Różycki, Tomasz
geb. 1970 im oberschlesischen Opole, wo er auch lebt, Lyriker, Essayist und Nachdichter. Auf deutsch erschienen zuletzt »Über die Farben. Berliner Notizen« (2020) und »Kolonien. Gedichte« (2023). (Stand 6/2023)
Siehe auch SINN UND FORM:
- 5/2008 | Über die Farben - vor und nach 1989
- 5/2011 | Als ich zu schreiben anfing
- 2/2014 | Gedichte als Lebenschronik. Über Joachim Du Bellay
- 4/2014 | Sankt Petersburg
- 1/2016 | Tomis. Notizen vom Haltepunkt
- 4/2016 | Wolkenschatten. Gedichte
- 6/2018 | Der Typ, der die Welt gekauft hat. Gedichte
- 3/2019 | Die Kunst des Überdauerns. Ein Gespräch mit Bernhard Hartmann über Geschichte und Sprache
- 3/2019 | Nach Moskau. Eine europäische Reise
- 1/2020 | Die Schlacht im Tal. Aus einem Versepos
- 2/2021 | Morgen die Sintflut. Gedichte
- 2/2021 | Sternenvehikel. Zum Übersetzen von Gedichten
- 4/2021 | Dichter der Vergegenwärtigung. Laudatio auf Durs Grünbein
- 5/2021 | Der dunkle Mantel. Über Adam Zagajewski
- 6/2022 | Ein Transporter mit Aufschrift. Über die Gemeinsamkeiten zwischen dem Übersetzen von Gedichten und dem Aufnehmen von Flüchtlingen
- 2/2023 | Großmutters Haus. Eine Reise in die Ukraine
- 6/2023 | Wir haben uns schuldig gemacht. Gedichte
Ich weiß nicht, warum ich diese Gedichte gefunden habe, die Frage ist sogar etwas absurd. Von allen möglichen Gründen, potentiellen und realen (...)
LeseprobeRóżycki, Tomasz
GEDICHTE ALS LEBENSCHRONIK
Über Joachim Du Bellay
Ich weiß nicht, warum ich diese Gedichte gefunden habe, die Frage ist sogar etwas absurd. Von allen möglichen Gründen, potentiellen und realen Verkettungen von Ereignissen scheint die einzig wahre und – bei aller Paradoxalität – einzig sinnvolle Antwort zu lauten: Die Gedichte haben mich gefunden. So ist es wohl mit allen Lektüren – unser Unterbewußtsein wartet nur darauf, sich im Licht der weißen Blätter zu enthüllen, die schwarzen Buchstaben dienen ihm als Weckruf. Und weil ich nichts über mein Unterbewußtsein weiß, denke ich lieber, die Gedichte hätten mich gefunden. Sie haben mich gefunden – aus einem fragwürdigen Grund, über den ich mir nicht ganz im klaren bin, den ich aber herausfinden möchte, weil es eine so ernste Sache ist. Meine Intuition in bezug auf Dichter (auch tote, insbesondere tote) und Dichtkunst sagt mir, daß es kein ganz unschuldiger Grund sein wird, daß es zu Berührungen kommen wird, zu Ausbeutung, nächtlicher Stickluft oder gar nächtlichem Ersticken, womöglich wird auch Blut getrunken. Bestimmt wird Blut getrunken. Auf jeden Fall geschieht etwas Fragwürdiges. Und genau das will ich beobachten.
Die Gedichte haben mich gefunden, aber natürlich habe ich auch auf sie gewartet. Das heißt, etwas in mir hat gewartet, etwas, das eben durch sie geweckt wurde und von dem ich bis dahin nichts wußte. Jetzt kann ich nur noch versuchen, dem nachzuspüren, den Spürhund zu spielen, der in der Dunkelheit lauert und beobachtet, wie zwei Gestalten im blassen Licht des Mondes ihre Streiche beginnen. Zwei Gestalten, eine aus dem Nichts aufgetaucht, die andere im Dunkeln auf sie wartend. Beide gleich blaß und merkwürdig.
Man weiß nicht viel über das Leben ihres Autors, Joachim Du Bellay. Nicht, daß seine Biographie gänzlich unbekannt wäre. Wir kennen einige der wichtigsten Ereignisse, aber jedes Mal, wenn ich etwas darüber lese, kommt es mir vor, als bleibe die Hauptperson gänzlich »unberührt« in ihrem Geheimnis, als hätten die Biographen keinen Zugang zu ihrem wahrem Leben, als passe ihre, wie Sartre sagen würde, Existenz nicht zu der in ein paar Dutzend Sätze gefaßten Essenz, die ihm andere zuschreiben. Sitzt Du Bellay also in Sartres Hölle, irrt seine Seele noch immer umher und fleht um Befreiung?
