Röckel, Susanne
geb. 1953 in Darmstadt, Schriftstellerin und Autorin, lebt in München. Zuletzt erschienen ihr Roman »Der Vogelgott« (2018) und »Kentauren im Stadtpark. Drei Erzählungen« (2019). (Stand 1/2025)
Siehe auch SINN UND FORM:
- 4/2019 | Unheimliche Natur. Stifter und das Anthropozän
- 4/2023 | Drei Bilder aus Vilnius
- 1/2025 | Die Erniedrigung des Rebhuhns
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2. Paneriai
Die Fahrt dauert acht Minuten und kostet hin und zurück 1,76 Euro. Man sitzt in einem warmen, bequemen Zug und wenn man (...)
Röckel, Susanne
Drei Bilder aus Vilnius
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2. Paneriai
Die Fahrt dauert acht Minuten und kostet hin und zurück 1,76 Euro. Man sitzt in einem warmen, bequemen Zug und wenn man aussteigt, ist man in einem durchschnittlich häßlichen Vorort mit Wohnblock aus der Sowjetzeit; Einfamilienhäusern, Gemüsegarten und Supermarkt. Es gibt ein Schild: Paneriu˛ Memorialas mit einem Pfeil, dem ich vertrauensvoll folge. Der Weg führt in den Wald. Bald ist er nicht mehr geteert. Die Hauser sind alt und aus Holz. Zwei Betrunkene gehen schwankend vor mir her und verschwinden hinter einem rostigen Tor. Auf einer Veranda sind Unterhosen zum Trocknen aufgehängt. Hundegebell ist zu hören. Habe ich mich verirrt? Ich suche jemanden, der mir Auskunft geben kann, aber alles ist wie ausgestorben. Zwischen den Kiefern steht ein halbgebautes Haus. Ein Mann sägt Dämmstoff. Ich spreche ihn an, frage ihn nach dem Weg zur Gedenkstatte. Er ist jung und blond und hat nur noch wenige Zähne im Mund. Gedenkstätte? Er weiß nichts davon. Er deutet in Richtung Bahnhof und kommentiert mit freundlichem Lacheln: »Maybe! Maybe!«
Also trotte ich zurück. Dann setzt mein Atem aus: Zwei große Hunde fangen plötzlich neben mir zu bellen an, springen an einem nicht sehr verläßlich aussehenden Gitterzaun hoch. Was für ein Ort ist das? Wo bin ich? In der Ferne ein Mann, der in ein Auto einsteigt. Ich renne hin, gestikuliere schwitzend und atemlos, zeige ihm das Wort »Gedenkstätte« auf dem Handy. Endlich versteht er. Er bedeutet mir einzusteigen und fährt mich schweigend eine kurze Strecke bis zu einem leeren Parkplatz. Ich bin am Ziel. Gepflasterter Eingangsbereich im lichten Kiefernwald, schwarzer, beschrifteter Marmor, Hinweistafeln in vier Sprachen, ziemlich verwittert, ein geteerter Weg, gesäumt von grünspanüberzogenen Laternen. In einer großen, unregelmäßigen Schlaufe mit neunzehn Haltepunkten zieht sich der Weg durch die Anlage. Ich habe das seltsame Gefühl, in eine Abgeschiedenheit einzutreten, die mit jedem Schritt tiefer und undurchdringlicher wird. Vielleicht nur deshalb, weil ich zu dieser Stunde die einzige Besucherin bin.
