennbaren Ausdruck verloren haben. Trotz des unleugbaren Einflusses, den Jüngers frühere Arbeiten auf bestimmte Mitglieder der nazistischen Intelligenz ausübten, war er vom ersten bis zum letzten Tag des Regimes ein aktiver Nazigegner und bewies damit, daß der etwas altmodische Ehrbegriff, der einst im preußischen Offizierskorps geläufig war, für individuellen Widerstand völlig ausreichte« (Besuch in Deutschland, 1993).
Ob Scholem über jene Konstellation informiert war, die Hans Magnus Enzensberger in seinem „Hammerstein oder der Eigensinn« (2008) bekanntgemacht hat, ist unklar beziehungsweise unwahrscheinlich. Demnach war sein Bruder Werner mit einer Tochter von Kurt von Hammerstein, dem Chef der deutschen Reichswehr, befreundet. Am 3. Februar 1933 nahm Hammerstein in seiner Dienstwohnung an einer Besprechung teil, bei der Hitler erstmals über seine Kriegspläne sprach, was wenig später Stalin auf geheimen Wegen mitgeteilt wurde. Zwar dürfte Werner Scholem für die Übermittelung der Information nicht verantwortlich gewesen sein, wie Enzensberger nahelegt, doch gehörte er zu einem Milieu, in dem Konservative, Nationalsozialisten und Widerstandskämpfer in Verbindung standen. Daß er Deutschland nicht rechtzeitig verlassen hatte, wie Jünger verwundert registrierte, hängt möglicherweise mit seiner vorgesehenen oder tatsächlichen Spionagetätigkeit für die KPD zusammen. In seinem Totengespräch mit Werner Scholem läßt Enzensberger diese Frage offen.
[...]
SINN UND FORM 3/2009, S. 303-304
Für Rolf H. Krauss 1938, vier Jahre, nachdem er in die Redaktion der »Frankfurter Zeitung« eingetreten war, veröffentlichte Dolf Sternberger (...)
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Dolf Sternberger und Walter Benjamin
Ein Photographie-Aufsatz und seine Folgen
Für Rolf H. Krauss
1938, vier Jahre, nachdem er in die Redaktion der »Frankfurter Zeitung« eingetreten war, veröffentlichte Dolf Sternberger sein Buch »Panorama oder Ansichten vom 19. Jahrhundert«. Walter Benjamin verfaßte eine aggressive Rezension, die er in der »Zeitschrift für Sozialforschung« veröffentlichen wollte. Doch wurde sie hier nicht gedruckt, sondern erschien erst 1972 aus dem Nachlaß im dritten Band der »Gesammelten Schriften«. Die Lektüre machte Sternberger betroffen, wie das Vorwort zur Taschenbuch-Ausgabe seines Buches von 1974 zeigt. Dennoch hielt er auch hier an seinem ursprünglichen, fast vierzig Jahre zurückliegenden Bekenntnis fest: Benjamin sei sein Vorbild.
Das Motiv für die Attacke suchte Sternberger in Benjamins Buchprojekt über die Vorgeschichte der Moderne im 19. Jahrhundert, das unter der Bezeichnung »Passagen-Werk« bekannt geworden ist. Die Konkurrenzhaltung – Benjamin sprach von einem Plagiat – war allerdings nicht der einzige Grund für seinen Angriff. Vielmehr zeigen die hier erstmals abgedruckten Briefe von Peter Suhrkamp, Dolf Sternberger, Rudolf Geck und Ernst Bloch, daß es weitere und vermutlich sogar wichtigere Motive gab. Es handelt sich zum einen um Sternbergers Photographie-Aufsatz, der im Herbst 1934 erschien, zum anderen um eine Absage der »Frankfurter Zeitung« an Benjamin vom Sommer 1935, in die Sternberger als Redaktionsmitglied einbezogen war.
I
Als Sternberger Benjamin am 22.August 1934 nach Paris schrieb, berichtete er von einem Buch zum Phänomen der Sozialversicherung, das er noch im selben Jahr veröffentlichen wollte. Obwohl das Manuskript weitgehend abgeschlossen war, ist das Buch nicht erschienen. Über die Gründe wurde nichts bekannt. Daß er zugleich an einem umfangreichen Aufsatz über Photographie arbeitete, der knapp zwei Monate später in der »Neuen Rundschau« gedruckt wurde, erwähnte Sternberger dagegen nicht. Benjamin hörte davon eher zufällig durch Peter Suhrkamp. Anlaß war Benjamins Bitte an den S.Fischer Verlag, ihm die gerade erschienene Ausgabe von Hofmannsthals »Gesammelten Werken« für eine Rezension in der »Frankfurter Zeitung« zu übersenden. Dieser Brief ist zwar nicht erhalten, doch geht der Inhalt aus Suhrkamps Antwort und einem weiteren Brief Benjamins an Gershom Scholem vom 15. September 1934 hervor. Suhrkamps Schreiben erklärt sich aus seiner Stellung im S. Fischer Verlag: 1932 wurde er Redakteur der hauseigenen »Neuen Rundschau«, ein Jahr später auch Vorstandsmitglied. Benjamin war darüber möglicherweise durch Brecht informiert, der seit Anfang der zwanziger Jahre mit Suhrkamp befreundet war. Es ist deshalb kein Zufall, daß Benjamin seine Anfrage aus Skovbostrand bei Svendborg schickte, wo er seit Sommer 1934 in der Nähe Brechts lebte, nachdem er im März 1933 von Berlin über Ibiza nach Paris geflohen war. In der »Frankfurter Zeitung« konnte er bis März 1935 noch Rezensionen und literarische Texte anonym oder unter Pseudonym veröffentlichen; die »Literarische Welt«, in der er früher auch über Hofmannsthal geschrieben hatte, war dagegen 1933 eingestellt worden.
Sternberger kannte Suhrkamps Brief an Benjamin. Ob dies schon zum Zeitpunkt seiner Abfassung der Fall war, geht aus den Dokumenten nicht hervor. Fünfzig Jahre später aber erhielt er eine Kopie von Siegfried Unseld, der 1975 über seinen Vorgänger die »Biographie eines Verlegers in Daten, Dokumenten und Bildern« veröffentlicht hatte, so daß er über viele Details informiert war. Dennoch äußerte er sich in einem Begleitbrief vom 21. Februar 1984 verwundert über das Schreiben, das ihm möglicherweise erst bei der Vorbereitung zur Neuauflage der Biographie in die Hände gefallen war (sie erschien 1991). Unseld schreibt: »Lieber Dolf, als Anlage schicke ich Ihnen die Kopie eines Briefes von Peter Suhrkamp an Walter Benjamin. Ein Kuriosum; niemand wußte, daß Suhrkamp und Benjamin in Verbindung standen. Er hat mir das selber nie erzählt. Und das zweite Kuriosum: der Photographie-Aufsatz, ›den wir noch miteinander anfingen‹, ist zwar im Oktober 1934 veröffentlicht worden, aber der Autor heißt nicht Walter Benjamin, sondern Dolf Sternberger. Ich nehme an, Suhrkamp hat einmal mit Benjamin ein solches Projekt besprochen, ausgeführt aber haben Sie es. Ich freue mich, mit Ihnen darüber zu sprechen.«
Ob Unseld mit Sternberger über den Vorgang gesprochen hat, läßt sich ihrem Briefwechsel nicht entnehmen. Die drei involvierten Autoren aber kannten sich seit Beginn der dreißiger Jahre gut. Während Suhrkamp mit Sternberger seit 1932 über dessen Beiträge für die »Neue Rundschau« korrespondierte, lernte er Benjamin Anfang 1930 durch Brecht kennen. Suhrkamps Name taucht in einer Liste möglicher Mitarbeiter der Zeitschrift »Krise und Kritik« auf, die Benjamin und Brecht im Rowohlt Verlag herausgeben wollten (vgl.Erdmut Wizisla, Benjamin und Brecht, 2004, S. 298). In einem Radioessay zum Band »Deutsche Berufskunde«, der im Dezember 1930 im Südwestdeutschen Rundfunk gesendet wurde, wies Benjamin zuvor nachdrücklich auf Suhrkamps Beitrag über Journalismus hin. Die nähere Bekanntschaft aber bezeugt nur der hier abgedruckte Brief vom September 1934. Benjamin und Sternberger wiederum hatten sich 1932 in Frankfurt bei Ernst Schoen, dem künstlerischen Programmleiter des Südwestdeutschen Rundfunks, kennengelernt. Nachdem Sternberger 1934 seine gerade erschienene Dissertation »Der verstandene Tod. Eine Untersuchung zu Martin Heideggers Existenzial-Ontologie« an Benjamin nach Paris geschickt hatte, korrespondierten beide miteinander. Am 10. Januar 1934 bedankte sich Benjamin für das Buch. Seine Äußerung »Später einmal hören Sie Ausführlicheres« hat Sternberger offenbar als Ankündigung einer Rezension aufgefaßt und mehrfach nachgefragt. Am 22. August 1934 teilte er Benjamin seine Anstellung bei der »Frankfurter Zeitung« mit und erwähnte zwei Beiträge: den Artikel »Stefan Georges Ruhm« sowie den Aufsatz »Jugendstil. Begriff und Physiognomik«, der im September-Heft der »Neuen Rundschau« erscheinen werde und Benjamin »in vielem sehr verpflichtet« sei.