Er kam 1522 zur Welt, wie Pierre de Ronsard als Sohn einer reichen Familie: Seine Onkel und Vettern machten Karriere, und einer seiner Verwandten spielte in Du Bellays Leben später eine wichtige Rolle. Der Junge war von Geburt an kränklich, aber das ist in Dichterbiographien nichts Besonderes. Ehe er zehn wurde, verlor er Vater und Mutter. Von da an stand er unter der Vormundschaft seines älteren Bruders und hatte, wie die Biographen schreiben, »eine traurige Kindheit«, der Bruder vernachlässigte zunächst seine Bildung, erst später studierte Du Bellay in Poitiers Jura, was ihm die Aussicht auf eine Anstellung als Sekretär beim Cousin seines Vaters, einem Kardinal, eröffnete.
Geboren wurde er im Schloß La Turmelière, unweit von Liré im Anjou. Liré liegt an der Südseite der Loire – der Fluß ist nah, nur eine Viertelstunde entfernt. Ich war einmal in der Gegend, damals wußte ich noch nichts von Du Bellay; die Loire strömt breit dahin, sie ist flach und heiter, auf den Sandinseln im Fluß wachsen Bäume und Sträucher, entlang des Wegs Pappeln, ihre flauschigen Flugsamen legen sich in so dicken Schichten auf die Steinbrücke, daß man hindurchwaten muß. Zwischen sanften grünen Hügeln die Ruinen eines Schlosses aus dem fünfzehnten Jahrhundert: Hier lebte Du Bellay. Zwanzig Jahre zwischen diesen Hügeln. Die Franzosen nennen diesen Landschaftstyp bocage – gemeint sind durch Baumreihen abgeteilte Felder. Man findet sie in ganz Nordeuropa, von der Bretagne bis nach Masowien.
Angeblich nahm sein Leben eine Wende, als er an einem Sommertag in einem Wirtshaus an der Loire Ronsard kennenlernte: Beide waren zwanzig, beide schrieben Gedichte, beide hatten Soldaten werden wollen und diesen Plan wegen früher, schnell voranschreitender Taubheit aufgeben müssen – solche Zufälle gibt es nur einmal, wollen wir also die Sache näher betrachten. Zwei fast taube junge Dichter, zwei der größten Dichter aller Zeiten. Derselbe Ort und dieselbe Zeit. War Taubheit etwas Normales in dieser Zeit, diesem Milieu, dieser Gegend? Befiel sie vielleicht insbesondere Personen, die ihr Leben der Arbeit mit Rhythmus, Reim und Melodie widmeten? Oder bewirkte umgekehrt die fortschreitende Taubheit, die Beeinträchtigung des Gehörs von früher Kindheit an, daß die betroffene Person um so mehr nach Klängen, nach Musik forschte und sie auch schuf? So wie Beethoven? Ronsard wollte von Anfang ein großer Dichter werden – deshalb schrieb er. Du Bellay wurde von ihm angesteckt. Beide gingen nach Paris, am Collège Coqueret unterrichtete sie der Hellenist Dorat, dort lernten sie die Antike und Petrarca kennen. Mit Freunden gründeten sie eine Dichtergruppe. Erst nannten sie sich La Brigade, später La Pléiade.
Du Bellay wurde recht schnell bekannt – erst durch sein berühmtes Manifest über die französische Sprache und die neue Dichtkunst ("Défense et illustration de la langue française«), dann durch seine lateinischen Gedichte und seine Sonette; er wurde zum französischen Ovid und zum französischen Petrarca, wurde anfangs sogar mehr gepriesen und geschätzt als Ronsard. Aber das Wichtigste stand erst noch bevor. Die Sonette und anderen Gedichte, die Du Bellay in Paris schrieb, waren eigentlich nur Fingerübungen, ein wenig langweilig und gekünstelt (war er wirklich verliebt oder pflegte er bloß die Tradition des Petrarca-Sonetts?), Fingerübungen für das, was später kommen sollte. Die Besonderheit dieser Gedichte war, daß sie in Französisch geschrieben waren; sie führten neue Gattungen in die Lyrik ein und ahmten alte, antike Autoren nach. Dazu kamen Konvention und Abstraktes, Mythologie und Courtoisie, Pose und Manier. Wahrscheinlich bin ich furchtbar ungerecht; ich werde es bis zum Ende dieses Textes bleiben. Der Band mit Sonetten wurde für eine gewisse Olive geschrieben, worin manche ein Anagramm des Namens der Mademoiselle de Viole sahen. Doch Olive wie auch Viole bleiben geheimnisvoll und literarisch. Über keine von beiden wissen wir etwas Genaues – sowenig wie über Petrarcas Laura. Olive kann ein Name sein oder die Frucht, ein Verweis auf den Süden, auf die Provence oder eben auf Petrarca. Viole ist ein mehrdeutiger Name: Er bezeichnet ein Instrument (damals die Viola da Gamba), klingt aber auch nach Gewalt.
Just als Du Bellay berühmt und am Königshof gelesen wurde, begannen seine finanziellen und gesundheitlichen Probleme (der Ausbruch der Schwindsucht, die Verschlechterung des Gehörs). Es eröffnete sich aber auch eine außergewöhnliche Chance: eine Reise nach Rom als Sekretär seines Verwandten, des Kardinals, in geheimer politischer Mission. Eine wahrlich formidable Chance für jemanden, der die italienische und lateinische Literatur liebte. Er konnte zur Quelle seiner Inspiration vordringen, die Wiege der Antike und der Renaissance sehen, in der Hauptstadt der Welt leben. Dieser Moment, der Moment, in dem er Frankreich verließ, war – glaubt man den Biographen, aber insbesondere auch seinen späteren Gedichten – das größte Unglück seines Lebens.
Die Enttäuschung kam schnell. Sicher, anfangs war Rom schön und faszinierend, aber schon bald begann ihn die Arbeit zu ermüden – er verbrachte sinnlose Stunden damit, sich um die Angelegenheiten und Ausgaben des Kardinals zu kümmern, die Höflinge des Kirchenstaats waren noch weitaus schlimmer als ihre Pariser Pendants, die Priesterschaft, die ganze kirchliche Hierarchie war (glaubt man den Gedichten) eine Bande gemeiner, neidischer und bis ins Mark verdorbener Leute, Italienisch und Latein gingen ihm auf die Nerven. Aus Frankreich kam die Kunde von Prozessen und vom Verlust des Vermögens, vor allem aber von den Erfolgen der Pléiade-Kollegen. In Rom kannte niemand den Dichter Du Bellay, hier hielt man ihn für ein Nichts. Also schrieb er Nacht für Nacht, zunehmend krank vor Sehnsucht, Melancholie, Groll und Langeweile, Sonette nach dem Vorbild von Ovids »Tristia«, die er später »Regrets« (Klagen) nannte. Welch ein Paradox: Rom wurde für Du Bellay zum Verbannungsort. Rom, die Hauptstadt der Kultur, wurde ihm zur Wüste, zu einem Gefängnis wie Ovids Tomis. Und wie Ovid Rom nachweinte, weinte Du Bellay Frankreich nach und flehte um die Erlaubnis, die Ewige Stadt zu verlassen.
[...]
Aus dem Polnischen von Bernhard Hartmann
SINN UND FORM 2/2014, S. 247-255, hier S. 247-250
Winter. Erster Eintrag: So sei es denn eine – sicher unvollkommene – Existenzweise und ein ebenso unvollkommener Verständigungsversuch. Dem (...)
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Tomis. Notizen vom Haltepunkt
Winter. Erster Eintrag: So sei es denn eine – sicher unvollkommene – Existenzweise und ein ebenso unvollkommener Verständigungsversuch. Dem Anschein nach ist es ein richtiger Winter, sentimental und mythisch, die Stadt ist eingeschneit, die Autos passieren einander vorsichtig wie beladene Elefanten auf einem Dschungelpfad. Fluß und Kanäle sind zugefroren, im Fernsehen schneit es. Einstweilen muß man nicht über den sechs Monate langen, bis in den April dauernden winterähnlichen Herbst voller Schlamm klagen, die Zeit des Schlamms kommt später – wenn es taut, wenn die Schneewehen, -berge und -halden schmelzen und die Sintflut einsetzt. Vorerst ist alles, wie es sein soll, wie es auf dem Wunschzettel steht: Das Licht ist zurück, wird vom Schnee reflektiert, selbst die Nacht leuchtet festlich, als sei die Kindheit zurückgekehrt und halte Ausschau nach uns. Gloria. In unserem Tomis spricht freilich niemand Latein, hier gefriert der Wein in der Flasche, und der einzige rote Fleck auf der weißen Tischdecke könnte ein Blutfleck sein. Doch alle verfluchen in ihren Dialekten den Winter, sie kratzen Schnee und Eis von den Autos und tauen die Batterien auf. Und wiewohl ich eine direkte Verbindung nach Rom habe, sind zum Glück sämtliche Wege zugeschneit.