Zur Geschichte der Gedenkstatte gehört, als deren oberste Schicht, die Geschichte der hier aufgestellten Denkmaler. Aus ihr ist zu erfahren, daß auch die vermeintlich eindeutigsten Tatsachen der politischen Bewertung unterliegen und geschichtliche Wahrheiten nicht zu trennen sind von Standpunkten und Perspektiven. Nachdem die Sowjets das 1948 von Überlebenden errichtete Mahnmal für die hier ermordeten Juden abgebaut hatten, setzten sie an derselben Stelle einen mit dem roten Stern gekrönten schwarzen Obelisken, der die Inschrift »Zum Gedenken an die Opfer des Faschismus« trug. (Er steht heute noch, etwas abseits vom Weg.) Wenige Jahre später wurde ein weiterer Gedenkstein aus schwarzem Marmor errichtet, russisch und litauisch beschriftet, für die »mehr als hunderttausend sowjetischen Burger, die in Paneriai erschossen wurden«. Erst 1989, auf Initiative der litauischen Jüdischen Gemeinde, wurde dieser Stein durch einen Granitblock erweitert, auf dem in Hebräisch, Jiddisch, Litauisch und Russisch steht, das sich unter den »im Wald von Paneriai Getöteten siebzigtausend Juden befanden: Männer, Frauen und Kinder«. 2004 wurde der ursprüngliche Text des Gedenksteins mit einer Marmorplakette verdeckt, auf der nicht mehr von sowjetischen Bürgern, sondern von »hunderttausend in Paneriai getöteten Menschen« die Rede ist. Das heute zentrale Denkmal für die an diesem Ort ermordeten Juden wurde 1991 von den litauischen Jüdischen Gemeinden zusammen mit den litauischen Juden in Israel und der Republik Litauen errichtet. Auf der Vorderseite des aus grauen Steinblöcken zusammengesetzten Monuments ist die Menora zu sehen, darüber eine Inschrift mit hebräischen Buchstaben und der Davidstern. Auf der Rückseite Inschriften in Litauisch, Russisch und Englisch und die eingravierte abstrahierte Zeichnung einer menschlichen Figur mit erhobenen Armen. Die englische Inschrift lautet: »Eternal Memory of 70 000 Jews of Vilnius and its environs who were murdered and burnt here, in Paneriai, by Nazi executioners and their accomplices«. Hier liegen Kränze, hier liegen zahllose beschriftete Steine, die Besucher als Erinnerungszeichen hinterlassen haben. Nach und nach sind weitere Mahnmale dazugekommen: für die polnischen und litauischen Opfer, für einzelne jüdische Opfergruppen. Für die etwa hundert Opfer der Roma gibt es nicht mehr als einen sehr kleinen, schon halb im Boden versunkenen »symbolischen« Steinkreis. Auch ein seltsam asymmetrisches, an ein im Boden feststeckendes Geschoß erinnerndes Museum gibt es, in dem, laut meinem Reiseführer, »persönliche Gegenstände« zu besichtigen sind, es ist aber geschlossen, und zwei weithin stinkende Dixi-Klos.
Arunas Bubnys, der Leiter des litauischen »Genozid- und Widerstandsforschungszentrums«, sagte mir einige Tage vor meinem Besuch in Paneriai, er bemühe sich seit Jahren darum, genug Geld zusammenzubringen, damit man dort endlich ein großes Museum bauen könne. Bis jetzt sei so etwas noch nicht in Sicht. Der »vorherrschende historische Diskurs« konzentriere sich nach wie vor auf die Verbrechen der Stalinzeit. Da es fast keine Familie gebe, die nicht in irgendeiner Weise davon betroffen war, da sich überdies durch die jüngsten Ereignisse zeige, daß die Gefahr einer Wiederholung der schlimmsten Erfahrungen seiner Generation keineswegs gebannt sei, halt er die gründliche Aufarbeitung dieser Zeit für dringend nötig. Doch es bleibe schmerzlich, sagt Bubnys, daß die Forschung zu den Geschehnissen während der deutschen Besatzung nur über unzureichende Mittel verfüge. Die Aufgabe, besser und umfassender über diese Zeit aufzuklären, dürfe nicht vernachlässigt werden. Also ein großes Museum in Paneriai – Vitrinen, Schautafeln, Videos, Führungen, ein Souvenirshop, ein gemütliches Cafe – statt diesem karg und provisorisch ausgestatteten, abgelegenen Ort im Wald?
Auf meinem Weg über das Gelände, dessen Einschnitte und Erhebungen im wesentlichen noch so aussehen, wie sie die Russen 1944 vorfanden, begleitet mich durchdringender industrieller Lärm. Woher er stammt – Güterbahnhof? Autobahn? –, kann ich nicht sagen, aber im Lauf meines Rundgangs nehme ich ihn immer wieder mit Erleichterung wahr. Denn er verschwindet hinter den mehr oder weniger hohen Wällen, auf denen die Wachen standen. Sobald man unten ist, am Rand der Gruben, hört man nichts mehr von der Außenwelt. Man ist der Stille ausgesetzt. Der Boden der Gruben, zwanzig oder dreißig Meter im Durchmesser, ist mit Rasen bedeckt, die Ränder sind mit grauen Steinen markiert. Die Menschen mußten sich ausziehen und wurden durch schmale Rinnen gruppenweise hergetrieben. Von den deutschen Einsatzgruppen befehligt, erschossen die Mitglieder der litauischen Hilfspolizei im Abstand von ca. fünf Metern einen nach dem anderen. Dann wurde die nächste Gruppe an den Rand geführt, die Prozedur begann von neuem, mit einer Durchschnittsrate von hundert getöteten Individuen pro Stunde. Geraubte Kleider und Habseligkeiten wuchsen zu Bergen an. Die Gruben füllten sich mit Leichen. Kinder schrien. Sterbende röchelten. Die Schießenden bekamen Schnaps.
Eine der Gruben hat zementierte Ränder. Das war der »Bunker«. Hier wurden die 76 »Brenner« gefangengehalten, die, in Ketten gelegt und von SS-Männern bewacht, zwischen 1943 und 1944 die Aufgabe hatten, die Spuren der Massaker zu verwischen. In der Mitte steht eine Nachbildung der schmalen hölzernen Rampe, die benutzt wurde, um die aus mehreren Schichten bestehenden Leichenpyramiden zu bauen, mit Maschinenöl zu übergießen und in Brand zu setzen. Am 15. April 1944 machten diese ausgelaugten und zertretenen, doch todesmutigen Sklaven einen Ausbruchsversuch, in dessen Verlauf fast alle von ihnen von den Deutschen aufgespürt und erschossen wurden. Grüner Rasen, mit Kiefernnadeln und welken Blattern bedeckt. Nichts mehr zu sehen von den hölzernen Umzäunungen, hinter denen Männer, Frauen, Kinder, Greise ausharren mußten, bevor man sie zu den Erschießungsgruben trieb. Nichts mehr von den Feuern und ihrem schwarzen Rauch. Nichts mehr von dem unterirdischen Gang, den die Insassen des ≫Bunkers≪ mit Löffeln und mit Fingernageln in die kalte Erde bohrten. Nichts mehr von Minen und Stacheldraht. Und nichts mehr zu hören von all dem. Keine Schreie mehr, keine gebrüllten Befehle, kein betrunkenes Gelächter, kein Hundegebell, kein Weinen, kein Beten, nichts mehr vom ohrenbetäubenden Knallen der Schüsse, nichts vom dumpfen Geräusch der Schläge mit Fäusten, mit Stöcken, mit Gewehrkolben – nichts. Stille – und darin meine verworrenen Gedanken, meine vagen, beklommenen Gefühle. Ich versuche festzuhalten, was mich bewegt: Mir ist kalt. Ich will nicht hier sein. Ich will nicht wissen, was hier geschah!
Tima Kats, eine Lehrerin aus Vilnius, der 1941 zusammen mit fünf oder sechs weiteren Frauen die Flucht aus einer der Gruben gelang, schreibt: »Wir kamen [nach der Fahrt vom Lukišk ˙es-Gefängnis auf einem Lastwagen] in eine hügelige, bewaldete Gegend, wo wir uns müde und voller Schrecken auf den sandigen Boden legten. Aus nächster Nähe waren Gewehrsalven zu hören. Aber selbst jetzt konnte sich keiner von uns vorstellen, was hier wirklich geschah.« Auch ich kann es mir nicht vorstellen. Vielleicht ist überhaupt kein einzelnes Gehirn in der Lage, es sich vorzustellen. Wirken die Höllenbilder, die Hieronymus Bosch sich ausdachte, gegen das hier nicht geradezu putzig? Und wer käme darauf, die gelehrten und eleganten Verse Dantes auf das Inferno anzuwenden, das hier Realität geworden ist? »Meister der Hölle, willst du ein Weilchen die Höllen tauschen?« fragt Avrom Sutzkever herausfordernd-sarkastisch in seiner »Ode an die Taube« (aus den »Gesängen vom Meer des Todes«) und fährt im selben Ton fort: »Ich spaziere in deinen, und du in den wirklichen Feuern …« Muß angesichts dieser »wirklichen Feuer« nicht jeder Versuch der Bebilderung scheitern? Wäre ein noch so wohlmeinendes modernes, staatlich finanziertes Museum nicht im Grunde eine Maßnahme der Einhegung und damit der Verkleinerung des Grauens? Andererseits: Gehören nicht Bilder, Kommentare, Erklärungsversuche zu den notwendigen Mitteln, um jene Vergangenheit aufzubewahren, die, von gegenwärtigen Konstellationen überdeckt, immer wieder in Vergessenheit zu geraten droht? Nicht Monster, sondern gewöhnliche Menschen haben diese Vergangenheit hergestellt. Nicht Monster, nicht perverse Sadisten, sondern gewöhnliche Menschen – meine Landsleute – sind fähig gewesen, anderen Menschen die Hölle zu bereiten. Würde mit dem Verlorengehen dieser Einsicht nicht auch die grundlegende zivilisatorische Wachsamkeit an den Grenzen von Moral und Recht erlahmen?
So oder ähnlich lauten meine Gedanken, während ich dem Weg der Gedenkstätte folge, diesem glatten, sauberen, fürsorglichen Weg, der zu den Stätten der Hölle führt – aber schließlich auch wieder zurück. Ich schlendere dahin, als wäre ich auf einem unschuldigen herbstlichen Spaziergang, auf diesem Weg, der doch keinen Zentimeter weit unschuldig ist. Und dann bin ich wieder draußen und gehe, an den Holzhäusern vorbei, an den Gemüsegarten vorbei, an den Gleisen entlang zum Bahnhof zurück. Noch einmal drehe ich mich um und bekomme Angst: Ein großer Hund, von irgendwoher gekommen, läuft mir nach. Noch einmal steht alles auf, was ich über Paneriai gelesen und was ich hier gesehen habe, und es ist, als berührte mich die geisterhafte Hand jener Wirklichkeit – dann aber ist der herannahende Zug zu hören, der mich zurückbringen wird nach Vilnius, der Hund ist weg und ich gehöre wieder ganz der Gegenwart. Am Ende des Gesprächs mit Arunas Bubnys frage ich ihn, ob es in letzter Zeit Aktivitäten rechtsextremer Gruppierungen gegeben habe, die er als gefährlich einschätzen wurde. Er verneint. Allerdings seien die Mahnmale in Paneriai vor kurzem mit Graffiti geschändet worden. Nicht mit Hakenkreuzen, sondern mit einem neuen Symbol, einem einzigen, schnell hingepinselten Buchstaben: Z. (…)
SINN UND FORM 4/2023, S. 466-477, hier S. 470-474
Daedalus, der große Baumeister und hochgerühmte Künstler, Architekt des Labyrinths und Erfinder des ersten Flugapparats der Welt, Schutzpatron (...)
LeseprobeRöckel, Susanne
Die Erniedrigung des Rebhuhns
Daedalus, der große Baumeister und hochgerühmte Künstler, Architekt des Labyrinths und Erfinder des ersten Flugapparats der Welt, Schutzpatron aller Handwerker und Kunstschaffenden des Altertums – auch Sokrates, der wie sein Vater als Steinmetz arbeitete, betrachtete ihn als seinen Ahnherrn –, dieser gefeierte Meister wird zum gemeinen Verbrecher, als er seine prestigeträchtige Stellung in Athen bedroht sieht. Konkurrenz droht Daedalus von weiblicher, nämlich schwesterlicher Seite. Die Schwester, Perdix, von der uns nichts weiter bekannt ist, gibt ihren Sohn als Lehrling in seine Werkstatt, wo sich der Knabe bald als erstaunlich begabt erweist. Ovid erzählt, daß der Zwölfjährige durch geschickte Nachbildung des Rückgrats eines Fisches die Säge erfindet. Dann den Zirkel. (Andere Quellen schreiben ihm auch die Erfindung von Töpferscheibe und Kompaß zu.) Der Lehrherr aber wird angesichts dieser Fähigkeiten von Neid ergriffen und stößt seinen Neffen in mörderischer Absicht von der Akropolis. Hier kommt Athene ins Spiel, die Beschützerin geistvoller und genialer Menschen. Sie fängt den Stürzenden auf, hüllt ihn in der Luft in Gefieder und macht ihn zu einem Vogel, der fortan mit dem Namen seiner Mutter gerufen wird. (Perdix perdix lautet seit Linné der wissenschaftliche Name des Rebhuhns.) Die Mutter erhängt sich aus Gram über den Verlust ihres Sohnes. Daedalus fürchtet die Entdeckung und Verfolgung des versuchten Mordes und flieht nach Kreta. Dort setzt er seine Karriere fort und die Sache, die Ovid mit gewohnter Lakonik berichtet (nur an einer Stelle wird klar, auf welcher Seite er steht, wenn er Daedalus in direkter Ansprache die blutige Tat zum Vorwurf macht), könnte an ihr Ende gekommen sein – aber der Mythos verlangt Sühne.
Gemäß einer merkwürdigen, von Ovid hervorgehobenen Symmetrie verliert Daedalus später den eigenen Sohn. Um der Gefangenschaft des kretischen Königs Minos zu entkommen, fertigt er Flügel für sich und Ikarus. Doch Ikarus läßt sich bekanntlich dazu verleiten, die vom Vater vorgegebene Flugroute zu verlassen, er stürzt mit seinem künstlichen Gefieder ins Meer, und der unglückliche Vater muß ihn begraben:
»Während er barg im Hügel den Leib des bejammerten Sohnes,
Schaute vom schlammigen Graben ihm zu das geschwätzige Rebhuhn,
Schlug mit den Schwingen erfreut und bewies durch Krächzen Genuß.«
Seit seinem eigenen Sturz lebt das Rebhuhn nah am Boden und fürchtet die Höhe. Der Tod des Ikarus ist begleitet von der Schadenfreude des zum Vogel gewordenen Perdixsohns. Ein Ausgleich ist hergestellt: Der Vater, der sich den Neffen mit allen Mitteln vom Hals schaffen wollte und doch nicht vermochte, ihn zu töten, will den eigenen Sohn mit allen Mitteln retten und kann doch nicht verhindern, daß er stirbt. Der verheimlichte mörderische Hinabwurf kehrt wieder und bringt Daedalus in Form des Ikarussturzes Jammer und Unglück. Für uns, die Rezipienten des erzählten Mythos, ist das eigenartige Paradox ein erneuerter Hinweis auf die Bedeutung des erniedrigten Schwestersohns. Daedalus war, das läßt uns Ovid erkennen, wohl ein höchst erfindungsreicher, zu Recht gerühmter, doch keineswegs einzigartiger Meister. Das Rebhuhn – im Lateinischen feminin –, ein damals noch überall anzutreffender, äußerst anpassungsfähiger, scheuer und gern gegessener Vogel, erinnert an den beseitigten Zweiten, den gefürchteten Widersacher, in tiefster Bedeutung vielleicht an jene frühe schwesterliche Rivalin, deren Abkömmling einst die Autorität des großen Künstlers bedrohte und mit deren Tod das Wissen um seine böse Tat verschwand. Das rauhe, heisere, abgerissene Knarren und Krächzen, das sich mit der Dämmerung auf Äckern und Feldern und an Waldrändern hören ließ, ist die halberstickte Stimme des Verlierers (und der Verliererin), der nach seinem Sturz für immer den Mut verlor, sich aufzuschwingen, um höhere Gefilde zu erkunden. Schwerfällig fliegend, wird der Vogel, der Daedalus’ Schande verkündet, dem Jäger zur leichten Beute.
Daß Perdix perdix zu den stark gefährdeten Arten zählt, also in Mitteleuropa schon bald völlig verschwinden könnte, hätte sich in den Epochen nach Ovids Dichtung bis zur Industrialisierung der Landwirtschaft niemand träumen lassen, obwohl das Rebhuhn seit jeher von Menschen verfolgt wurde. Wie Hase, Kaninchen, Dachs, Fuchs, Fasan und viele mehr wird es zum sogenannten Niederwild gerechnet, was bedeutet, daß nicht nur der Hochadel, sondern gewöhnliche Landgrafen, Ritter und Barone, aber auch Mitglieder des Klerus sowie städtische Bürger das Privileg hatten, es zu jagen. Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein gehörte gebratenes, gebackenes, gedämpftes, gefülltes, gekochtes Rebhuhn, Rebhuhn in Rahmsauce und Rebhuhn mit Rotkraut auf den Speisezettel nicht nur adeliger Haushalte. Im Märchen »Der gestiefelte Kater« der Brüder Grimm wird erzählt, wie die Freßlust eines Königs, der gewohnt ist, Rebhühner in großen Mengen zu verspeisen, zur Bereicherung eines Emporkömmlings führt. Der schlaue Kater, der im Dienst eines verarmten Müllersohnes steht, fängt die in Familiengruppen lebenden, von Samenkörnern und kleinen Insekten lebenden Vögel dutzendweise mit Hilfe eines einfachen Tricks: »Als er in den Wald kam, machte er seinen Sack auf, breitete das Korn auseinander, die Schnur aber legte er ins Gras und leitete sie hinter eine Hecke. Da versteckte er sich selber, schlich herum und lauerte. Die Rebhühner kamen bald gelaufen, fanden das Korn – und eins nach dem andern hüpfte in den Sack hinein. Als eine gute Anzahl drinnen war, zog der Kater den Strick zu, lief herbei und drehte ihnen den Hals um.«
Diese Methode des Erbeutens kleiner Tiere entsprach nicht der jagdlichen Norm. Geschildert wird hier wohl eher das Vorgehen von Wilderern, die in von Bauern bewohnten Jagdgebieten häufig tätig waren. Die Norm war – vom späten Mittelalter bis zum Revolutionsjahr 1848 – die Jagd als organisiertes gesellschaftliches Ereignis der Feudalherren, bei dem die beteiligten Hunde ihre Fähigkeit zu ausdauernder Hetze über riesige Entfernungen hinweg, die Wildhüter und Treiber ihre waidmännische Zuverlässigkeit, die anwesenden Herren und Damen aber ihre Reit- und Schießkünste üben und zur Schau stellen konnten. Zu besonderen Gelegenheiten, als festliches Ritual und theatralisches Spektakel, fanden Prunkjagden statt, bei denen in wenigen Tagen Hunderte von Tieren zusammengetrieben und abgeschossen wurden.
Den Hofmalern kam es zu, die großen Netzjagden oder »eingestellten« Jagden zum Ruhm ihrer fürstlichen Auftraggeber festzuhalten. Stellvertretend für viele andere sei das 1529 geschaffene Gemälde »Hirschjagd des Kurfürsten Friedrich des Weisen« von Lucas Cranach d. Ä. erwähnt, das erste von mehreren Gemälden desselben Genres, die von Cranach bekannt sind. Es hängt heute im Kunsthistorischen Museum in Wien und zeigt ein solches repräsentatives Jagdereignis, veranstaltet vom sächsischen Landesherrn in Anwesenheit des kaiserlichen Ehrengasts Maximilian I. Zahlreiche Hirsche, die man zuvor auf einer Insel in einem größeren Gewässer zusammengetrieben hatte, werden gerade von Hunden und mit Spießen bewaffneten Berittenen ins Wasser gehetzt, wo sie von den im Gebüsch lauernden, mit Armbrüsten bewaffneten Schützen – an prominenter Stelle der Kurfürst mit seinem Gast – bequem getötet werden können. In einem Boot befinden sich neben dem stakenden Bootsführer die eleganten Zuschauer, Herren mit Jagdspeeren und Damen mit Schoßhündchen, die wie gelangweilte Partygäste, die Besseres gewohnt sind, dem Spektakel nur mit halber Aufmerksamkeit folgen: Zwei liebreizende junge Damen versuchen sich an den Rudern, zwei Paare sind in angeregte Plaudereien versunken, ein weiteres, im Heck sitzend, gibt sich handfesten erotischen Handlungen hin. So amüsiert sich die Hofgesellschaft in frischer Luft, während ringsum die Hirsche, von rasenden Hunden angefallen, von Spießen bedroht, von Stahlbolzen durchbohrt, im aufgewühlten Wasser um ihr Leben kämpfen. Das grausige Schlachtfest geht in entrückter Ferne seinen Gang. Ein Hund liegt offenbar verletzt auf dem Rücken. Sonst ist keine Wunde, kein Tropfen Blut zu erkennen. Das Gras ist grün, das Wasser klar, alles scheint klinisch rein und sozusagen geruchlos zu sein, wie in einem frühneuzeitlichen Legoland. Die gejagten Tiere entstammen dem malerischen Musterbuch, es sind physisch eindrucksvolle, doch seelenlose und leidensunfähige Geschöpfe, für die Menschen offenbar keine Empfindungen hegen – sieht man von dem aggressiven Drang ab, sie zur Strecke zu bringen. Ihre Kadaver (am unteren Bildrand liegt ein völlig unversehrt wirkender toter Hirsch in der Nähe des Ehrengastes) sind Trophäen, um die die Schützen wetteifern. Die Jagd ist hier spektakuläre Inszenierung von Kontrolle über »Natur«, Demonstration von Macht über Lebewesen, die man als Wild radikal von sich abgrenzt.
Neben den Prunkjagden gab es die durchaus alltäglichen Hetz- oder Parforcejagden, bei denen einzelne Tiere über viele Kilometer hinweg von Berittenen samt Hundemeute verfolgt und ermüdet wurden, bis man sie durch Fangschuß oder Stiche mit dem Hirschfänger tötete. Die Jagderfolge der adligen Herren wurden penibel dokumentiert und veröffentlicht. So ist verbürgt, daß etwa Markgraf Ludwig Georg von Baden-Baden in einem einzigen Jahr (1749) 1215 Hirsche, 376 Rehe, 8282 Hasen und 1015 Enten tötete. Die Jagd, die Kurfürst Karl Albrecht von Bayern im November 1735 zur Feier seines Geburtstags veranstaltete, erbrachte 1105 Bären (und vermutlich Tausende anderer Tiere), Herzog Karl Eugen von Württemberg war stolz darauf, in zwei Wochen knapp 5000 Tiere erlegt zu haben, und vom bayerischen Kurfürsten Max Emanuel, berühmt für seine Erfolge im Türkenkrieg, weiß man, daß er im Lauf seines Lebens exakt 39 715 Stück Wild tötete: ein body count wie nach einer Schlacht.
In geräumigen Schloßhöfen wurden Jagdspiele veranstaltet, etwa das höchst beliebte »Fuchsprellen« in großer Gesellschaft, bei dem gefangenes Niederwild, gelegentlich burlesk kostümiert, mit Tüchern in die Luft geschleudert und fallengelassen wurde. Den bereitstehenden Jägern kam es dann zu, die verstörten und schwerverletzten Tiere zu töten. (Erst zu Zeiten der Aufklärung wurde das Fuchsprellen allmählich durch das Federballspiel ersetzt, dessen Ursprung dann schnell in Vergessenheit geriet.)
In der Nähe der ländlichen Jagdschlösser schuf man mit enormem Aufwand sogenannte Tiergärten, sternförmig angelegte Parks mit breiten Schneisen für Pferde und begleitende Kaleschen, in denen die Beute optimal beobachtet und von Treibern und Jägern bequem erreicht werden konnte. Dort fand außer der Jagd bei besonderen Gelegenheiten auch das im Rokoko gern praktizierte »Hirschstechen « statt. Dabei amüsierten sich die vornehmen Herrschaften, indem sie unter großem Hallo mit Spießen und Speeren auf die gefangenen Tiere zielten und sie so langsam töteten. Heutigen Spaziergängern würde es kalt den Rücken herunterlaufen, wäre ihnen bewußt, welche Metzeleien in diesen anmutigen künstlichen Landschaften einst stattfanden.
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SINN UND FORM 1/2025, S. 34-51, hier S. 34-37