Benjamin antwortete am 4. September 1934, daß er Sternbergers Arbeiten »gern« lese. Der Photographie-Aufsatz allerdings wird von beiden auch in weiteren Briefen mit keinem Wort erwähnt. In einem Schreiben vom 29. Juli 1935, also über zehn Monate später, vertröstete Benjamin seinen Korrespondenzpartner schließlich wegen der Rezension des Heidegger-Buchs und erbat eine Zusammenfassung sowie die Nennung der wichtigsten Abschnitte. Zwar bekam er die gewünschten Angaben in einem Brief vom 12. August 1935, machte die Besprechung in einem weiteren Schreiben vom 1. September aber von der Publikation des Textes in der »Frankfurter Zeitung« mit entsprechender Honorierung abhängig. Er bat Sternberger deshalb, mit Rudolf Geck, dem Leiter der Feuilleton-Redaktion, zu sprechen, der ihm zuvor am 2.August mitgeteilt hatte, daß die Zeitung Beiträge aus dem Ausland nicht mehr in allen Fällen bezahlen könne. Den Brief legte Benjamin seinem Schreiben an Sternberger bei, so daß er sich als Original in dessen Nachlaß befindet.
Die Mitteilung Gecks hat Benjamin aus zwei Gründen getroffen: zum einen gefährdete sie ein Buchprojekt mit kurzen Prosatexten in der Nachfolge der 1928 erschienenen »Einbahnstraße«, von dem bereits einige Stücke in der »Frankfurter Zeitung« publiziert worden waren; zum anderen ging ihm dadurch eine weitere Publikationsmöglichkeit und Einkommensquelle verloren, so daß sich die ohnehin prekäre Lage im Pariser Exil weiter zu verschärfen drohte. Zwar hat Sternberger nach eigener Aussage mit Geck über die Honorierungsfrage gesprochen, wie er Benjamin am 5. September 1935 mitteilte, zugleich aber deutlich gemacht, daß es sich bei der Besprechung um eine Ausnahme handele. »Selbstverständlich«, so Sternberger, »würde ich es völlig verstehen, wenn Sie unter diesen Umständen die Sache lieber wieder zurückgeben würden.«
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SINN UND FORM 4/2010, S. 437-444
Seit ihrer ersten Begegnung in Paris 1941 stand die Korrespondenz zwischen Ernst Jünger und Dolf Sternberger im Zeichen von Einvernehmen und (...)
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»Gefährlich Leben!«
Zum Briefwechsel zwischen Ernst Jünger und Dolf Sternberger
Seit ihrer ersten Begegnung in Paris 1941 stand die Korrespondenz zwischen Ernst Jünger und Dolf Sternberger im Zeichen von Einvernehmen und Verschwiegenheit. Einvernehmen herrschte darüber, intellektuell unabhängig zu bleiben, obwohl beide in Institutionen tätig waren, die von den Nationalsozialisten kontrolliert wurden. Verschwiegenheit war Voraussetzung, um die verbleibenden Spielräume, ob in Wehrmacht oder Presse, nutzen zu können. Während der 45jährige Jünger seit Erscheinen seines Romans »Auf den Marmorklippen« im Jahr 1939 über seine Verehrer in soldatischen Kreisen hinaus auch eine Leserschaft gefunden hatte, die dem Nationalsozialismus ablehnend gegenüberstand, versuchte der zwölf Jahre jüngere Sternberger als Redakteur der »Frankfurter Zeitung«, bürgerliche Tugenden im Feuilleton zu bewahren. Zugleich hielt er Kontakt zu Vertretern der jüdischen und linken Intelligenz wie Hannah Arendt und Walter Benjamin, die 1933 emigriert waren und im Juni 1940, nach dem Einmarsch der deutschen Truppen in Frankreich, aus Paris fliehen mußten.
Über die äußeren Bedingungen ihrer Tätigkeit verlieren die Briefpartner kein Wort, so daß ihre Korrespondenz auf den ersten Blick nur Unverfängliches enthält. Schaut man genauer hin, erweist sie sich geradezu als Paradebeispiel für die Möglichkeiten und Grenzen, unter den Bedingungen nationalsozialistischer Herrschaft abweichende Auffassungen mitzuteilen. »Gärten und Straßen«, Jüngers Tagebuch der Jahre 1939 und 1940, das mit einer Notiz über die Arbeit an den »Marmorklippen« beginnt, war die Basis der Verständigung, der Roman selbst, in dem Jünger durch allegorische Darstellung unterschwellig Kritik an der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft übte, der Bezugspunkt. Sternberger hat diese, von Jünger selbst heruntergespielte Deutung 1980 zur These eines Essays gemacht und dabei den lange unterbrochenen Kontakt wieder intensiviert.
I
Kennengelernt hatten sich beide im Oktober 1941 im Pariser Hotel »George V«. Dorthin lud Hans Speidel, von 1940 bis 1942 Chef des Generalstabs beim Militärbefehlshaber in Frankreich, regelmäßig Offiziere und Gäste zum Abendessen ein. Jünger war als Vertrauter Speidels ständiger Teilnehmer der sogenannten »Georgsrunde«, zu der auch Sternberger gebeten wurde. Anlaß war dessen Vortrag »Das glückliche und das gefährliche Leben« im Deutschen Institut in Paris. Der Text erschien im Dezember 1941 in zwei Teilen in der »Frankfurter Zeitung« und gehört zu jenen Essays, die Sternberger neben seinen tagesjournalistischen Beiträgen seit Ende der zwanziger Jahre in Zeitungen und Zeitschriften veröffentlichte. Die meisten wurden später in überarbeiteter Form in verschiedene Auswahlbände sowie in die zwölfbändige Ausgabe seiner »Schriften« (1977–96) aufgenommen.
Über die näheren Umstände des Vortrags berichtete Sternberger 1988 aus Anlaß des Wiederabdrucks im neunten Band der »Schriften«. Demnach reiste er, da er – auch wegen seiner jüdischen Ehefrau – über keinen Paß verfügte, auf Einladung des Pariser Korrespondenten der »Frankfurter Zeitung« mit einem zeitlich begrenzten Militärausweis in die französische Hauptstadt. Das Deutsche Institut, das den Vortrag organisierte, hatte offiziell die Aufgabe, Kulturpropaganda zu betreiben, doch entzog sich Sternberger dieser Erwartung. Vielmehr verglich er die französische Glücksauffassung mit dem heroischen Lebensideal der Deutschen, ohne eine Wertung vorzunehmen. Aber auch dieser Vergleich bildete nur den Rahmen für Überlegungen zu einer Existenzform, für die er den Begriff des »tragischen Helden« verwendete. Es ging allerdings nicht um darstellende Kunst, sondern um das politische Verhalten eines bestimmten Typus, zu dem Sternberger mit Bezug auf Nietzsches »Fröhliche Wissenschaft« schreibt: »Darum sucht er die Gefahr auf. Darum heißt die berühmte Parole, von der Nietzsche sagt, sie sei das Geheimnis, die größte Fruchtbarkeit vom Dasein einzuernten: ›Gefährlich leben!‹ Vivere pericolosamente – so ist es ja die Parole des Faschismus geworden. Dieses Wort kann in der Tat als Motto jenes modernen tragischen Heroismus, dieses absoluten Heroismus gelten, dessen Kronzeuge Friedrich Nietzsche ist« (Schriften IX, S. 87f.).
Es ist anzunehmen, daß Sternberger frühere Arbeiten Jüngers kannte, in denen er Überlegungen zum Leben in der Gefahr entwickelt hatte. So heißt es in »Der Kampf als inneres Erlebnis« von 1922: »Mut zu besitzen, das heißt: jedem Schicksal gewachsen zu sein.« Vermutlich aber orientierte sich Sternberger in erster Linie an der Haltung der beiden Romanhelden in den »Marmorklippen«, einem Brüderpaar, das Ähnlichkeiten mit dem Autor und seinem Bruder Friedrich Georg aufweist. Wie diese setzten auch die Protagonisten des Romans ihre gemeinsame Arbeit als Natur- und Sprachforscher fort, als die Anhänger des »Oberförsters« das Land durch »Übergriffe und Gewalttätigkeiten« in Angst und Schrecken versetzten.
Das Brüderpaar des Romans erkundet zudem unter Lebensgefahr ein Haus, in dem ein einzelnes »Männlein« sein mörderisches Unwesen treibt. Die Schilderung der sogenannten »Schinderhütte« bei Köppelsbleek bildet den Höhe- und Wendepunkt der »Marmorklippen«: »Auch an den Bäumen, die die Rodung säumten, bleichten die Totenköpfe, von denen mancher, dem in den Augenhöhlen schon Moos gewachsen war, mit dunklem Lächeln uns zu mustern schien. (...) Das Innere der Scheune lag fast im Dunkeln, und wir erkannten nur dicht am Eingang eine Schinderbank mit aufgespannter Haut. (...) Dann fiel der Schatten eines großen Vogels auf den Platz. Er rührte von einem Geier, der mit ausgezackten Schwingen auf das Kardenfeld herniederstieß. Erst als wir ihn bis an den roten Hals langsam im aufgewühlten Grunde schnäbeln sahen, erkannten wir, daß dort ein Männlein mit der Hacke am Werke war und daß der Vogel seine Arbeit begleitete, so wie der Raabe dem Pfluge folgt. (...) Zugleich trieb mit dem Winde ein zäher, schwerer und süßer Hauch der Verwesung an, der uns bis in das Mark der Knochen erzittern ließ.«
Sternberger hat diese Szenerie in seinem Essay von 1980 als Allegorie auf die Konzentrationslager gedeutet, die Jünger in »prophetischer Phantasie« vorweggenommen habe. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Romans aber war das Quälen und Töten politischer Gegner in Kerkern und Lagern längst Bestandteil des nationalsozialistischen Terrors. Auf die nachfolgende Passage spielt der Titel von Sternbergers Beitrag »Eine Muse konnte nicht schweigen« an. Hier liefert Jünger nicht nur ein Bild der Diktatur als säkularisierter Hölle, sondern schildert zugleich die Reaktionen Betroffener: »Das sind die Keller, darauf die stolzen Schlösser der Tyrannis sich erheben und über denen man die Wohlgerüche ihrer Feste sich kräuseln sieht: Stankhöhlen grauenhafter Sorte, darinnen auf alle Ewigkeit verworfenes Gelichter sich an der Schändung der Menschenwürde und Menschenfreiheit schauerlich ergötzt. Dann schweigen die Musen, und die Wahrheit beginnt zu flackern wie eine Leuchte in böser Wetterluft. Da sieht man die Schwachen schon weichen, wenn kaum die ersten Nebel brauen, doch selbst die Kriegerkaste beginnt zu zagen, wenn sie das Larvengelichter aus den Niederungen auf die Bastionen emporgestiegen sieht. So kommt es, daß Kriegsmut auf dieser Welt im zweiten Treffen steht; und nur die höchsten, die mit uns leben, dringen bis in den Sitz des Schreckens ein. Sie wissen, daß alle diese Bilder ja nur in unserem Herzen leben, und schreiten als durch vorgestellte Spiegelungen durch sie in stolze Siegestore ein.«
Jünger lieferte hier vermutlich eine Erläuterung für seine Existenz im Dritten Reich, in der sich auch Sternberger wiedererkennen konnte. Den Mitgliedern der »Georgsrunde« war dessen distanzierte Haltung zum Nationalsozialismus offenbar bekannt, sonst wäre die Einladung an ihn kaum erfolgt. Denn bei den Essen, auf die ausgiebige Trinkgelage folgten (vgl. Brief 4), wurde nicht nur über Kunst und Literatur gesprochen, sondern auch über die Unwägbarkeiten der deutschen Kriegs- und Besatzungspolitik sowie die Gegensätze zwischen Militär- und Parteiapparat. Jünger hat darüber in seinem Pariser Tagebuch immer wieder Andeutungen gemacht und unter dem 1. November 1941 über das Zusammentreffen mit Sternberger berichtet: »Abends im George V., wo an der Tafelrunde auch Nebel und Sternberger als Gäste teilnehmen. Dieser letztere, mir durch seine Aufsätze bereits bekannt, erschien zunächst blasiert, gebeugt und teilnahmslos, wachte dann aber auf seltsame Weise auf, vom Wein und vom Gespräch wie durch ein Elixier belebt.«
Offenbar konnte Sternberger die Vorbehalte des von ihm verehrten Autors nicht gänzlich ausräumen, da Jünger die Aufzeichnung in die »Strahlungen« von 1949 übernahm (sie wurde erst in späteren Ausgaben getilgt). Wie der erste Brief Sternbergers vom Dezember 1941 zeigt, hatte er Jünger noch ein zweites Mal bei der deutschen Kunstmäzenin Lilly von Schnitzler getroffen, die mit ihrem Mann bis 1944 in Paris lebte. Auch hier wurde über den Vortrag gesprochen, wie dem Hinweis auf die »Figur des Scheiternden« zu entnehmen ist (Brief 1). Sternberger übersandte Jünger dazu den Essay »Hohe See und Schiffbruch«, den er 1935 in der »Neuen Rundschau« veröffentlicht hatte. Hier geht es nicht nur um das Motiv des Scheiterns (das Sternberger im Nachdruck in den Schriften VI herausnahm), sondern auch um die »Idee des ›gefährlichen Lebens'«, die naturgeschichtlich gedeutet wird. Damit hatte Sternberger die Maxime der »Marmorklippen« gleichsam vorweggenommen.
Eine direkte Diskussion wurde von den Korrespondenzpartnern natürlich vermieden. Beide kannten, wie mehrere Briefe zeigen, den Fall Gerhard Nebel, eines Vertrauten Jüngers, der nach einem Artikel in der »Neuen Rundschau« wegen einiger Formulierungen von Paris auf die Kanalinsel Alderney strafversetzt worden war (vgl. Brief 5). Statt dessen drehte sich der Briefwechsel um Eintragungen in Jüngers Buch »Gärten und Straßen«, die Sternberger in seinen Briefen kommentierte. Nachdem er bereits eines der ungebundenen Autorenexemplare erhalten hatte (Brief 2), verfaßte er gleich nach Erscheinen eine Besprechung, die am 16. März 1942 in der »Frankfurter Zeitung« erschien. Jünger las den Text noch am selben Tag, wie ein Eintrag im Pariser Tagebuch zeigt: »Am Abend kam Oberst Speidel in mein Zimmer; er brachte mir einen Aufsatz, den Sternberger in der ›Frankfurter‹ über mich schrieb«. Vom früheren Ressentiment ist hier nichts mehr zu spüren. In der Tat erweist sich Sternberger als guter Kenner von Jüngers Ästhetik: »Es geht hier nicht nur um Bilder, sondern um Urbilder. Im Zeitlichen sucht der Autor des Ewigen habhaft zu werden – oder vielmehr: sucht er ins Ewige hindurchzublicken, ewige Ordnungen oder Muster zu enthüllen« (Schriften VIII, S. 300).
Zwar finden sich vergleichbare Überlegungen auch in »Gärten und Straßen«, doch spielt Sternberger hier wohl auf Jüngers Idee der »stereoskopischen Wahrnehmung« an, auf die dieser zuvor in anderen Arbeiten eingegangen war: in den beiden Fassungen des »Abenteuerlichen Herzens« (1929 und 1938) und im »Sizilischen Brief an den Mann im Mond«, den Jünger in den von Sternberger ebenfalls erwähnten Essayband »Blätter und Steine« (1934) aufgenommen hatte. »Und doch«, so heißt es dort, »gilt unser höchstes Bestreben jenem stereoskopischen Blick, der die Dinge in ihrer geheimen ruhenden Körperlichkeit erfaßt«. Daß es dabei um die erwähnten »Urbilder« geht, zeigt eine Formulierung im »Abenteuerlichen Herzen«, wo (in der ersten wie in der veränderten zweiten Fassung) über den »stereoskopischen Genuß« zu lesen ist: »Es gibt an dieser Tafel keine Speise, in der nicht ein Körnchen vom Gewürz der Ewigkeit enthalten ist.«
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SINN UND FORM 4/2011, S. 437-447
In einer der Aufzeichnungen über den Begriff der Geschichte, an denen Walter Benjamin bis kurz vor seinem Tod im September 1940 arbeitete, steht (...)
LeseprobeHübner, Anja S.
DER BRASILIANISCHE KORRESPONDENT
Auf der Suche nach Otto Storch
In einer der Aufzeichnungen über den Begriff der Geschichte, an denen Walter Benjamin bis kurz vor seinem Tod im September 1940 arbeitete, steht ein aphoristischer Satz, den der israelische Bildhauer Dani Karavan in Benjamins spanischem Sterbeort Port Bou am Ende eines Stahltunnels vor dem freien Fall ins Meer auf eine Glasplatte gravieren ließ: »Schwerer ist es, das Gedächtnis der Namenlosen zu ehren als das der Berühmten.« Dieser Gedanke wird zur konkreten Erfahrung, wenn man die Biographie des kommunistischen Pressefotografen Otto Storch nachzuzeichnen versucht, mit dem sich Ernst Jünger während einer Brasilien-Reise anfreundete.
Beide lernten sich auf dem Überseedampfer »Monte Rosa« kennen, der Mitte Oktober 1936 in Hamburg startete, über die Azoren und das Amazonasdelta zu mehreren brasilianischen Küstenstädten fuhr und Mitte Dezember über La Palma und Casablanca zurückkehrte. Storch allerdings verließ das Schiff auf halber Strecke Mitte November in Santos, der Hafenstadt nahe São Paulo. Anschließend begann eine mehrjährige Korrespondenz mit Jünger, die bald nach Kriegsbeginn abbrach.
Ohne Jüngers Briefarchiv wüßte man nichts über Storch und seine Emigration, da dieser seit Anfang der vierziger Jahre in Brasilien verschollen ist. Die Briefe aber erzählen die Geschichte eines bemerkenswerten Mannes, der nicht nur eine wechselvolle Lebensgeschichte hatte, sondern diese auch in ihren Höhen und Tiefen darstellen konnte, so daß Jünger in mehrfacher Hinsicht an ihm interessiert, wenn nicht gar von ihm fasziniert war.
I. Beurteilung eines Emigranten
Auffällig an dieser Korrespondenz ist zunächst, daß sie trotz der Entfernung meist ohne größere Verzögerungen oder Verluste vonstatten ging. Das lag nicht zuletzt am gut organisierten Postverkehr zwischen Deutschland und Brasilien, der seit Beginn der dreißiger Jahre durch Liniendampfer, Zeppeline und Katapultschiffe mit Wasserflugzeugen bewältigt wurde. Zwar sind Jüngers Briefe verlorengegangen, doch dürften die von Storch fast vollständig erhalten sein.
Gleich im ersten Brief brachte Storch seine Sympathie für Jünger zum Ausdruck, wenn er über die »interessanten Wochen auf der Monte Rosa« schreibt: »Wie meist im Leben hatte ich aus dem Sammelsurium von Spiessern verschiedenster Schattierung einige Menschen herausgefunden, die diese Bezeichnung noch verdienen.« Jünger dürfte ähnlich gedacht haben. In seinem brasilianischen Tagebuch, das 1947 unter dem Titel »Atlantische Fahrt« erschien, berichtet er über Storch (unter dem Kürzel »St.«) ausführlicher als über alle anderen Passagiere, mit denen er ins Gespräch gekommen war. Bereits zehn Tage nach Abreise heißt es: »Unter der gemischten Gesellschaft, die heutzutage nach Phäakenart die Meere durchquert, machte ich einige Bekanntschaften, darunter die von St., mit dem ich die Stunden des Sonnenbades im Liegestuhl verplaudere. Er würde in einen Roman von Joseph Conrad passen, war früh Waise, ging dann zur See und machte den Weltkrieg auf Schiffen mit. Im Frieden betrieb er seltsame Geschäfte, war Mitglied kommunistischer Orden und scheint noch jetzt in undurchsichtige Vorgänge verquickt.«
Die Ausführungen machen neugierig, weil man einen Mann wie Storch weder auf einem Kreuzfahrtschiff noch unter den Vertrauten Jüngers vermutet hätte. Dieser aber lernte nicht nur die Lebensgeschichte seines Reisegefährten kennen; Storch offenbarte sich ihm auch, nachdem er das Schiff verlassen hatte, um in Brasilien zu bleiben. »Ich traf dann St. in einem kleinen Café«, so Jünger über ein Gespräch in São Paulo, »wo er mich von seiner Absicht, nicht mehr an Bord zurückzukehren, unterrichtete.« Zur Erläuterung heißt es: »Das ist eine Form der Auswanderung, die wohl zunehmen wird. Der Gewalt entspricht die Flucht.« Jünger weist also ausdrücklich auf die Verfolgungen im nationalsozialistischen Deutschland hin, die auch auf dem Überseedampfer zu spüren waren, da weitere Passagiere und Besatzungsmitglieder in Brasilien blieben – und zwar »unter Zurücklassung ihrer Pässe«, wie Jünger in einem Brief an seinen Bruder Friedrich Georg vom 20. November 1936 aus Santos berichtet (abgedruckt in der Neuausgabe von »Atlantische Fahrt«, 2013).
Wie Exilanten ab Mitte der dreißiger Jahre in Brasilien gelebt haben, ist bis heute weitgehend unbekannt. Zwar ist über Stefan Zweig, der 1940 aus dem englischen Exil nach Brasilien ging und sich in Petropolis in der Nähe von Rio de Janeiro niederließ, nicht zuletzt durch den Freitod des Autors zwei Jahre später viel geschrieben worden, doch handelt es sich um eine Ausnahme, da hier einem berühmten Autor durch die brasilianische Regierung Asyl gewährt wurde. Dagegen verschärfte das Land 1934, nachdem es seit dem 19. Jahrhundert Hunderttausende von Auswanderern aus Deutschland aufgenommen hatte, die Einwanderungsgesetze, so daß nur noch Personen einreisen durften, die in der Landwirtschaft tätig waren, wie Patrick von zur Mühlen in der Einleitung des Ausstellungskatalogs »Exil in Brasilien« (1994) ausgeführt hat. Storch war über das neue Einwanderungsgesetz zweifellos informiert und ließ sich deshalb als Landwirt in Brasilien nieder, obwohl er über keinerlei Berufserfahrung verfügte und Deutschland aus politischen Gründen verlassen hatte. Es ist bemerkenswert, daß Jünger, der über Emigranten im Prinzip nichts Positives zu sagen wußte, den Typus Storch in »Atlantische Fahrt« mit Bezug auf dessen Kontaktmann als Vorbild würdigt. Dieser sei, so heißt es unter dem Datum vom 18. November 1936, »schon 1927 aus politischen Gründen emigriert «. Jünger nennt ihn Schwager, ein Name, den auch Storch im ersten Brief an Jünger verwendete, so daß beide Personen zu einer verschmelzen: »Schwager, inzwischen Besitzer einer kleinen Farm geworden, schien an unserer Unterhaltung Gefallen zu finden, denn er lud auch mich dorthin ein. Er schien sich zufrieden zu fühlen und pries das Land, in dem er seßhaft geworden war. Vor allem schien ihn ein offenes Gefühl für Menschenwürde anzusprechen, der Sinn für Freiheit und Unantastbarkeit in einem Lande, in dem innere Unruhen doch nicht selten sind.«
Jünger spricht sogar von einem »großamerikanischen Freiheitsbedürfnis mit romantischer Liberalität und Höflichkeit« – eine Haltung, die in den Briefen des Korrespondenzpartners spürbar zum Ausdruck kommt. Die Einschätzung wird durch Jüngers handschriftliche Tagebuch-Aufzeichnungen von 1936 bestätigt. Unter den »Bekannten«, so heißt es hier, gehöre Storch zu den »wichtigsten «. Beide blieben allerdings nicht allein, sondern waren Teil einer Gruppe von Männern, die sich an Bord kennengelernt hatten und über politisch brisante Themen sprachen, wie brieflichen Andeutungen zu entnehmen ist. Zu ihnen gehörten auch der Niederländer Wilhelm Busch und der Münsteraner Vermessungsdirektor Clemens Brand, nach denen Storch sich in den Schreiben mehrfach erkundigte. Während über Busch nichts bekannt ist, wechselten Brand und Jünger in den Jahren 1937 und 1947 einige Briefe (abgedruckt in »Atlantische Fahrt«, 2013).
Die späteren Schreiben zeigen, daß Brand jener »Tischnachbar« im Speisesaal war, den Jünger in »Atlantische Fahrt« als »flache, doch liebenswürdige Intelligenz « bezeichnete, auch wenn dieser glaubte, die Charakterisierung treffe eher auf den »jungen Holländer« Busch zu, da er als Westfale von Natur aus nicht »liebenswürdig« sei und Jünger gegenüber Distanz gewahrt habe. Dennoch bekundete er in einem Brief von 1947 die Hoffnung auf eine weitere »größere Reise« mit den alten Gefährten: »Und wenn es dann wieder im Verein mit Storch und E.J. sein dürfte – Prophete rechts, Prophete links, das Weltkind aus Westfalen in der Mitte – wäre das gar nicht so übel.«
II. Zur Biographie eines Kommunisten
Brands Hinweis zielt nicht nur auf die Sitzordnung in der Liegestuhlreihe, sondern auch auf die politischen Auffassungen der Beteiligten. Jüngers Bemerkungen über Storchs Mitgliedschaft in »kommunistischen Orden« zeigen, daß er über Einzelheiten informiert war. Man kann vermuten, daß beide Diskretion vereinbart hatten, da Storch auf seine Einbürgerung in Brasilien hoffte und Jünger im Sommer 1936 von der Gestapo observiert worden war, so daß er Briefe von Gegnern des Regimes bereits verstecken oder vernichten mußte. Nachrichten eines emigrierten Kommunisten, der 1933 von der SA in Haft genommen worden war, wären in der Tat ein gefundenes Fressen für seine Feinde im Partei- und Staatsapparat gewesen.
Dennoch lassen sich den Briefen einige Fakten entnehmen, die auf das kommunistische Engagement Storchs hinweisen. So war er 1921 in Leningrad und Moskau, wo er angeblich führende russische Kommunisten traf (Brief vom 6. April 1937). Es ist zu vermuten, daß er am III.Weltkongreß der Kommunistischen Internationale teilnahm, der im Juli in Moskau stattfand. Ob er damals schon Mitglied der KPD oder einer ihrer Unterorganisationen war, ist unklar, da er zu dieser Zeit auch Kontakte zu anarchistischen und syndikalistischen Gruppen hatte. Das geht aus einer Akte des Oberreichsanwalts am Reichsgericht in Berlin hervor, der Storch 1926 wegen Aufforderung zum Hochverrat anklagen wollte und entsprechende Belege zusammentragen ließ (vorhanden im Bundesarchiv Berlin). Danach wurde Storch 1897 im niederschlesischen Trachtenberg geboren, wohnte 1926 in Berlin bei einem Professor Uhl, der »als Syndikalist bekannt« sei, und arbeitete »als Motorradfahrer« für die Zeitschrift »Freie Jugend«, die der Pazifist und Anarchist Ernst Friedrich, Gründer des Anti-Kriegsmuseums und Autor des zweibändigen Werkes »Krieg dem Kriege!«, herausgab.
Grund für die Ermittlungen gegen Storch waren Texte in der ersten, 1926 erschienenen Nummer der Zeitschrift »Rote Matrosen«, für die er laut Impressum als »Schriftleiter, Herausgeber und Verleger« verantwortlich zeichnete. Die Zeitschrift fungierte als Organ des »Bundes roter Matrosen«, in die Personen mit »proletarischer Lebens- und Denkungsart« aufgenommen wurden. Sie bestand aus zwei großformatigen Blättern mit vier Druckseiten und enthielt neben einer ganzseitigen Titelillustration von Max Dungert u.a. Texte von Theodor Plievier, der sich damals Plivier nannte, und Erich Mühsam, den Jünger Ende der zwanziger Jahre in Berlin kennenlernen sollte. Plievier wie Mühsam vertraten zu jener Zeit anarchistische Positionen. Die Auswahl der Texte und ihre sorgfältige typographische Gestaltung zeigen, daß der Herausgeber ästhetische und literarische Interessen hatte, die auch in seinem weiteren Leben eine Rolle spielten.
Storchs Aktivitäten für den »Bund roter Matrosen« erklären sich aus seinem Brief an Jünger vom 7. Juli 1938, in dem er Stationen seines Werdegangs und seiner beruflichen Tätigkeiten aufzählt. Demzufolge wuchs er im »Pfarrhaus eines niederschlesischen Dorfes« auf und kam 1912 mit vierzehn Jahren nach Flensburg, wo er »Schiffsjunge bei der kaiserlichen Marine« und zu Kriegsbeginn, knapp siebzehnjährig, Matrose wurde. Auf Schiffen kam er in Kontakt mit anderen Matrosen, die Anfang November 1918, also kurz vor Ende des Krieges, in Wilhelmshaven und Kiel am Aufstand gegen die Regierung beteiligt waren. Die später verstreuten Revolutionäre wollte Storch im »Bund roter Matrosen« zusammenführen, der in der Akte des Oberreichsanwalts allerdings als »Kaffeekränzchen« bezeichnet und 1926 aufgelöst wurde.
Warum Storch 1920 während des Kapp-Putsches, den Offiziere der Reichswehr gegen die sozialdemokratisch geführte Regierung der Weimarer Republik initiiert hatten, aus Kiel »flüchten« mußte, wie es im Brief vom 7. Juli 1938 heißt, bleibt unklar. Danach übte er eine Vielzahl von Tätigkeiten aus, die er im selben Brief aufzählt. Nachdem er zunächst als Lebensmittelschmuggler und -händler in den Niederlanden und in Gelsenkirchen sowie als Detektiv bei der Sicherheitspolizei in Essen gearbeitet hatte, ging er Anfang der zwanziger Jahre nach Berlin, wo er Leiter des Strandcafés am Kleinen Wannsee, dann Mitarbeiter eines Theaters und schließlich Vertriebsleiter einer Zeitung wurde.
Mit Plievier (1892–1955), der im »Bund roter Matrosen« laut Ermittlung des Oberreichsanwalts federführend war und in der Zeitschrift den Beitrag »Skizzen aus dem Seemannsleben« publiziert hatte, lebte Storch in den zwanziger Jahren in einem »wüsten, aber recht romantischen Keller«, wie er am 14. März 1937 an Jünger schreibt. Zu dieser Zeit arbeitete sein Mitbewohner an dem autobiographischen Roman »Des Kaisers Kulis«, in dem die auch Storch bekannten menschenunwürdigen Zustände bei der Marine mit Schwerstarbeit, Demütigungen und Willkür, aber auch die Solidarität und die revolutionären Aktivitäten der Matrosen dargestellt werden. Das Buch erschien 1929 im Malik Verlag, wurde durch Übersetzungen über Deutschland hinaus bekannt und von Erwin Piscator 1930 am Berliner Lessing-Theater in einer dramatischen Bearbeitung mit großem Erfolg inszeniert.
Während sich Plievier, der wie Storch durch die Matrosenaufstände politisiert wurde, später der KPD annäherte und 1933 in die Sowjetunion emigrierte, war Storch als Parteimitglied im Widerstand aktiv. Schon 1929 beteiligte er sich an der Produktion des Kurzfilms »Immer bereit!«, einer Dokumentation über ein Zeltlager des Berliner Jung-Spartakus-Bundes, das nach dem russischen Außenminister »Woroschilow« benannt wurde, wie die Kurzbeschreibung einer Kopie zeigt, die sich im Staatlichen Russischen Archiv für Film- und Fotodokumente in Krasnogorsk erhalten hat. Finanziert wurde die Produktion durch die »Weltfilm GmbH«, die 1928 von Funktionären der Internationalen Arbeiterhilfe gegründet worden war. Zu ihnen gehörte auch Willi Münzenberg (1889–1940), der ab Anfang der zwanziger Jahre für die KPD eines der größten Medienunternehmen der Weimarer Republik aufbaute und zusammen mit Storch als Produzent und Regisseur von »Immer bereit!« genannt wird.
1926 hatte Münzenberg bereits die Firma »Prometheus Film« ins Leben gerufen, die Revolutionsfilme aus der Sowjetunion wie Sergej Eisensteins »Panzerkreuzer Potemkin« (1925) in Deutschland vertrieb und zugleich eigene proletarische Spielfilme produzierte, darunter so bekannte wie »Mutter Krausens Fahrt ins Glück« von Phil Jutzi (1929) und »Kuhle Wampe« von Bertolt Brecht und Slatan Dudow (1932). Die »Weltfilm GmbH« war dagegen auf propagandistische Dokumentarfilme spezialisiert und stütze sich dabei auf eine Gruppe interessierter Laien, für die Münzenberg die Zeitschrift »Der Arbeiterfotograf« (1926–32) herausgab. Es ist zu vermuten, daß Storch einer solchen Gruppe angehörte, da er seit 1930 in Berliner Adreßbüchern als »Pressephotograph« auftaucht, eine Berufsbezeichnung, die er auch in seinem Brief vom 14. März 1937 verwendete.
Jünger selbst kannte aus seinen Berliner Jahren zwischen 1928 und 1933 nicht nur die Aktivitäten revolutionärer Gruppen im rechten wie im linken Lager, sondern auch die Pressefotografie, da er für die beiden Sammelbände »Der gefährliche Augenblick« (1931) und »Die veränderte Welt« (1933), die aus Pressetexten und -fotos zusammengestellt waren, Einleitungen geschrieben hatte. Den Text für den zweiten Band veröffentlichte er bereits 1932 in der von Ernst Niekisch herausgegebenen Zeitschrift »Widerstand«, die 1934 von den Nationalsozialisten verboten wurde. Unter dem Titel »Das Lichtbild als Mittel im politischen Kampf« würdigt er hier nicht nur die Pressefotografie, sondern auch den sowjetischen Revolutionsfilm. Hier zeigt sich, wie sehr sich linke und rechte Auffassungen im Zeichen der Propaganda annähern konnten.
Ob Storch, wie man vermuten kann, für Zeitungen und Zeitschriften des Münzenberg-Konzerns arbeitete, ist unbekannt, da Fotografen hier nicht genannt wurden, obwohl die Organe auflagenstark und erfolgreich waren, darunter die wöchentlich erscheinende »Arbeiter-Illustrierte-Zeitung« (1921–38) und die Berliner Tageszeitung »Welt am Abend« (1922–33). Storch gehörte zwar nicht zu den bekanntesten Pressefotografen der Linken, doch haben Kurt Tucholsky und John Heartfield in ihrem Band »Deutschland, Deutschland über alles«, der 1929 in Münzenbergs Neuem Deutschen Verlag erschien, auch Fotos von Storch verwendet, wie einem Hinweis auf der letzten Seite des Buches zu entnehmen ist. Möglicherweise gab es eine Verbindung über Plievier, für dessen Matrosenroman Heartfield im selben Jahr den Schutzumschlag gestaltet hatte. Auch gesundheitlich wurde Storch von der KPD bzw. der Komintern versorgt. Zwischen Oktober und Dezember 1931 war er zehn Wochen in einem »Sanatorium im Kaukasus« und nach einem kurzen Zwischenaufenthalt in Berlin im Januar 1932 nochmals zehn Wochen in einem »Sanatorium«, wie einem Brief an Jünger zu entnehmen ist (14. März 1937). Im ersten Fall handelt es sich um eines der Arbeitersanatorien, in denen auch Funktionäre der KPD untergebracht wurden, wie Ludwig Renn in der Kaukasus-Reportage seines Buches »Rußlandfahrten« (1932) berichtet hat.
Aus einer Kaderakte zu Otto Neitzel, die im Februar und April 1937 vermutlich in Moskau angelegt wurde und sich heute im Bundesarchiv Berlin befindet, geht hervor, daß Storch, mit dem Neitzel gut bekannt war, gleich nach Hitlers Machtantritt von der SA verhaftet und neun Wochen lang in »Schutzhaft« genommen wurde. Dabei seien sein persönliches Eigentum und »sein gesamtes Photoarchiv« beschlagnahmt worden. Seit dieser Zeit habe Storch mit anderen, ebenfalls illegal agierenden Parteimitgliedern in Verbindung gestanden, zugleich aber auch Abstand gehalten: »Seine Führung und Haltung während dieser ganzen Zeit war einwandfrei, nur wollte er mit der Partei seiner Sicherheit halber nicht zusammenkommen. Im Herbst oder Ende des Jahres 1936 fuhr er nach Amerika.«
Über die Reise nach Brasilien war also zumindest ein Genosse informiert. Zugleich war Storchs Emigration gut vorbereitet und finanziell abgesichert: Er konnte die Fahrt in der Touristenklasse machen, mußte demnach Hin- und Rückfahrt bezahlen, hatte Kontakt zu einem Partner in Brasilien und beherrschte die Landessprache, da er gleich nach Ankunft »portug. Lehrbücher« zur Landwirtschaft las (Brief vom 10. Februar 1937). All das deutet darauf hin, daß er im Auftrag der Komintern, deren wichtigste Basis außerhalb der Sowjetunion die KPD war, nach Brasilien geschickt wurde. Jüngers Bemerkung, sein Reisegefährte sei »noch jetzt in undurchsichtige Vorgänge verquickt«, trifft die konspirative Konstellation.
SINN UND FORM 5/2013, S. 672-684
In einer der Aufzeichnungen über den Begriff der Geschichte, an denen Walter Benjamin bis kurz vor seinem Tod im September 1940 arbeitete, steht ein (...)
LeseprobeSchöttker, Detlev
Detlev Schöttker und Anja S. Hübner
DER BRASILIANISCHE KORRESPONDENT
Auf der Suche nach Otto Storch
In einer der Aufzeichnungen über den Begriff der Geschichte, an denen Walter Benjamin bis kurz vor seinem Tod im September 1940 arbeitete, steht ein aphoristischer Satz, den der israelische Bildhauer Dani Karavan in Benjamins spanischem Sterbeort Port Bou am Ende eines Stahltunnels vor dem freien Fall ins Meer auf eine Glasplatte gravieren ließ: »Schwerer ist es, das Gedächtnis der Namenlosen zu ehren als das der Berühmten.« Dieser Gedanke wird zur konkreten Erfahrung, wenn man die Biographie des kommunistischen Pressefotografen Otto Storch nachzuzeichnen versucht, mit dem sich Ernst Jünger während einer Brasilien-Reise anfreundete.
Beide lernten sich auf dem Überseedampfer »Monte Rosa« kennen, der Mitte Oktober 1936 in Hamburg startete, über die Azoren und das Amazonasdelta zu mehreren brasilianischen Küstenstädten fuhr und Mitte Dezember über La Palma und Casablanca zurückkehrte. Storch allerdings verließ das Schiff auf halber Strecke Mitte November in Santos, der Hafenstadt nahe São Paulo. Anschließend begann eine mehrjährige Korrespondenz mit Jünger, die bald nach Kriegsbeginn abbrach.
Ohne Jüngers Briefarchiv wüßte man nichts über Storch und seine Emigration, da dieser seit Anfang der vierziger Jahre in Brasilien verschollen ist. Die Briefe aber erzählen die Geschichte eines bemerkenswerten Mannes, der nicht nur eine wechselvolle Lebensgeschichte hatte, sondern diese auch in ihren Höhen und Tiefen darstellen konnte, so daß Jünger in mehrfacher Hinsicht an ihm interessiert, wenn nicht gar von ihm fasziniert war.
I. Beurteilung eines Emigranten
Auffällig an dieser Korrespondenz ist zunächst, daß sie trotz der Entfernung meist ohne größere Verzögerungen oder Verluste vonstatten ging. Das lag nicht zuletzt am gut organisierten Postverkehr zwischen Deutschland und Brasilien, der seit Beginn der dreißiger Jahre durch Liniendampfer, Zeppeline und Katapultschiffe mit Wasserflugzeugen bewältigt wurde. Zwar sind Jüngers Briefe verlorengegangen, doch dürften die von Storch fast vollständig erhalten sein.
Gleich im ersten Brief brachte Storch seine Sympathie für Jünger zum Ausdruck, wenn er über die »interessanten Wochen auf der Monte Rosa« schreibt: »Wie meist im Leben hatte ich aus dem Sammelsurium von Spiessern verschiedenster Schattierung einige Menschen herausgefunden, die diese Bezeichnung noch verdienen.« Jünger dürfte ähnlich gedacht haben. In seinem brasilianischen Tagebuch, das 1947 unter dem Titel »Atlantische Fahrt« erschien, berichtet er über Storch (unter dem Kürzel »St.«) ausführlicher als über alle anderen Passagiere, mit denen er ins Gespräch gekommen war. Bereits zehn Tage nach Abreise heißt es: »Unter der gemischten Gesellschaft, die heutzutage nach Phäakenart die Meere durchquert, machte ich einige Bekanntschaften, darunter die von St., mit dem ich die Stunden des Sonnenbades im Liegestuhl verplaudere. Er würde in einen Roman von Joseph Conrad passen, war früh Waise, ging dann zur See und machte den Weltkrieg auf Schiffen mit. Im Frieden betrieb er seltsame Geschäfte, war Mitglied kommunistischer Orden und scheint noch jetzt in undurchsichtige Vorgänge verquickt.«
Die Ausführungen machen neugierig, weil man einen Mann wie Storch weder auf einem Kreuzfahrtschiff noch unter den Vertrauten Jüngers vermutet hätte. Dieser aber lernte nicht nur die Lebensgeschichte seines Reisegefährten kennen; Storch offenbarte sich ihm auch, nachdem er das Schiff verlassen hatte, um in Brasilien zu bleiben. »Ich traf dann St. in einem kleinen Café«, so Jünger über ein Gespräch in São Paulo, »wo er mich von seiner Absicht, nicht mehr an Bord zurückzukehren, unterrichtete.« Zur Erläuterung heißt es: »Das ist eine Form der Auswanderung, die wohl zunehmen wird. Der Gewalt entspricht die Flucht.« Jünger weist also ausdrücklich auf die Verfolgungen im nationalsozialistischen Deutschland hin, die auch auf dem Überseedampfer zu spüren waren, da weitere Passagiere und Besatzungsmitglieder in Brasilien blieben – und zwar »unter Zurücklassung ihrer Pässe«, wie Jünger in einem Brief an seinen Bruder Friedrich Georg vom 20. November 1936 aus Santos berichtet (abgedruckt in der Neuausgabe von »Atlantische Fahrt«, 2013).
Wie Exilanten ab Mitte der dreißiger Jahre in Brasilien gelebt haben, ist bis heute weitgehend unbekannt. Zwar ist über Stefan Zweig, der 1940 aus dem englischen Exil nach Brasilien ging und sich in Petropolis in der Nähe von Rio de Janeiro niederließ, nicht zuletzt durch den Freitod des Autors zwei Jahre später viel geschrieben worden, doch handelt es sich um eine Ausnahme, da hier einem berühmten Autor durch die brasilianische Regierung Asyl gewährt wurde. Dagegen verschärfte das Land 1934, nachdem es seit dem 19. Jahrhundert Hunderttausende von Auswanderern aus Deutschland aufgenommen hatte, die Einwanderungsgesetze, so daß nur noch Personen einreisen durften, die in der Landwirtschaft tätig waren, wie Patrick von zur Mühlen in der Einleitung des Ausstellungskatalogs »Exil in Brasilien« (1994) ausgeführt hat. Storch war über das neue Einwanderungsgesetz zweifellos informiert und ließ sich deshalb als Landwirt in Brasilien nieder, obwohl er über keinerlei Berufserfahrung verfügte und Deutschland aus politischen Gründen verlassen hatte. Es ist bemerkenswert, daß Jünger, der über Emigranten im Prinzip nichts Positives zu sagen wußte, den Typus Storch in »Atlantische Fahrt« mit Bezug auf dessen Kontaktmann als Vorbild würdigt. Dieser sei, so heißt es unter dem Datum vom 18. November 1936, »schon 1927 aus politischen Gründen emigriert «. Jünger nennt ihn Schwager, ein Name, den auch Storch im ersten Brief an Jünger verwendete, so daß beide Personen zu einer verschmelzen: »Schwager, inzwischen Besitzer einer kleinen Farm geworden, schien an unserer Unterhaltung Gefallen zu finden, denn er lud auch mich dorthin ein. Er schien sich zufrieden zu fühlen und pries das Land, in dem er seßhaft geworden war. Vor allem schien ihn ein offenes Gefühl für Menschenwürde anzusprechen, der Sinn für Freiheit und Unantastbarkeit in einem Lande, in dem innere Unruhen doch nicht selten sind.«
Jünger spricht sogar von einem »großamerikanischen Freiheitsbedürfnis mit romantischer Liberalität und Höflichkeit« – eine Haltung, die in den Briefen des Korrespondenzpartners spürbar zum Ausdruck kommt. Die Einschätzung wird durch Jüngers handschriftliche Tagebuch-Aufzeichnungen von 1936 bestätigt. Unter den »Bekannten«, so heißt es hier, gehöre Storch zu den »wichtigsten «. Beide blieben allerdings nicht allein, sondern waren Teil einer Gruppe von Männern, die sich an Bord kennengelernt hatten und über politisch brisante Themen sprachen, wie brieflichen Andeutungen zu entnehmen ist. Zu ihnen gehörten auch der Niederländer Wilhelm Busch und der Münsteraner Vermessungsdirektor Clemens Brand, nach denen Storch sich in den Schreiben mehrfach erkundigte. Während über Busch nichts bekannt ist, wechselten Brand und Jünger in den Jahren 1937 und 1947 einige Briefe (abgedruckt in »Atlantische Fahrt«, 2013).
Die späteren Schreiben zeigen, daß Brand jener »Tischnachbar« im Speisesaal war, den Jünger in »Atlantische Fahrt« als »flache, doch liebenswürdige Intelligenz « bezeichnete, auch wenn dieser glaubte, die Charakterisierung treffe eher auf den »jungen Holländer« Busch zu, da er als Westfale von Natur aus nicht »liebenswürdig« sei und Jünger gegenüber Distanz gewahrt habe. Dennoch bekundete er in einem Brief von 1947 die Hoffnung auf eine weitere »größere Reise« mit den alten Gefährten: »Und wenn es dann wieder im Verein mit Storch und E.J. sein dürfte – Prophete rechts, Prophete links, das Weltkind aus Westfalen in der Mitte – wäre das gar nicht so übel.«
II. Zur Biographie eines Kommunisten
Brands Hinweis zielt nicht nur auf die Sitzordnung in der Liegestuhlreihe, sondern auch auf die politischen Auffassungen der Beteiligten. Jüngers Bemerkungen über Storchs Mitgliedschaft in »kommunistischen Orden« zeigen, daß er über Einzelheiten informiert war. Man kann vermuten, daß beide Diskretion vereinbart hatten, da Storch auf seine Einbürgerung in Brasilien hoffte und Jünger im Sommer 1936 von der Gestapo observiert worden war, so daß er Briefe von Gegnern des Regimes bereits verstecken oder vernichten mußte. Nachrichten eines emigrierten Kommunisten, der 1933 von der SA in Haft genommen worden war, wären in der Tat ein gefundenes Fressen für seine Feinde im Partei- und Staatsapparat gewesen.
Dennoch lassen sich den Briefen einige Fakten entnehmen, die auf das kommunistische Engagement Storchs hinweisen. So war er 1921 in Leningrad und Moskau, wo er angeblich führende russische Kommunisten traf (Brief vom 6. April 1937). Es ist zu vermuten, daß er am III.Weltkongreß der Kommunistischen Internationale teilnahm, der im Juli in Moskau stattfand. Ob er damals schon Mitglied der KPD oder einer ihrer Unterorganisationen war, ist unklar, da er zu dieser Zeit auch Kontakte zu anarchistischen und syndikalistischen Gruppen hatte. Das geht aus einer Akte des Oberreichsanwalts am Reichsgericht in Berlin hervor, der Storch 1926 wegen Aufforderung zum Hochverrat anklagen wollte und entsprechende Belege zusammentragen ließ (vorhanden im Bundesarchiv Berlin). Danach wurde Storch 1897 im niederschlesischen Trachtenberg geboren, wohnte 1926 in Berlin bei einem Professor Uhl, der »als Syndikalist bekannt« sei, und arbeitete »als Motorradfahrer« für die Zeitschrift »Freie Jugend«, die der Pazifist und Anarchist Ernst Friedrich, Gründer des Anti-Kriegsmuseums und Autor des zweibändigen Werkes »Krieg dem Kriege!«, herausgab.
Grund für die Ermittlungen gegen Storch waren Texte in der ersten, 1926 erschienenen Nummer der Zeitschrift »Rote Matrosen«, für die er laut Impressum als »Schriftleiter, Herausgeber und Verleger« verantwortlich zeichnete. Die Zeitschrift fungierte als Organ des »Bundes roter Matrosen«, in die Personen mit »proletarischer Lebens- und Denkungsart« aufgenommen wurden. Sie bestand aus zwei großformatigen Blättern mit vier Druckseiten und enthielt neben einer ganzseitigen Titelillustration von Max Dungert u.a. Texte von Theodor Plievier, der sich damals Plivier nannte, und Erich Mühsam, den Jünger Ende der zwanziger Jahre in Berlin kennenlernen sollte. Plievier wie Mühsam vertraten zu jener Zeit anarchistische Positionen. Die Auswahl der Texte und ihre sorgfältige typographische Gestaltung zeigen, daß der Herausgeber ästhetische und literarische Interessen hatte, die auch in seinem weiteren Leben eine Rolle spielten.
Storchs Aktivitäten für den »Bund roter Matrosen« erklären sich aus seinem Brief an Jünger vom 7. Juli 1938, in dem er Stationen seines Werdegangs und seiner beruflichen Tätigkeiten aufzählt. Demzufolge wuchs er im »Pfarrhaus eines niederschlesischen Dorfes« auf und kam 1912 mit vierzehn Jahren nach Flensburg, wo er »Schiffsjunge bei der kaiserlichen Marine« und zu Kriegsbeginn, knapp siebzehnjährig, Matrose wurde. Auf Schiffen kam er in Kontakt mit anderen Matrosen, die Anfang November 1918, also kurz vor Ende des Krieges, in Wilhelmshaven und Kiel am Aufstand gegen die Regierung beteiligt waren. Die später verstreuten Revolutionäre wollte Storch im »Bund roter Matrosen« zusammenführen, der in der Akte des Oberreichsanwalts allerdings als »Kaffeekränzchen« bezeichnet und 1926 aufgelöst wurde.
Warum Storch 1920 während des Kapp-Putsches, den Offiziere der Reichswehr gegen die sozialdemokratisch geführte Regierung der Weimarer Republik initiiert hatten, aus Kiel »flüchten« mußte, wie es im Brief vom 7. Juli 1938 heißt, bleibt unklar. Danach übte er eine Vielzahl von Tätigkeiten aus, die er im selben Brief aufzählt. Nachdem er zunächst als Lebensmittelschmuggler und -händler in den Niederlanden und in Gelsenkirchen sowie als Detektiv bei der Sicherheitspolizei in Essen gearbeitet hatte, ging er Anfang der zwanziger Jahre nach Berlin, wo er Leiter des Strandcafés am Kleinen Wannsee, dann Mitarbeiter eines Theaters und schließlich Vertriebsleiter einer Zeitung wurde.
Mit Plievier (1892–1955), der im »Bund roter Matrosen« laut Ermittlung des Oberreichsanwalts federführend war und in der Zeitschrift den Beitrag »Skizzen aus dem Seemannsleben« publiziert hatte, lebte Storch in den zwanziger Jahren in einem »wüsten, aber recht romantischen Keller«, wie er am 14. März 1937 an Jünger schreibt. Zu dieser Zeit arbeitete sein Mitbewohner an dem autobiographischen Roman »Des Kaisers Kulis«, in dem die auch Storch bekannten menschenunwürdigen Zustände bei der Marine mit Schwerstarbeit, Demütigungen und Willkür, aber auch die Solidarität und die revolutionären Aktivitäten der Matrosen dargestellt werden. Das Buch erschien 1929 im Malik Verlag, wurde durch Übersetzungen über Deutschland hinaus bekannt und von Erwin Piscator 1930 am Berliner Lessing-Theater in einer dramatischen Bearbeitung mit großem Erfolg inszeniert.
Während sich Plievier, der wie Storch durch die Matrosenaufstände politisiert wurde, später der KPD annäherte und 1933 in die Sowjetunion emigrierte, war Storch als Parteimitglied im Widerstand aktiv. Schon 1929 beteiligte er sich an der Produktion des Kurzfilms »Immer bereit!«, einer Dokumentation über ein Zeltlager des Berliner Jung-Spartakus-Bundes, das nach dem russischen Außenminister »Woroschilow« benannt wurde, wie die Kurzbeschreibung einer Kopie zeigt, die sich im Staatlichen Russischen Archiv für Film- und Fotodokumente in Krasnogorsk erhalten hat. Finanziert wurde die Produktion durch die »Weltfilm GmbH«, die 1928 von Funktionären der Internationalen Arbeiterhilfe gegründet worden war. Zu ihnen gehörte auch Willi Münzenberg (1889–1940), der ab Anfang der zwanziger Jahre für die KPD eines der größten Medienunternehmen der Weimarer Republik aufbaute und zusammen mit Storch als Produzent und Regisseur von »Immer bereit!« genannt wird.
1926 hatte Münzenberg bereits die Firma »Prometheus Film« ins Leben gerufen, die Revolutionsfilme aus der Sowjetunion wie Sergej Eisensteins »Panzerkreuzer Potemkin« (1925) in Deutschland vertrieb und zugleich eigene proletarische Spielfilme produzierte, darunter so bekannte wie »Mutter Krausens Fahrt ins Glück« von Phil Jutzi (1929) und »Kuhle Wampe« von Bertolt Brecht und Slatan Dudow (1932). Die »Weltfilm GmbH« war dagegen auf propagandistische Dokumentarfilme spezialisiert und stütze sich dabei auf eine Gruppe interessierter Laien, für die Münzenberg die Zeitschrift »Der Arbeiterfotograf« (1926–32) herausgab. Es ist zu vermuten, daß Storch einer solchen Gruppe angehörte, da er seit 1930 in Berliner Adreßbüchern als »Pressephotograph« auftaucht, eine Berufsbezeichnung, die er auch in seinem Brief vom 14. März 1937 verwendete.
Jünger selbst kannte aus seinen Berliner Jahren zwischen 1928 und 1933 nicht nur die Aktivitäten revolutionärer Gruppen im rechten wie im linken Lager, sondern auch die Pressefotografie, da er für die beiden Sammelbände »Der gefährliche Augenblick« (1931) und »Die veränderte Welt« (1933), die aus Pressetexten und -fotos zusammengestellt waren, Einleitungen geschrieben hatte. Den Text für den zweiten Band veröffentlichte er bereits 1932 in der von Ernst Niekisch herausgegebenen Zeitschrift »Widerstand«, die 1934 von den Nationalsozialisten verboten wurde. Unter dem Titel »Das Lichtbild als Mittel im politischen Kampf« würdigt er hier nicht nur die Pressefotografie, sondern auch den sowjetischen Revolutionsfilm. Hier zeigt sich, wie sehr sich linke und rechte Auffassungen im Zeichen der Propaganda annähern konnten.
Ob Storch, wie man vermuten kann, für Zeitungen und Zeitschriften des Münzenberg-Konzerns arbeitete, ist unbekannt, da Fotografen hier nicht genannt wurden, obwohl die Organe auflagenstark und erfolgreich waren, darunter die wöchentlich erscheinende »Arbeiter-Illustrierte-Zeitung« (1921–38) und die Berliner Tageszeitung »Welt am Abend« (1922–33). Storch gehörte zwar nicht zu den bekanntesten Pressefotografen der Linken, doch haben Kurt Tucholsky und John Heartfield in ihrem Band »Deutschland, Deutschland über alles«, der 1929 in Münzenbergs Neuem Deutschen Verlag erschien, auch Fotos von Storch verwendet, wie einem Hinweis auf der letzten Seite des Buches zu entnehmen ist. Möglicherweise gab es eine Verbindung über Plievier, für dessen Matrosenroman Heartfield im selben Jahr den Schutzumschlag gestaltet hatte. Auch gesundheitlich wurde Storch von der KPD bzw. der Komintern versorgt. Zwischen Oktober und Dezember 1931 war er zehn Wochen in einem »Sanatorium im Kaukasus« und nach einem kurzen Zwischenaufenthalt in Berlin im Januar 1932 nochmals zehn Wochen in einem »Sanatorium«, wie einem Brief an Jünger zu entnehmen ist (14. März 1937). Im ersten Fall handelt es sich um eines der Arbeitersanatorien, in denen auch Funktionäre der KPD untergebracht wurden, wie Ludwig Renn in der Kaukasus-Reportage seines Buches »Rußlandfahrten« (1932) berichtet hat.
Aus einer Kaderakte zu Otto Neitzel, die im Februar und April 1937 vermutlich in Moskau angelegt wurde und sich heute im Bundesarchiv Berlin befindet, geht hervor, daß Storch, mit dem Neitzel gut bekannt war, gleich nach Hitlers Machtantritt von der SA verhaftet und neun Wochen lang in »Schutzhaft« genommen wurde. Dabei seien sein persönliches Eigentum und »sein gesamtes Photoarchiv« beschlagnahmt worden. Seit dieser Zeit habe Storch mit anderen, ebenfalls illegal agierenden Parteimitgliedern in Verbindung gestanden, zugleich aber auch Abstand gehalten: »Seine Führung und Haltung während dieser ganzen Zeit war einwandfrei, nur wollte er mit der Partei seiner Sicherheit halber nicht zusammenkommen. Im Herbst oder Ende des Jahres 1936 fuhr er nach Amerika.«
Über die Reise nach Brasilien war also zumindest ein Genosse informiert. Zugleich war Storchs Emigration gut vorbereitet und finanziell abgesichert: Er konnte die Fahrt in der Touristenklasse machen, mußte demnach Hin- und Rückfahrt bezahlen, hatte Kontakt zu einem Partner in Brasilien und beherrschte die Landessprache, da er gleich nach Ankunft »portug. Lehrbücher« zur Landwirtschaft las (Brief vom 10. Februar 1937). All das deutet darauf hin, daß er im Auftrag der Komintern, deren wichtigste Basis außerhalb der Sowjetunion die KPD war, nach Brasilien geschickt wurde. Jüngers Bemerkung, sein Reisegefährte sei »noch jetzt in undurchsichtige Vorgänge verquickt«, trifft die konspirative Konstellation.
SINN UND FORM 5/2013, S. 672-684