Die Besuche in der Hauptstadt, in dieser wie in jener, enden immer gleich: mit der Einfahrt des Zuges in den verdreckten Bahnhof, der von Jahr zu Jahr zu schrumpfen scheint, bis er eines Tages ganz verschwindet – dann werde ich auf der weißen Flur aussteigen und verdutzt durch den Schnee stapfen. Ich steige aus und stecke gleich fest im Schnee, im Schlamm, in der Provinz, und mir wird klar, eine bestimmte Art von Fremdheit muß wohl sein. Man empfindet sie sicher auch, wenn man in New York im vierzigsten Stock lebt und jedes Mal beim Zigarettenkaufen denkt, man kehre von einer Reise um den Mond auf unseren grünen Planeten zurück. Tomis ist wohl eine Notwendigkeit: der Ozean von Schlamm ringsum, die verschneiten Felder bis zum Horizont, die staubigen Straßen, und fast niemand spricht Latein. Hier kann man vergessen werden, während man auf der Veranda jeden Tag neue altmodische Simulakren der Wirklichkeit heranzüchtet, indem man Geschichten erfindet oder erschütternde Briefe an die Nachkommen schreibt.
Das große Gebäude am Platz ist das Hauptgebäude der Universität. Es gibt eine unklare Verbindung zwischen uns. Zuweilen bekomme ich den Schlüssel zu einem Zimmer in der obersten Etage, ich komme, wenn schon alle weg sind, und gehe – mit dem seltsamen Gefühl, doch nicht allein zu sein – durch die Korridore. Früher befand sich hier ein Kloster, später lange ein Spital; ich erinnere mich noch an die Barmherzigen Schwestern mit den spitzen Hauben. Die gleichen, denen Rimbaud ein hoch in den Alpen aufgestelltes Klavier vererbte. In den Sälen lagen die Kranken. Ich habe meine Großväter besucht, beide sind hier gestorben. Wohl kaum ein Universitätsgebäude in Polen hat eine vergleichbare Tradition und Geschichte. (…) Inzwischen wurde das Gebäude generalüberholt, die Wände und sehr dicken alten Mauern desinfiziert, wobei ja Bakterien und Viren tief ins Gemäuer eindringen können, sie verstecken sich und liegen noch Jahrzehnte auf der Lauer. Ich sitze hier, atme den Geruch ein und versuche mit Hilfe des Tamtams mit den Seelen der hier Verstorbenen in Kontakt zu treten. Eine von ihnen wird mich schon hören. Die einstige Augenklinik ist heute die Anglistik, die Innere Medizin die Polonistik. Die Klinik für Haut- und Geschlechtskrankheiten ist die Romanistik, die Neurologie die Slawistik. Wo jetzt die Bibliothek ist, war früher die Intensivstation. Das Dekanat war Operationssaal, das Büro des Rektors die Toilette. Wo heute die Toiletten sind, war früher das Chefarztbüro. Für den Rest der Universität wurden zum Glück ehemalige Kasernen umgebaut. Sie haben eine andere Tradition, aber auch die läßt sich erzählen.
Mit Hilfe des Tamtams kontaktiert mich Leonardo, der Castaneda zitiert: »Unsere Sprache ist überaus schwach.« Und tatsächlich, meine Zunge ist kalt und die Hände klopfen mit letzter Kraft auf die Tastatur des Tamtams. Das kommt bestimmt vom gefrorenen Wein. Zeit, dieses Gespräch zu beenden. Obwohl der autobiographische Pakt vermutlich so clever erdacht ist, daß er uns alle mit seinen sieben Mäulern verschlingen kann – mein Pakt ist wohl anders, und man darf hoffen, daß nicht nur böse, sondern auch gute Geister über dem Papier kreisen. Solange der Tiefkühlwein sie nährt, besteht Aussicht auf Fortsetzung. Heute faßte ich den Entschluß, diese Notizen zu beginnen. Erster Eintrag: Winter.
Auf dem Hügel, wo das heutige Universitätsgebäude steht, gibt es einen Brunnen und eine heilige Quelle. Der Legende nach soll 984 der heilige Adalbert, Schutzheiliger Polens, nach Oppeln gekommen sein. Der damalige Bischof von Prag predigte auf dem Hügel und taufte die bekehrten Einheimischen. Als ihm einmal das Taufwasser ausging, stieß er den Bischofsstab auf die Erde, und an dieser Stelle entsprang eine Quelle. Das Wasser hatte wundertätige Eigenschaften: Es förderte die Fruchtbarkeit, festigte die eheliche Treue, heilte Melancholie, Depression und Jugendakne.
Der heilige Adalbert wird häufig mit einem Bischofsstab in Gestalt eines doppelten oder einfachen Kreuzes dargestellt, was sein missionarisches Wirken betonen soll. Doch die schmuckvollen Basreliefs an der Bronzetür der Gnesener Erzkathedrale aus dem zwölften Jahrhundert zeigen, wie Otto III. Adalbert als Bischof einsetzt und ihm den Bischofsstab überreicht. Der Griff dieses Bischofsstabs, von dem sich Adalbert der Darstellung auf der Bronzetür zufolge bis zum Tod nicht trennte, ist schneckenförmig nach innen gewunden und wird von einem Schlangenkopf abgeschlossen.
Ein Bild: Mitteleuropa, Lemberg, 1945 oder Anfang 1946. Die sowjetischen Behörden organisieren die Deportation der Polen aus der Stadt, was sie frech Repatriierung nennen. Nach Beschluß der Siegermächte UdSSR, Großbritannien und USA wird Lemberg der Sowjetunion zugeschlagen, die Polen sollen in die von Deutschland gewonnenen neuen polnischen Westgebiete umgesiedelt werden. Man kennt die Geschichte, aber ich versuche sie mir jetzt vorzustellen – in der Stadt herrscht Chaos, wie ein böses Omen erscheinen die Güterzüge, in denen die polnischen Lemberger, die den Krieg überlebten, abtransportiert werden sollen. Man kann eine Kiste mit persönlicher Habe mitnehmen, vielleicht zwei. Gemeinsam mit den Nachbarn zimmert Großvater eine Kiste, danach eine zweite, kleinere. Mehr wird er ohnehin nicht tragen können – er muß alles allein zum Bahnhof schleppen. Großmutter hat gerade ein Kind zur Welt gebracht, es gibt nun drei Kinder im Haus: die Tochter und die zwei jüngeren Söhne. Der ältere ist mein Vater.
Großvater geht durch die Wohnung und überlegt, was er mitnehmen soll. Versucht es euch vorzustellen: zwei Kisten, um das Leben eurer Familie einzupacken. Großvater betrachtet Möbel, Figuren, Bilder, Fotografien und alte Briefe, Schrank und Nachtschränkchen, Küche und Bad. Wenige Monate später werden die Familien von NKWD-Offizieren in die großen, ruhig gelegenen Wohnungen einziehen. Zwei Häuser weiter wohnten der Architekt Szulim Barenblüth und seine Frau Debora Vogel, die Freundin von Bruno Schulz, mit ihrem Sohn Aszker. Alle drei wurden 1942 bei der Liquidierung des Lemberger Ghettos von der ukrainischen Polizei erschossen. Sie hinterließen Dokumente und Schriften, darunter unveröffentlichte Manuskripte von Bruno Schulz, Briefe und unvollendete Romane sowie Erzählungen von Schulz und Vogel – als neue Bewohner 1964 den Keller aufräumen, verbrennen sie alles.
Lemberg wurde im Juli 1944 im Rahmen der Aktion Burza von der polnischen Heimatarmee befreit. Die Rote Armee rückte auf die Stadt vor, man kämpfte gemeinsam gegen die deutschen Besatzer – die Polen sahen trotz allem die Rote Armee als Verbündete in der Anti-Hitler-Koalition. Wenige Tage darauf verhafteten diese Verbündeten polnische Offiziere und Soldaten und verschleppten sie tief ins russische Landesinnere. Lemberg war zum zweiten Mal während des Krieges sowjetisch besetzt. Nach der ersten Besetzung von September 1939 bis zum Einmarsch der Deutschen im Sommer 1941 hatten die Sowjets in Lemberg Berge von in der Junisonne verwesenden Leichen hinterlassen. 1945 richteten die Behörden Repatriierungspunkte ein, die Deportationen erfolgten in mehreren Phasen bis 1946, als man bekanntgab, die verbleibenden polnischen Einwohner würden nach Kasachstan oder in den Donbaß gebracht. Nur wenige wagten es, in der Stadt zu bleiben und abzuwarten, ob diese Ankündigung wahrgemacht würde.
Großvater geht durch die Wohnung. Sie können nicht viel mitnehmen, sie müssen wählen, viele Dinge werden sie nie wieder sehen. Großmutter packt Bettzeug, ein paar Teller, Töpfe, Kinderkleidung und einige Andenken in die erste Kiste, nur das Allernotwendigste, dennoch ist sie bald voll. Die zweite Kiste füllt Großvater – zu Großmutters Verzweiflung – bis zum Rand mit Büchern aus seiner nicht sonderlich umfangreichen Bibliothek. Services, das Radio und alles andere Wertvolle läßt er zurück. Die Kiste ist höllisch schwer und läßt sich selbst mit Hilfe von Bekannten und Nachbarn kaum bis zum Bahnhof transportieren, wo der Zug wartet und sie in den Waggon geladen wird. Einmal rutscht sie jemandem aus der Hand und verfehlt nur knapp einen herumwuselnden Sechsjährigen – um ein Haar wäre mein Vater von einer Kiste voller Bücher erschlagen worden.
Die Kiste war schwer. Moby Dick und die Nautilus mußten hinein, Captain Bloods Piratenschiffe, Die geheimnisvolle Insel, Wolfsblut, Wotan, der Wolfshund. Winnetou und Der letzte Mohikaner, das Lager des Vaters der Pestkranken, Soplicowo, Kamieniec Podolski, die Lauda und Elefant King. Die Alte Mär und Krakau zu Łokteks Zeiten. Die Jungen von der Paulstraße und Die drei Musketiere. Der Graf von Monte Christo und Lord Jim. In einem anderen Land und Der Zauberberg. Der brave Soldat Schwejk und Ivanhoe, Zwanzig Jahre später und Madame Bovary, Anna Karenina und Das Dschungelbuch. Die Kartause von Parma und Der Mann mit der eisernen Maske. Die Brüder Karamasow und Die Elenden. Einige dieser Bücher habe ich selbst noch gesehen, manche sogar gelesen, andere gingen verloren. Mein Vater hat bestimmt alle gelesen.
Die Kiste war mehrere Wochen unterwegs, bis sie in Oppeln ankam. In den Zügen war nicht genug Platz, die Männer reisten auf dem Dach. Sie sangen: »Eine Atombombe oder zwei, dann kehren ist Lemberg wieder frei.« Alle glaubten, der nächste Krieg stehe unmittelbar bevor, nach Hitler komme nun Stalin an die Reihe, der Alptraum dauere schon lange genug und werde bald enden. Niemand wußte, was sie am Ziel ihrer Reise erwartete. Unten im Waggon weinte ein Säugling, mein Onkel.
Ich weiß nicht, warum Großvater ausgerechnet Bücher einpackte. Er hielt sie wohl für das Wertvollste, das er besaß. Ansonsten sprach alles dagegen: Der Krieg war zwar zu Ende, aber die Geschehnisse der letzten Jahre zeigten deutlich, daß die Geschichte über die Kultur triumphieren würde. Meine Großeltern waren aus ihrem Zuhause vertrieben worden und sollten nie wieder zurückkehren, sie fuhren ins Unbekannte, nachdem sie wie durch ein Wunder den Krieg und die anschließenden Gemetzel überlebt hatten. Der neue Staat, der gerade auf Grundlage der Beschlüsse von Jalta entstand, war fremd und verhieß nichts Gutes. Ihre Heimatstadt war von der Roten Armee besetzt und sie waren unterwegs in die einstmals deutschen Gebiete, die von den Sowjets unter polnische Verwaltung gestellt worden waren, wiewohl jeder wußte, daß es sich um eine Marionettenregierung handelte. Man mußte weiter ums Überleben und Durchkommen kämpfen. Um so erstaunlicher war die Entscheidung für die Bücher – sie zeugte von Hoffnung, vom privaten Sieg der Kultur über die Geschichte, von der Kontinuität des Geistes gegen das Chaos von Gewalt, Krieg und Materie. Großvater wußte wohl nicht, daß er eine rettende Geste vollzog. Er war kein Universitätsprofessor, sein Vater war Fleischer gewesen. Er selbst, ein aufsässiges Einzelkind, war viel gereist, er hatte die Welt gesehen und sich in Häfen herumgeprügelt. Auf seinen Armen prangten Seemannstätowierungen, darunter das Zeichen der Fremdenlegion. Er war ein Batiar, ein Kind der Lemberger Straße, kein Intelligenzler. Ich weiß nicht, was er im Krieg gemacht hat, er sprach nicht darüber, wahrscheinlich aus politischen Gründen. Er blieb manchmal tagelang fort, während Großmutter verzweifelt wartete. Er konnte gut mit Waffen umgehen. Er trieb ein wenig Handel, so kamen sie über die Runden. Er nahm an der Befreiung der Stadt teil, vielleicht als Angehöriger der Heimatarmee, vielleicht spontan. Nach dem Krieg war es nicht ratsam, sich bestimmter Dinge zu rühmen, also erfuhr ich nie, ob er sich gut oder schlecht verhalten hatte, heldenhaft oder feige oder von beidem etwas. Ich erfuhr nicht, ob er ein gutes oder ein schlechtes Gewissen hatte, ob er Leben gerettet oder getötet hatte – er starb lange vor dem Fall des Kommunismus in Polen.
Die Bücher, genauer die Erinnerung an die Titel dieser Bücher – die meisten sind zerfallen oder bei Umzügen verlorengegangen –, sind mein einziges Andenken an ihn. Er hatte sonst nichts aus Lemberg mitgebracht, keinen materiellen Beweis für die Existenz dieser Welt, nichts, was er mir hätte vererben können. Er hinterließ mir eine Liste mit den Titeln nicht existierender Bücher, exotische Namen und Nachnamen. Einen leeren Koffer, eine sprechende Kiste, Mikroben, Staub, Rußkrümel.
Aus dem Polnischen von Bernhard Hartmann
SINN UND FORM 1/2016, S. 15-27, hier S. 15-19
1. Als ich, zusammen mit anderen mehr oder weniger gelungenen Definitionen von Poesie, vor Jahren Robert Frosts Aussage »I could define poetry this (...)
LeseprobeRóżycki, Tomasz
Sternenvehikel. Zum Übersetzen von Gedichten
1. Als ich, zusammen mit anderen mehr oder weniger gelungenen Definitionen von Poesie, vor Jahren Robert Frosts Aussage »I could define poetry this way: it is that which is lost out of both prose and verse in translation« in polnischer Übersetzung zum ersten Mal las, fand ich sofort, dies sei einer jener wunderbaren und zugleich scheußlichen Sätze, in denen kein Wort ersetzt oder gar umgestellt werden kann. Ein Satz wie eine mathematische Gleichung mit einer Unbekannten. Und zugleich eine dieser Definitionen, die, statt etwas zu erklären, weitere Fragen provozieren und uns nicht sicherer machen, sondern leicht benommen und verloren zurücklassen. Wenn sie überhaupt etwas sagt, dann vor allem, was Poesie nicht ist – was sie sein könnte, bleibt offen. Eine Definition, die nichts definiert, die zu keiner Grenze und zu keinem Ende führt, wie sie es dem lateinischen Ursprung des Wortes nach sollte. Eine negative Definition. Es gibt keine Grenze. Es gibt kein Ende. Solche Definitionen mag ich am liebsten. Vielleicht liegt es am Alter, vielleicht an den Dingen, mit denen ich mich beschäftige.
2. Da schon das Wort Grenze fiel: Bei allem, wovon hier die Rede sein wird – Dichtung, Schreiben, Übersetzen –, geht es um vorhandene oder fehlende Grenzen. Es geht darum, sie zu überschreiten, sowohl konkrete, wie Mauern, Stacheldrahtverhaue oder Minenfelder, als auch abstrakte, wie Verbote oder strikte Formen. Das sage ich nicht allein deswegen, weil ich über Fragen des Übersetzens spreche und aufgrund meiner Tätigkeit besonders neugierig bin, was auf der anderen Seite ist, unter anderem auf der Seite der Übersetzer. Ich sage es auch nicht deswegen, weil das Übersetzen heute eine Wertschätzung erfährt wie wohl nie zuvor und weil immer mehr und immer besser übersetzt wird. Dadurch hat die Menschheit die Chance, sich besser kennenzulernen, sich neuer schmerzlicher Details ihrer Existenz bewußt zu werden. Manche behaupten, die Übersetzer retteten die Welt, zu deren größten Problemen es gehöre, daß die Menschen einander nicht verstehen. Sowohl die Globalisierung als auch der große babylonische Turm der westlichen Zivilisation sind nicht zuletzt das Verdienst von Übersetzern. Der menschliche Drang zu Systematisierung und Abgrenzung hat die Translationswissenschaft hervorgebracht, die inzwischen an fast allen Universitäten praktiziert und gelehrt wird. Es wird immer mehr übersetzt und immer weniger gelesen, und vielleicht wachsen deshalb Bitternis und Verzweiflung in der Welt analog zur Zahl ihrer Bewohner, analog zur Zunahme der Möglichkeiten, sich zu äußern, und zur Meinungsfreiheit, während sich in fast allen Sprachen das fortschreitende Bewußtsein vom Ende der Menschheit zu Wort meldet. Wenden wir uns also wieder dem Ende zu, dem Begriff der Grenze, dem Transitverkehr und der Immigration der Wörter.
3. Zunächst geht der Dichter über seine Grenzen hinaus. Er tut das, indem er Wörter schreibt, Buchstaben zu Wörtern zusammensetzt. Dabei offenbart sich seine psychische – oder vielleicht sollte man sagen: geistige – Substanz. Dann geht der Leser aus sich heraus, indem er liest. Seine psychische – oder geistige – Substanz findet ihren Platz auf den für ihn anfangs ja fremden Seiten der Dichtung. Und manchmal geschieht ein Wunder: Der Leser betrachtet die Wörter eines Gedichts als seine eigenen. Später verläßt die Lyrik die Grenzen ihrer Sprache und auch der Übersetzer überschreitet eine Grenze, indem er übersetzt. Er ist in seiner Sprache Leser und Dichter zugleich. Das Wort translatio bedeutet ursprünglich Hinübertragen, Hinüberbringen. Das Wichtigste geschieht also in der Bewegung und in der Überschreitung, in der Transzendierung, und der Übersetzer ist derjenige, der die Ware über die Grenze bringt, derjenige, der selbst bei größter moralischer Integrität mehr transportiert, als in den Frachtpapieren steht, der – ob er will oder nicht – zum Schmuggler wird.
4. Natürlich hat Frost recht: Der Übersetzer verliert einen Teil seines Schmuggelguts, ein Teil wird ihm an der Grenze abgenommen, ein Teil verflüchtigt sich von selbst. Außerdem muß er Zoll zahlen. Bisweilen ist die Entfernung, die überwunden werden muß, zu groß, und damit meine ich nicht nur die Sprachen, die durch Meere, Gebirge und Ozeane voneinander getrennt sind, sondern auch die Zeit, zumal wenn etwa in unseren Tagen ein Übersetzer aus unbekannten, zweifelhaften Gründen beschließt, ein Gedicht aus dem 16. Jahrhundert zu übersetzen. Zum Glück – auch zu seinem eigenen – merkt der Übersetzer oft gar nicht, daß ihm etwas entging. Auch deshalb, weil unser ganzes Leben ab der Geburt das Resultat einer Subtraktion ist und der Verlust fest und selbstverständlich dazugehört. Frost hat auch insofern recht, als derartige Sentenzen etwas in sich tragen, das auch ein Merkmal von Poesie ist – sie sind ebenso universell wie hermetisch, sie sollen uns verführen. Ihr Sinn entzieht sich uns, als läge er jenseits der Zeilen, doch sie bezaubern uns durch ihre Anmut, sie wecken unsere Neugier, sie wollen entdeckt werden, wollen, daß wir ihnen folgen. Immer in der Nähe, immer einen Schritt voraus. Frosts Satz ist wie die Poesie, von der er spricht. Sie ist das, was verlorengeht, was wir verlieren, was sich uns entzieht, was in ständiger Bewegung ist. Und wir laufen immer hinterher. Doch wenn die Poesie das ist, was in der Übersetzung verlorengeht, dann müßte man, um sie wiederzufinden, eine Subtraktion durchführen, das heißt Original und Übersetzung vergleichen. Also – welch absurde Operation – die Übersetzung vom Original abziehen, und was übrigbliebe, wäre die Poesie. Nur was sollte das sein? Der Klang? Die Musik? Die Stimme? Der Kontext? Die Geschichte? Die Erfahrung? Das Leben des Autors? Die Geschichte der Sprache, in der er das Gedicht schrieb? Die Summe seiner Lektüren, die Momente der Begeisterung oder der Langeweile beim Lesen oder Hören fremder Texte? All seine Vormittage? All seine Nächte? All seine Feinde und all seine Lieben? Daß er blind war? Daß er hinkte? Daß seine Nachbarn ihn für einen Besessenen hielten? Daß er ein italienisches Mädchen war, das im Lyon des 16. Jahrhunderts auf italienisch schrieb? Daß er der russischsprachige Sohn eines jüdischen Tuchhändlers aus Warschau war? Der Enkel schwarzhäutiger Sklaven, die auf die Antillen verkauft worden waren? Eine Hofdame im Japan des 11. Jahrhunderts? Ja, all das und vieles mehr. Kurzum alles, was sich nicht übersetzen läßt. Wir können aber auch annehmen, das Leben eines Autors sei wenig relevant oder der Autor sei ganz einfach tot und es lebten nur die Originale seiner Gedichte. So sollte es doch eigentlich sein, oder? Was also geht in der Übersetzung verloren? Der Klang? Der Kontext? