Reichert, Klaus
geb. 1938 in Fulda, Übersetzer und Lyriker, bis 2003 Professor für Anglistik in Frankfurt. Zuletzt erschienen »Wolkendienst. Figuren des Flüchtigen« (2016) und »Paul Celan. Erinnerungen und Briefe« (2020). (Stand 2/2020)
Siehe auch SINN UND FORM:
- 4/2010 | Adorno und das Radio
- 2/2019 | Vom Mitschreiben der vergehenden Zeit. Gedenkrede für Wilhelm Genazino
- 2/2020 | Lob des Verzettelns. Gespräch mit Thomas Sparr und Matthias Weichelt
Ludwig von Friedeburg zum Gedenken Wer als junger Mensch in den fünfziger Jahren anfing, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, dem boten sich (...)
LeseprobeReichert, Klaus
Adorno und das Radio
Ludwig von Friedeburg zum Gedenken
Wer als junger Mensch in den fünfziger Jahren anfing, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, dem boten sich dafür zwei sehr unterschiedliche Möglichkeiten: die Schule, obwohl damals noch ein reiner Paukbetrieb und für die Entwicklung geistiger Fähigkeiten eher hinderlich, und, andererseits, das Radio. Morgens Werner Bergengruen und Gertrud von le Fort, abends Gottfried Benn, Günter Eich, Ingeborg Bachmann und manchmal auch der von den Deutschen jener Jahre ungeliebte Thomas Mann, der das Gespräch zwischen Felix Krull und Professor Kuckuck im Zug nach Lissabon vortrug und dessen Schillerrede im Jubiläumsjahr 1955 übertragen wurde, von der mir noch im Ohr ist, wie der Autor die von der Schule heiliggesprochenen Dichtungen als »höheres Indianerspiel« charakterisierte.
Es gab im Radio aber auch neue Formen des Erkenntnisgewinns im Abend- oder Nachtstudio, im Radiogespräch, im Funkfeature. Wenn wir also morgens Formen des attischen Griechisch in Sätzen Platons eingetrichtert bekamen, konnten wir am Abend lernen, daß Denken, daß Philosophie und Gesellschaftstheorie, daß Bildung etwas mit uns selbst zu tun hatte und Orientierungshilfen anbot in einer unübersichtlichen, durchaus als fragwürdig empfundenen Wirklichkeit. Zumal die großen Debatten im Radio zeigten, daß die Akkumulation von Wissen oder der uns von den Lehrern vermittelte Dünkel, wer griechisch könne, sei ein besserer Mensch oder stehe unmittelbar mit dem Sein in Berührung, mit Bildung nicht das geringste zu tun hatten. So war das Radio der fünfziger Jahre eine Art Gegenschule, Gegenuniversität, die uns half, in den staatlichen Zwangsinstitutionen nicht zu verkümmern.
Die Stimme, die am häufigsten an den Abenden im Radio zu hören war, war die Stimme Theodor W. Adornos. Kein Gelehrter, kein Philosoph oder Soziologe, kein Intellektueller oder Schriftsteller hatte eine solche Präsenz. Michael Schwarz hat rund dreihundert Tonaufzeichnungen von Vorträgen und Gesprächen archiviert und ausgerechnet, daß, wenn man die Wiederholungen in den verschiedenen Rundfunkanstalten zusammenzählt, Adorno fast einmal pro Woche in irgendeinem Sender zu hören war. Sein Denken war durch seine Stimme viel weiter verbreitet als durch seine zunächst nur spärlich und in kleinen Auflagen erscheinenden Schriften, die zudem als schwierig, um nicht zu sagen als unlesbar galten. Die Stimme hatte eine ganz eigene Faszination, die Zigtausende von Hörern den auch im gesprochenen Wort keineswegs leicht verständlichen Gedankengängen folgen ließ. Sie hatte einen unverwechselbaren Duktus und Klang; schon nach zwei, drei Worten wußte der Hörer, wer sprach. Und sie war ganz anders als die vom Radio gewohnten Stimmen, die oft nicht zu wissen schienen, was sie da vorlasen, sich aber bisweilen bedeutungsvoll hoben oder senkten. Adornos Stimme dagegen ging gewissermaßen gradaus, in mittlerer Tonlage, mit nur minimalen Schwankungen nach oben oder unten. Er sprach in der Regel schnell, drängend, so als müßte – war der hypotaktische Satzbau auch kompliziert und durch viele Einschübe gegliedert – eine musikalische Periode durchmusiziert werden. Dieter Schnebel schrieb darüber: »Es läßt sich nichts festhalten, nichts be-halten, fixieren wie in der Musik.« Und Rudolf zur Lippe meinte, das Gefüge von Adornos Sprache entspreche »Beziehungsmodellen, die sich in der Musik geradezu notwendig herausgebildet haben. Diese entwickeln eine Logik des Ausdrucks und der Mittel, die in der Wortsprache für uns ungewohnt wirken, aber einer bestimmten Auffassung vom Verhältnis zwischen der Gedankenbewegung und ihren Momenten (…) entgegenkommt.« In eigentümlichem Gegensatz zum Fluß der Rede stand, daß sie nicht dahinglitt, daß sie die Wörter nicht verschliff, sondern daß jedes Wort gleichsam freigestellt wurde, mit einem winzigen Abstand zum nächsten, als habe ein jegliches ein Recht darauf, gehört zu werden. Wenn durch die Stimme ein Wort so wichtig wird wie das nächste, mag man das einen Hierarchieabbau der Sprache nennen, man kann aber auch sagen, die Stimme verwende Sprache wie musikalisches oder poetisches Material, im Sinne eines von Adorno gern zitierten Wortes von Schönberg, wonach jeder Ton gleichweit vom Mittelpunkt entfernt sei. Dieses Spannungsverhältnis scheint mir für die Stimme Adornos charakteristisch zu sein: der drängende Fluß der Rede, durch den manchmal, selten, der Gegenstand als ganzer aus dem Blick gerät und die Aufmerksamkeit auf jedes seiner Partikel gelenkt wird. Das macht es übrigens auch so schwer, das gesprochene Wort zu resümieren, so wie es später fast unmöglich war, seine Vorlesungen mitzuschreiben.
Man konnte freilich Adornos Redestil, irritiert von der Ungewöhnlichkeit seiner Sprechweise, auch ganz anders hören. Man nannte ihn manieriert und überartikuliert, fand die Aussprache bestimmter Laute – Kualität statt Qualität – lächerlich, mokierte sich über französisch betonte Wörter wie ›sitüation‹, ›décadence‹ ›rancune‹, was aber, wie ich mir habe sagen lassen, im alten Frankfurter Bürgertum üblich war, verhöhnte die eingestreuten Amerikanismen, worin sich zugleich ein Vorbehalt gegen die Reeducation-Programme der Amerikaner kundtat, ärgerte sich über die viel zu vielen Fremdwörter. Dem letzten Ärgernis hat sich Adorno in einem Vortrag 1958 im Hessischen Rundfunk eigens gestellt, »Wörter aus der Fremde«, in dem es heißt: »Versuche der Formulierung, die, um die gemeinte Sache genau zu treffen, gegen das übliche Sprachgeplätscher schwimmen, (…) erregen durch die Anstrengung, die sie zumuten, Wut. Der sprachlich Naive schreibt das Befremdende daran den Fremdwörtern zu, die er überall dort verantwortlich macht, wo er etwas nicht versteht, auch wo er die Wörter ganz gut kennt. Schließlich geht es vielfach um die Abwehr von Gedanken, die den Wörtern zugeschrieben werden: der Sack wird geschlagen, wo der Esel gemeint ist.« Genau das war wohl der Punkt: wo sich so trefflich spotten ließ, konnte man getrost zur Tagesordnung übergehen, die doch gerade zur Disposition gestellt wurde. Aber sollte man sich denn anhören, daß die Welt alles andere als wieder ›heil‹ war, daß in der Erziehung vieles schieflief, daß der große Verdrängungsmechanismus des Wirtschaftswunders vor allem den Warenfetischismus hervorbrachte? In einem Brief schrieb Adorno einmal von der »Schmutzflut, die sich über mich ergießt«. Die Hörerreaktionen und Besprechungen sind im Nachlaß gesammelt. Heute hätten sich Redakteure, Intendanten und Rundfunkräte wohl den Beschimpfungen der Hörer gebeugt und auf weitere Beiträge ihres Mitarbeiters verzichtet; es zeugt von der Unerschrockenheit der damals Verantwortlichen, die im Radio ein Instrument des kritischen Denkens, der Aufklärung und – nach einem Wort Adornos – der ›Erziehung nach Auschwitz‹ sahen, daß sie ihrem Autor die Treue hielten. Die Namen dieser Redakteure waren Alfred Andersch, Horst Krüger, Adolf Frisé, Roland H. Wiegenstein, Gerd Kadelbach. Viele heute weniger bekannte gehören noch dazu. Trotzdem muß gefragt werden, wie es dazu kam, daß ein schwieriger, gewiß nicht leicht übers Ohr faßlicher Denker ein Medienstar wurde und das eroberte, was man einmal seine Medienhoheit nannte.
Adorno hat früh, schon vor Hitler, die Bedeutung des Mediums Radio erkannt und wie sein Freund Walter Benjamin für den Südwestdeutschen Rundfunk, der seinen Sitz in Frankfurt hatte, gearbeitet. Als er im November 1938 auf Einladung von Max Horkheimer von Oxford nach New York an das dorthin übergesiedelte Institut für Sozialforschung kam, arbeitete er die Hälfte seiner Zeit, um sich zu finanzieren, am Princeton Radio Research Project, das der Wiener Soziologe Paul Lazarsfeld – er hatte 1937 eine große Untersuchung über Familien zur Zeit der Great Depression durchgeführt – leitete. Das Radio war in Amerika rasch ein ökonomischer Faktor geworden: besaßen 1922 zehntausend Familien einen Empfänger, gab es 1937 27 Millionen Geräte für 32 Millionen Familien. Gesendet wurde vorwiegend klassische Musik; der berühmte Dirigent Stokowski gab persönlich Anweisungen, wie man den Knopf am Gerät drehen mußte, um den bestmöglichen Empfang zu haben; der legendäre Bürgermeister von New York, LaGuardia, sprach Einführungen zu Beethovensendungen, ließ aber auch nach der von Adorno lancierten Übertragung des Oboenkonzerts von Stefan Wolpe die geplanten weiteren Sendungen mit neuer Musik unterbinden. Adorno hat später den Schock beschrieben, den er empfand, als er sich den Teams des Radio Project gegenübersah, die empirische Erhebungen zu Themen wie »Likes and Dislikes in Music« oder »Success or Failure of a Programme« veranstalteten, die sich auf Hörerbefragungen stützten und langfristig Auswahlkriterien für die Programme liefern sollten. Er war einerseits fasziniert von den für ihn neuen quantifizierenden Methoden zur Beschreibung von Massenkultur, andererseits bestürzt von deren Naivität bzw. davon, was die Empiriker unter evidence verstanden. Man kam nicht auf die Idee, die Reaktionsweisen selber als, wie er sich ausdrückte, »vermittelte« zu befragen, die zum Beispiel durch eine bestimmte Form der Fragestellungen oder durch die »Suggestionskraft des Apparats« gelenkt waren und in denen sich, in einem weiteren Schritt, gesellschaftliche Strukturen abbildeten. Das heißt, die Erhebungen standen letztlich im Dienst einer Vermarktung von Kultur und gaben Adorno das Stichwort für das, was er Kulturindustrie nannte. Er plante ein großes Buch über Radiotheorie, das »Current of Music« heißen sollte, zu dem er auch Hunderte von Seiten schrieb, das er aber nie in eine publizierbare Form brachte. Es gibt Projektanträge, Dossiers, Einzelanalysen und ausformulierte Sendungen zur Einführung in das musikalische Hören. So beeindruckt Adorno auch von den Möglichkeiten quantifizierender empirischer Forschung war – ohne sie hätte er ein paar Jahre später in Kalifornien seine extensiven Studien zur Authoritarian Personality gar nicht durchführen können –, es ging ihm in seinen Untersuchungen und Vorschlägen zur Musik im Radio immer auch um die Reflexion der kompositorischen Verfahrensweisen und der darin abgebildeten gesellschaftlichen Zusammenhänge. Er analysiert zum Beispiel, daß bei den vorhandenen tontechnischen Möglichkeiten eine Beethovensymphonie mit ihren weiten Registersprüngen radiophon gar nicht hörbar gemacht werden könnte, wohl aber Tschaikowsky, was für die Geschmacksbildung der Hörer natürlich Konsequenzen hatte. Er untersucht eine beliebte regelmäßige Sendung zur musikalischen Erziehung, »Music Appreciation Hour«, und zeigt, wie falsche Informationen, beliebig ausgewählte Beispiele, fragwürdige Wertungen und das, was er atomistisches Hören nennt – die berüchtigten schönen Stellen – musikalische Erziehung verhindern. Dagegen entwirft er einen eigenen musikpädagogischen Rundfunkkurs in zwölf Sendungen, der sein großes didaktisches Geschick zeigt, dem Laien musikalische Fragestellungen so vorzuführen, daß er ihre Entwicklung von Haydn über Schubert bis Schönberg verstehen kann. Der Text des »Entwurfs« ist einer der wenigen deutsch geschriebenen oder auf deutsch erhaltenen aus dem »Currentof-Music"-Projekt. Der folgende Auszug dokumentiert, daß der Emigrant sich um Klarheit und Verständlichkeit bemüht, ohne seine Haltung aufzugeben: »Es werden keine fertigen Werturteile übermittelt. Es soll insbesondere nicht für Musik geworben, Reklame gemacht, Wunderwerke und große Komponisten angepriesen werden, sondern eine Gruppe von Menschen, bei denen man einige musikalische Teilnahme voraussetzen kann, dazu gebracht werden, dann immer richtiger, bewußter und differenzierter zu hören. Anstelle der Überlieferung kritischer Clichés und eines staubigen Pantheons von Händel bis Sibelius soll wirkliche Unterscheidungsfähigkeit und ernsthafte, kritische Selbständigkeit treten. Diese macht auch vor großen Meistern keinen Halt und bringt die Hörer zum Bewußtsein, daß alles Ungelöste und Widerspruchsvolle der Realität in die Musik eingeht; daß diese kein Reich freischwebender Vollkommenheit ist. (…) Dies Urteil soll über bloßes Gefallen und Mißfallen hinausgehen. Es wird sich zeigen, daß Gefallen und Mißfallen weithin nur Rückstände vergangener Konventionen sind. Es wird sich weiter zeigen, daß der Begriff des An der Musik Spaß habens wirklicher musikalischer Erfahrung unangemessen ist. Der Begriff des Spaß habens ist nach dem Modell des commercial entertainment gebildet und von dorther auf ästhetische Gegenstände übertragen, denen er nicht angemessen ist.«
In ganz schlichten Worten – das kann er also auch – beschreibt Adorno, was immer schon seine Herangehensweise an Musik war. Zugleich stellte er sich als mutiger Hidalgo gegen die Kommerzialisierung von Musik und die Produktion von Geschmacksurteilen, in deren Dienst er doch gestellt war. Es verwundert nicht, daß sein Vertrag mit dem Radio Research Project nicht verlängert wurde. Aus dem riesigen Konvolut der Radioarbeiten erschienen zu seinen Lebzeiten nur wenige zu Aufsätzen umgearbeitete Stücke, »Social Critique of Radio Music«, »On Popular Music« mit einer Theorie der Standardisierung und kalkulierten Pseudo-Individualisierung des Jazz und des Schlagers sowie der berühmt gewordene Text über den »Fetischcharakter in der Musik und die Regression des Hörens«. Adorno hat aber auch darauf hingewiesen, daß seine Bücher über Wagner und die »Philosophie der neuen Musik« ohne seine Radioerfahrungen so nicht hätten geschrieben werden können, weil diese es ihm ermöglichten, die eigene, internalisierte europäische Kultur von außen, gleichsam als fremde zu sehen.
Durch seine Erfahrung mit dem Radio als Massenmedium zur Manipulation der Hörer, aber auch, wenn man das denn durfte, zu ihrer Aufklärung, Erziehung und kritischen Meinungsbildung, war Adorno für die Rolle, die er in der Bundesrepublik spielen sollte, bestens vorbereitet. In den kommerzialisierten Rundfunkanstalten Amerikas hätte er gewiß nicht die Sendungen machen können, für die er hierzulande berühmt wurde. Trotzdem bleibt die Frage, wie es dazu kam.
Horkheimer und Adorno kehrten 1949 aus dem Exil nach Frankfurt zurück. Es war Horkheimer, der sofort die alten Verbindungen zur Universität wieder aufnahm und ausbaute (wiewohl er an seine Frau schrieb, wie widerwärtig ihm die Zusammenarbeit mit den alten/neuen Kollegen war, von denen einer bereits 1930 das Institut als »kommunistisch« angezeigt hatte), der neue Verbindungen knüpfte zu den Politikern der Stadt, des Landes und des Bundes, zu den Rundfunkanstalten, zu den Redakteuren der von den Amerikanern finanzierten überregionalen Neuen Zeitung, zum Herausgeber der neugegründeten Frankfurter Rundschau, etwas später zur FAZ mit Karl Korn und Helene Rahms usw., ohne dabei seine Kontakte zu amerikanischen Kollegen und Institutionen zu vernachlässigen. Er baute also ein weitgespanntes Beziehungsnetz auf, denn er hatte in Amerika gelernt, daß für den, der wahrgenommen werden, der in die Öffentlichkeit hineinwirken, der Forschungsgelder akquirieren will, der Hörsaal allein nicht der rechte Ort ist. Horkheimer gelang es mit Hilfe der Gutachten amerikanischer Soziologen, darunter des berühmten Talcott Parsons, in kürzester Zeit Gelder für die Neugründung des Instituts und für den Wiederaufbau des Institutsgebäudes zu beschaffen. Er organisierte Pressekonferenzen mit handverlesenen Journalisten zu jeder halbwegs interessanten Veranstaltung des Instituts und sorgte so dafür, daß es in Presse und Funk auch überregional, bis in die Schweiz, wahrgenommen wurde. Ein wichtiger Schritt auf Horkheimers Weg zu einer deutschlandweiten Berühmtheit war seine Wahl zum Rektor der Universität, zumal der besonders kompromittierten Frankfurter! Sein Wirken als Rektor – unter anderem durch die Einrichtung von Austauschprogrammen mit Amerika – war so erfolgreich, daß er wiedergewählt wurde. Adorno entwarf ihm übrigens die Antrittsrede vom 20.November 1951 mit dem Titel »Zum Begriff der Vernunft«. Im Jahr darauf verfaßte er Horkheimers Vortrag vor der Deutschen Rektorenkonferenz, »Zum Problem des akademischen Unterrichts«, und zur Immatrikulation im Wintersemester eine Rede über den Begriff der Bildung. Weitere Redeentwürfe folgten.
Die überragende öffentliche Gestalt war in den frühen fünfziger Jahren Horkheimer, nicht Adorno, obwohl die propagandistischen Schachzüge und Selbstdarstellungen des Instituts in den Zeitungen und im Funk eher seine Handschrift tragen. Im Schatten seines Übervaters aber widmete er sich nicht nur dem Aufbau des Instituts unter Horkheimers Leitung, nahm nicht nur den Lehrbetrieb als Philosoph und Soziologe auf und betrieb nicht nur die Publikation seiner im Exil geschriebenen Bücher, sondern begann auch seine thematisch weitgespannte Vortragstätigkeit außerhalb der Universität. Bereits im Dezember 1949, unmittelbar nach der Rückkehr, hielt er an der Technischen Hochschule der fast total zerstörten Stadt Darmstadt einen Vortrag über »Städtebau und Gesellschaftsordnung«. Im Jahr darauf, bei den Darmstädter Gesprächen, die vom Hessischen Rundfunk übertragen wurden, stritt er mit dem Wiener Kunsthistoriker Hans Sedlmayr, dessen Generalabrechnung mit der modernen Kunst, »Verlust der Mitte«, in Deutschland begeisterte Zustimmung fand – man denke: 1950, wenige Jahre nach der Vertreibung der modernen Kunst aus Deutschland! Adorno sagte sinngemäß und, wie es seine Art war, konziliant: Sie haben völlig recht, die Kunst hat keine Mitte mehr, aber genau darum geht es ihr, darin liegt ihre historische und aktuelle Bedeutung. Im gleichen Jahr sprach er im RIAS Berlin über die Wissenssoziologie Karl Mannheims, die mit der seinen nichts zu tun hatte; im nächsten Jahr vor Marburger Studenten über »Die Aktualität der Soziologie«, also die des Instituts; im Jahr darauf, 1952, gab er »Anweisungen zum Hören neuer Musik« im Nordwestdeutschen Rundfunk. Im gleichen Jahr war er wieder als Diskutant zu hören, und zwar bei den damals vielbeachteten Kölner Mittwochsgesprächen des Kongresses für kulturelle Freiheit. Man sprach über »Die kulturelle und soziale Strukturveränderung im geeinten Deutschland«, als stünde die Vereinigung der Bundesrepublik mit der SBZ – es gab ja noch keine Westverträge und noch keine Bundeswehr – unmittelbar bevor. Ab 1954 war Adorno regelmäßiger Gast bei den Hessischen Hochschulwochen, bei denen er Themen wie »Zur Einführung in die neue Musik«, »Über das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft heute«, »Kultur und culture«, zur »Soziologie des Aberglaubens« und andere mehr behandelte. Kein Hochschullehrer jener Jahre durchreiste häufiger die Bundesrepublik zu Vorträgen, von denen er die meisten hinterher noch einmal im Radio vorlas, bevor sie in Zeitungen oder Zeitschriften veröffentlicht wurden, um dann ihren Weg in die Bücher zu finden. Er war immer, auch das hatte er wohl in Amerika gelernt, ein guter Marktstratege und Verwerter seiner Sachen. Der junge Siegfried Unseld, seit 1957 im Suhrkamp Verlag, hat in dieser Hinsicht sicher von ihm gelernt.
Ab 1950 war Adorno ständiger Gast und führender Kopf der Internationalen Ferienkurse für Neue Musik in Darmstadt. Diese Ferienkurse waren der weltweit einzige Treffpunkt, an dem die Avantgarde neuer und neuester Musik zusammenkam. Angeboten wurden Kurse zur Komposition und zur Interpretation älterer oder schon etablierter Komponisten wie Edgar Varèse und Stefan Wolpe oder Messiaen und John Cage, es kamen Interpreten wie Eduard Steuermann, der alle Klavierwerke Schönbergs uraufgeführt hatte, und Rudolf Kolisch, der Primarius des nach ihm benannten Quartetts, der die einschlägigen Werke der Zweiten Wiener Schule erstmals zu Gehör gebracht hatte. Adorno war der Theoretiker, der den jungen Musikern ästhetisch, philosophisch und soziologisch auseinandersetzte, was sie da taten – oder zu tun hätten –, denn er schärfte ihnen auch ein, daß hinter den erreichten Fortschritt der Musik im Umgang mit dem Material nicht zurückgegangen werden dürfe. Das hatte durchaus auch missionarische Züge, gegen die Jüngere, wie Luigi Nono, sich wandten.
Die im lokalen Rahmen der Ferienkurse gehaltenen Vorlesungen ergänzte Adorno in einer Art Parallelaktion durch Auftritte in der Öffentlichkeit oder im Radio. Er diskutierte 1954 im Hessischen Rundfunk über »Interpretation und neue Musik« mit Rudolf Kolisch, den er übrigens mit großem Engagement, aber ohne Erfolg aus dem Exil im Mittleren Westen Amerikas nach Deutschland zurückzuholen versuchte. Er erinnerte im Süddeutschen Rundfunk an Alban Berg – »Musik des zarten Riesen« – aus Anlaß seines zwanzigsten Todestags 1955. Er diskutierte mit Boris Blacher 1957 im Sender Freies Berlin »Fragen des gegenwärtigen Operntheaters«; er sprach mit dem klugen, kürzlich verstorbenen Heinz-Klaus Metzger, dem in diesen Jahren wohl wichtigsten Gesprächspartner in diesem Bereich, 1958 im Westdeutschen Rundfunk über »Jüngste Musik – Fortschritt oder Rückbildung«. Das war eine echte Kontroverse, denn Adorno hatte sich abschätzig über elektronische Musik – »Das Altern der Neuen Musik« – geäußert, und Metzger replizierte mit einem Artikel über »Das Altern der Philosophie der Neuen Musik«. Adorno hörte sich stundenlang diese Stücke im Studio für elektronische Musik in Köln an und sagte am Ende: »Ich habe mich geirrt.« Er diskutierte im gleichen Jahr wie mit Metzger, 1958, im WDR mit dem sehr jungen Karlheinz Stockhausen über die Frage »Ist das noch Musik? Eine alte Frage vor neuen Klängen«. Zwei Jahre später sprach er noch einmal mit Stockhausen im Hessischen Rundfunk über den »Widerstand gegen die neue Musik«. Das alles – es sind nur wenige Beispiele – fand in den fünfziger Jahren statt. Später unterhielt er sich dreimal mit Pierre Boulez im Norddeutschen Rundfunk über »Avantgarde und Metier«. Erwähnen möchte ich noch einen schlicht »Über Mahler« betitelten Vortrag, den er im Oktober 1958 im Radio Wien hielt. Die Namen der Komponisten, deren Bedeutung Adorno so nachdrücklich in Erinnerung brachte, waren noch in den fünfziger Jahren der damnatio memoriae verfallen. Selbst Mahler wurde nicht gespielt. Es gibt die Geschichte, daß Klemperer in den fünfziger Jahren mit den Wiener Philharmonikern Mahler zu probieren versuchte und es abbrach, weil sie technisch nicht dazu in der Lage waren, vielleicht auch, weil sie sich dagegen sträubten. Die Mahler-Renaissance setzte – ich glaube, das ist unstrittig – erst 1960 mit Adornos Mahler-Buch ein.
Es ist heute kaum mehr vorstellbar, wogegen Adorno alles anzuschreiben, anzudiskutieren hatte. Was wurde denn damals gespielt? Bach als Vertreter einer christlichen, »trotz allem« heilgebliebenen Welt, Beethoven, der unter den Händen Elly Neys zu einer Heiligenfigur verkam. Und sonst, als neue Musik, Carl Orff, Cesar Bresgen, Werner Egk, Harald Genzmer, Pfitzner und als äußerste Konzession an die Moderne ein bißchen Hindemith. Im übrigen war die Musikerziehung vergiftet durch die sogenannte Singbewegung, die, aus Wandervogel- und Jugendbewegung stammend, über die HJ bis in die Singwochen des Bärenreiterverlagskreises sich gehalten hatte. Das war die am weitesten verbreitete Musikerziehung der Jugend. Nie wieder hat sich Adorno vehementer geäußert als gegen diese perpetuierte, in der Bundesrepublik sanktionierte Ideologie. Wenn die Musikkultur dann in den sechziger Jahren offene Ohren für das Veränderte, das Neue bekam, so ist das vor allem dem Wirken Adornos und derer, die mit ihm diskutierten oder ihm zuhörten, zu verdanken. So steht auch die Musik und das Musikhören für Adorno im Zeichen der Aufklärung, der Veränderung des Bewußtseins, der Befreiung aus verkrusteten Strukturen.
Die Musik war freilich nur ein Bereich, zu dem er sich äußerte, wiewohl der, der ihm besonders am Herzen lag. Aber er hatte praktisch zu jedem Thema etwas zu sagen und wurde zum gefragtesten Deuter der Zeit. Der Soziologe Clemens Albrecht schrieb dazu: »Es war nicht die fachwissenschaftliche Kompetenz und es waren selten fachwissenschaftliche Fragen, sondern die besondere Kompetenz zur Deutung und Bewältigung der nationalsozialistischen Vergangenheit, die die meisten der Anfragen bestimmten und für die dann Soziologie, Psychologie und Philosophie einen geeigneten Antworthintergrund, die Legitimationsbasis boten.« Zu keinem Themenkreis aber hat sich Adorno häufiger geäußert als zu dem der Bildung, insbesondere der politischen Bildung. Was geschieht in den Köpfen der Menschen? Wie kommen sie zu ihren Urteilen? Hier konnte er auf seine großen, gemeinsam mit Horkheimer in Kalifornien gemachten empirischen Studien zum Vorurteil, besonders zum Antisemitismus zurückgreifen. »Kann Aufklärung helfen? Gesellschaft und Erwachsenenbildung« war 1956 das erste in einer langen Reihe berühmt gewordener Gespräche mit dem Bildungsforscher Hellmut Becker. (Der Jurist und Sohn des legendären preußischen Kultusministers Carl Heinrich Becker war als Hauptverteidiger von Ernst von Weizsäcker im Nürnberger Wilhelmstraßenprozeß bekannt geworden, bei dem er mit Hilfe des Radios und der Presse das Meinungsbild zu beeinflussen versuchte. Becker war ab 1956 Präsident des Deutschen Volkshochschulverbands und ab den sechziger Jahren Direktor des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung.) Adorno war, mit Horkheimer, der erste, der die Frage der Vergangenheitsbewältigung, wie das von ihm verwendete, aber auch kritisierte Wort hieß, zu einem öffentlichen Thema machte, Jahre vor dem Frankfurter Auschwitz-Prozeß, dem er durch seine Freundschaft mit dem Hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer vorgearbeitet hatte. »Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit?« hieß 1959 ein Vortrag vor dem Koordinierungsrat der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit, der danach vom Hessischen Rundfunk gesendet wurde. Die letzten Sätze der Rede lauten: »Aufgearbeitet wäre die Vergangenheit erst dann, wenn die Ursachen des Vergangenen beseitigt wären. Nur weil die Ursachen fortbestehen, ward sein Bann bis heute nicht gebrochen.« Die Ursachen aufzuklären und zu beseitigen, dazu brauchte es weniger historische Forschung – die gewiß langfristig auch – als vielmehr vor allem ein Umdenken in den Köpfen, also in der Erziehung. Adorno sprach noch nicht vom Bildungsnotstand, der dann ab den späten sechziger und in den siebziger Jahren beklagt wurde, er hatte überhaupt kein nostalgisches Verhältnis zur Bildung und ihren sogenannten verlorenen Gütern, die durch die jüngste Vergangenheit unwiederbringlich kompromittiert waren. Erziehung – gerade auch die aufkommende Erwachsenenbildung – konnte nicht so tun, als wäre nichts gewesen. Adorno erkannte in der herrschenden – immer noch herrschenden – »angeblich kultivierenden Erziehung barbarische Elemente, nämlich unterdrückende, repressive Momente, (die) in den der Kultur Ausgelieferten die Barbarei produzieren und reproduzieren«. Er sah aber auch die Schwierigkeiten, die der Forderung nach Aufklärung im Sinne eines Mündigwerdens entgegenstanden. In seinem letzten Gespräch mit Hellmut Becker, gesendet wenige Tage nach seinem Tod am 6.August 1969, sagte er: »Ob wir heute noch in derselben Weise sagen können, daß wir in einem Zeitalter der Aufklärung leben (wie Kant es von seinem Zeitalter gesagt hatte), ist angesichts des unbeschreiblichen Drucks, der auf die Menschen ausgeübt wird, einfach durch die Einrichtung der Welt und bereits durch die planmäßige Steuerung auch der gesamten Innensphäre durch die Kulturindustrie in einem allerweitesten Sinn sehr fragwürdig geworden (…) Und zwar ganz einfach aus dem Grund, weil nicht nur die Gesellschaft, wie sie ist, die Menschen unmündig hält, sondern weil bereits jeder ernsthafte Versuch, sie zur Mündigkeit zu bewegen (…), unbeschreiblichen Widerständen ausgesetzt ist, und weil alles Schlechte in der Welt sofort seine beredten Anwälte findet, die einem beweisen werden, daß gerade das, was man dabei will, schon längst überholt oder nicht mehr aktuell oder utopisch sei.« Hört man sich heute die ausführlichen Radiogespräche an, ist man erstaunt über ihre Aktualität, als läge nicht schon ein halbes Jahrhundert zwischen damals und heute. Viele der Analysen Adornos zur Kulturindustrie, zur Erziehung, zur politischen Bildung, zur »Ideologie in der Unbildung«, zur Mentalitätsstruktur des Vorurteils, zur von der Wirtschaft und den Medien geförderten Manipulierbarkeit der Menschen, ihrem Betrogenwerdenwollen, sind womöglich aktueller als damals, als hätte seine amerikanische Erfahrung ihn für einen Strukturwandel sensibilisiert, dessen Erscheinungsformen in Europa noch kaum geahnt wurden. Was er zum Beispiel über die Kontrollmechanismen an den Universitäten sagte, durch die das, was Forschung und Lehre unternehmen sollten, »kastriert und sterilisiert« wird, scheint direkt zu den Debatten über die unseligen Bachelor-Studiengänge zu gehören. Man könnte es ein eigenes Kapitel der Dialektik der Aufklärung nennen, daß der erste Analytiker und schärfste Kritiker der von ihm so genannten Kulturindustrie über das mächtigste Medium ebendieser Industrie gehört werden wollte, daß es ihm offenbar ein Vergnügen war – man kann es auch eine List der Vernunft nennen –, sich selbst zu vermarkten. Der Erfolg gab ihm recht. Was sind schon vierhundert Leute im Hörsaal gegen vierhunderttausend am Radio. Und welcher Intellektuelle konnte damals von sich sagen, daß er gefragt war? Adorno war viermal so oft im Radio zu hören wie Jaspers, Heidegger, Gadamer, Gehlen, Schelsky zusammen. Der Redakteur beim Hessischen Rundfunk, der die Gespräche mit Hellmut Becker angeregt hatte, Gerd Kadelbach, schrieb in seinen Erinnerungen: »Daß er auch und gerade über ein Medium der ›Kulturindustrie‹ verstanden wurde, war ihm erstaunlicherweise ungemein wichtig. Die Tontechnikerinnen, die für seine Aufnahmen eingeteilt wurden, mußten danach in freier Rede und mit ihren eigenen Worten wiedergeben, was er gesagt hatte, und oft entspann sich daraus eine Diskussion, die weit besser und faßlicher war als der Vortrag, den er eben vor dem Mikrophon gehalten hatte.«
Adornos Rede hatte eine geradezu schneidende Präsenz, eine Geistesgegenwart – »eine beklemmende Geistesgegenwart«, wie Joachim Kaiser das nannte –, die ihn auch bei entlegensten Fragen nie mit der Antwort zögern ließ. Er hatte alles parat, schien alles schon vorbedacht zu haben. Doch kam es wie spontan, auseinandersetzend, also kritisch, nie belehrend, nie von der hohen Warte des Katheders herab. In gleichmäßigem Duktus redend – ›weder erhebliche Unterschiede der Tempi noch solche der Lautstärke‹ (Dieter Schnebel), – dozierte er nicht, er formulierte. Das war die Anstrengung hinter den Gedanken, die man vielleicht daran merkte, daß, ganz selten, die Konzentration sekundenlang nachließ und er in seine Frankfurter Mundart verfiel, die er allerdings gelegentlich auch durchaus strategisch einsetzte. (Von hessischen Philosophiestudenten sagte er in einem Vortrag, sie sprächen den Namen des berühmtesten englischen Staatsphilosophen so aus wie das Wort für ›etwas‹, das in ihrer Sprache ›ebbes‹ hieß.)
Wer Adorno kannte, weiß, wie leise, wie behutsam, wie verloren er sprechen konnte, wenn er über Menschen oder Kunstwerke redete, die ihm etwas bedeuteten, oder wenn er sich an etwas erinnerte. Nur ein einziges Mal ist im Radio etwas davon zu spüren. In dem bewegenden Gespräch mit Erika Mann über beider Rückkehr nach Europa erwähnt er, wieder in Deutschland, den ersten Rehbraten, den Geschmack der Rahmsoße, die er wie eine Wiederherstellung eines verlorenen Lebens empfand (in Amerika hatte jeder Rehbraten wie vom Freischütz geschossen, wie Oper und Kulisse geschmeckt), spricht er von den Dingen, die noch ihre eigenen Namen haben, sie selber sind, nicht für anderes stehen, spricht von seinem ersten Besuch in Paris vor der Rückkehr nach Frankfurt: er geht spät abends durch alte, enge, gepflasterte Straßen zu seinem Hotel und hört das Echo der eigenen Schritte, das er in den Jahren der Emigration nie gehört hatte. Da wußte er, daß er wieder in Europa war, und als erste Erinnerung verbanden sich mit diesem Echo die Kindertage in Amorbach. Heimkehr über einen Klang, leise gesprochen.
SINN UND FORM 4/2010, S. 454-465
MATTHIAS WEICHELT: In einem Gespräch über Ihr »Wolken«-Buch haben Sie gesagt: »Bei mir hat das so ungefähr mit sieben Jahren angefangen, bis (...)
LeseprobeReichert, Klaus
Lob des Verzettelns.
Gespräch mit Thomas Sparr und Matthias Weichelt
MATTHIAS WEICHELT: In einem Gespräch über Ihr »Wolken«-Buch haben Sie gesagt: »Bei mir hat das so ungefähr mit sieben Jahren angefangen, bis dahin hatte ich am Himmel eben immer nur Flugzeuge gesehen und auf einmal, nach der Zerstörung unserer Städte, lag ich auf der Wiese und sah zum ersten Mal echte Wolken am Himmel. Ich habe damals angefangen Wolken zu beschreiben, das war so schön, ich mußte es aufschreiben. Seitdem versuche ich Wolken zu beschreiben und merke, es geht nicht, es ist zu schwer.« Was mich an diesem Zitat interessiert, ist die mit Kriegsende plötzlich eintretende Veränderung des Blicks. Nachdem der Himmel so lange für Gefahren stand, für fliegende Angriffsmaschinen, sieht man nun, was da noch alles ist. Ist Ihnen diese Situation noch gegenwärtig?
KLAUS REICHERT: Sie ist mir noch sehr präsent, in diesem Alter nimmt man so etwas ja schon ziemlich deutlich wahr. Man sah auch die abgeschossenen Flugzeuge, eines stürzte in unseren Garten, darin lag ein toter Engländer. Der Vollalarm kam abends, wenn es dunkel wurde, gegen sieben. Gießen hatte einen großen Fliegerhorst und viel Schwerindustrie und war ein wichtiger Eisenbahnknotenpunkt. Insofern war das ein idealer Ort zum Bombardieren. Die totale Auslöschung der Stadt geschah am Nikolaustag 1944. Die Wochen davor habe ich immer im Keller statt im Bett verbracht. Ich hatte ein kleines Köfferchen mit ein paar Büchern dabei, wie »Grimms Märchen« mit Illustrationen von Otto Ubbelohde. Der Himmel bestand für mich in dieser Zeit aus unglaublichem Radau, aus ständigem Rasseln. Es gab ja damals diese Sammelbüchsen, fürs Winterhilfswerk und anderes. Mir kam es so vor, als wäre da oben eine gigantische Sammelbüchse, so hat das gescheppert. Und als dann alles abgebrannt war, wohnten wir in einem Dorf, waren bei Bauern einquartiert, bis ich sieben war, im Mai 45. Vor dem Dorf gab es eine ruhige Blumenwiese, ohne Geräusche. Ich habe mich ins Gras gelegt und diese stille Wolke gesehen, die sich kaum bewegt hat, eine wunderbare, perfekte Cumuluswolke, wie ich sie nur aus Märchen- oder Kinderbüchern kannte. Das war ein großes Erlebnis für mich. Und dann habe ich mich am Abend hingesetzt und mit meiner steilen Kinderschrift aufgeschrieben, was ich gesehen hatte. Dann habe ich es noch einmal durchgelesen und gemerkt, das war nicht meine Wolke, das hatte gar nichts mit ihr zu tun.
WEICHELT: Die Wolke war für Sie damit ja auch ein Bild für den Frieden. REICHERT: Ja, vor allem durch diese Stille und dieses Weiß. Und dann dieses Angstlose, das auf einmal da war. Dann kamen die schwarzen Soldaten, die fand ich natürlich toll, die waren kinderlieb und schenkten einem Kaugummi und brachten einem den amerikanischen Ausdruck dafür bei, den ich mir als »Schwing-Gum« übersetzt habe. Chewing Gum, das habe ich nicht verstanden, aber Schwing und Gum, darunter konnte ich mir was vorstellen. Als ich ein bißchen älter war, habe ich auch gehandelt, mit Rheinwein für Zigaretten und Schokolade, Nescafé, Orangen. Das war ziemlich abenteuerlich.
WEICHELT: Haben Sie damals auch die Nervosität der Erwachsenen wahrgenommen, als das Ende des Krieges näherkam?
REICHERT: Ich erinnere mich genau an die Nacht der Ausbombung. Wir wohnten mit den Großeltern im zweiten Stock, dann kam ein großer Hof, dann Lagerräume und dahinter das große Verlagsgebäude meines Großvaters, der den Großherzoglich- Darmstädtischen Schulbuch-Verlag in vierter, fünfter Generation führte. Hier wurden für alle Schulklassen die Schulbücher hergestellt, auch das Lager war im Haus. Das brannte alles lichterloh. Mein Vater war im Krieg Nachrichtenmann, Entschlüsseler, seine Einheit kam aus Paris und war in der Nähe von Gießen stationiert, auf dem Vetzberg neben dem Gleiberg. Von dort aus sah er den Brand. Er fuhr sofort mit dem Fahrrad runter und hat mitgeholfen, Sachen aus dem Haus zu retten. Man konnte nicht mehr viel machen, es waren Sprengbomben gewesen. Und die geretteten Sachen auf dem Hof gingen durch Funkenflug in Flammen auf, da mußte man wieder löschen. Hinter dem Haus hatte mein Großvater einen riesigen Garten, einen Park im Grunde, und dahinter begannen Gänsewiesen, über die sind wir dann mit einem ganzen Treck von Leuten gezogen, darunter eine Tante von mir mit ihrem vier Monate alten Kind. Alle sind geflüchtet aus dieser Stadt, die zu neunzig Prozent zerstört war. Über die Wiesen ging es für uns ins nächste Dorf, wo unser Packer wohnte, den ich sehr geliebt habe, weil er mir Spielzeug gebastelt hat. Ich habe das alles eher mit verwunderten Kinderaugen gesehen. Und gar nicht richtig wahrgenommen, daß es alle meine Spielsachen nicht mehr gab. Ich war ein großer Soldatenspieler, hatte diese kleinen Plastilin-Soldaten, ganze Armeen, Marine, Luftwaffe, auch einen Hitler und einen Göring. Es war keine Trauer, nur Verwunderung darüber, daß die so vertraute Stadt auf einmal nur noch aus Schornsteinen bestand, feuerfest gemauerten Schornsteinen, die in die Luft ragten, und drumherum rauchende Trümmerhaufen. Dann ist meine Mutter mit mir in ein anderes Dorf gekommen, in diesem strengen Winter 44 / 45. Wir sind jeden Morgen die sieben Kilometer nach Gießen gelaufen, wo die Großeltern im Keller hausten und noch ein bißchen was zu essen hatten. Das war ein komisches Gefühl, weil es damals noch Tiefflieger gab und meine Mutter und ich mit unseren schwarzen Mänteln natürlich wunderbare Ziele abgaben … Das habe ich noch im Ohr, dieses Zischen der Kugeln, die um unsere Ohren pfiffen. Wir konnten uns nicht richtig verstecken, weil alles weiß war. Am Abend sind wir die sieben Kilometer wieder zurück. Wir lebten bei einer Bauernfamilie, die genug zu essen hatte, mußten mit am Tisch sitzen und hatten natürlich selbst nichts. Die Bauern hatten drei Buben, einer so alt wie ich, die anderen beiden älter, die haben riesige Koteletts bekommen. Der Kleine konnte seines nicht aufessen, und da sagte die Bäuerin zu meiner Mutter: »Wolle Se’s huuh, sonst gewwe mer’s der Katz«. Und meine Mutter hat gesagt, nein, vielen Dank. Das bißchen, was man gerettet hatte, haben einem die Bauern damals abgenommen gegen ein paar Kartoffeln …
WEICHELT: Hat in dieser Zeit auch schon Ihr Interesse an der Literatur begonnen?
REICHERT: Ja, das hat sehr früh angefangen. Meine Eltern, meine Großmutter und meine Tante haben mir von früh an vorgelesen, die »Grimmschen Märchen« immer wieder, mit den wunderbaren Zeichnungen von Ubbelohde, der ja aus der Marburger Gegend kam. Seine Märchengestalten waren mir alle vertraut vom Gießener Wochenmarkt mit den Bauersfrauen in hessischen Trachten, die dort Obst und Gemüse verkauften.
WEICHELT: Das Personal dieser Märchen war für Sie also keine bloß imaginäre, sondern eine reale und lebendige Welt.
REICHERT: Ja, sehr lebendig. Das Rotkäppchen sah aus wie meine Klassenkameradinnen, mit einem roten oder andersfarbigen Häubchen, wie auf den Zeichnungen von Ubbelohde. Die Marktfrauen hatten einen Knerz wie die Hexen. Ich habe auch ganz früh Kinderausgaben des »Robinson Crusoe« gehabt und bin überhaupt in einer Buchwelt aufgewachsen. Die ganze Familie hat gelesen, es gab ja noch kein Fernsehen. Auch mein erstes Kinoerlebnis war ganz wunderbar. Als mein Vater aus dem Krieg zurückkam, 1946, gab er amerikanischen Offiziersfrauen Deutschunterricht. Und die backten mir zum Geburtstag eine Torte und schenkten mir Comic-Hefte. Oder sie unterstützten meinen Vater, der mit eigenen Händen ein Haus auf dem Grundstück seiner Eltern baute. Einmal sagte eine dieser Amerikanerinnen zu ihm, er sehe so traurig aus, ob sie ihm irgendwie helfen könne? Und er meinte, er bräuchte sieben Pfund Kaffee, um den Dachstuhl und die Ziegel zu bekommen. Und zwei Stangen Zigaretten für die Klosettschüssel. Das haben sie ihm dann gegeben. Eine ganz unglaubliche Großzügigkeit. Einige hatten Kinder, mit denen durfte ich spielen und die luden mich auch zu sich ein. Ich werde nie vergessen, wie einer dieser Buben, etwa mein Alter, Geburtstag hatte und zwanzig Ami-Kinder eingeladen wurden und ich auch. Ich verstand natürlich kein Wort außer Schwing-Gum, aber ich durfte mitgehen in das einzige Kino in Gießen, das nur für die Alliierten da war und für diesen Kindergeburtstag geöffnet wurde. Wir haben »Goldrausch« von Chaplin gesehen, mein allererster Film. Heute noch geht mir das Herz auf, wenn ich an diesen Film denke und an die Umstände, unter denen ich ihn sah.
THOMAS SPARR: Das ist eine schöne Doppelgeschichte. Das Kriegsende lehrte Sie, die Wolken zu sehen, und brachte Sie mit dem Englischen zusammen. Sie sind auch deshalb Anglist?
REICHERT: Nein, ich bin eher Anglist geworden aus Protest gegen ein autoritäres Gymnasium, wo man nur Latein und Griechisch gepaukt, aber nicht gelernt hat, wie man diese wunderbare Literatur hätte verstehen können. Der Unterricht bestand nur aus grammatischen Beispielen, es ging um attische Formen, um dorische und so weiter. Es ging nie um Literatur, immer nur um Grammatik. Dagegen war für mich die deutsche, aber auch die englische Literatur etwas Lebendiges, das konnte ich verstehen. Die englischen Sachen konnte ich natürlich nicht im Original lesen, aber es gab in dieser kurzen Spanne vom Kriegsende bis zur Gründung der Bundesrepublik unglaublich viele Literaturzeitschriften. Und mein Vater hatte fast alle abonniert. Die »Story«, herausgegeben von Heinrich Ledig in Stuttgart, mit einer monatlichen Auflage von fünfzigtausend Exemplaren, zum Preis von einer Reichsmark. Dann gab es »Die Erzählung« aus Konstanz und »Das Karussell«, das Arnold Bode in Kassel machte, der später die Documenta gründete. Da standen in ein- und demselben Heft Manfred Hausmann, der ja ein Nazi-Autor war, und ein völlig unbekannter junger Schriftsteller namens Heinrich Böll. Dann gab es Willi Weismann in München mit der Zeitschrift »Die Fähre«. Da habe ich zum Beispiel einen Text auf deutsch gelesen, bei dem ich überhaupt nichts verstand und dachte, das muß was Besonderes sein, wenn du das nicht verstehst. Das war ein Auszug der »Anna-Livia"-Übersetzung aus »Finnegans Wake«, die Goyert 1933 auf Wunsch von Joyce gemacht hatte und dann aber nicht mehr erscheinen durfte. Damit begann meine Faszination für Joyce. Und dann gab es auch noch »Das goldene Tor«, das Döblin in Mainz herausgab. Das war die einzige Zeitschrift, die nicht nur schöne Literatur machte, sondern auch politisch erziehen wollte. Dort las ich zum Beispiel einen großen Aufsatz von Ludwig Marcuse über die Geschichte der nicht gebauten Heinrich-Heine-Denkmäler in Deutschland. Diese Zeitschriften waren ein Segen.
SINN UND FORM 2/2020, S.230-243, hier S. 230-233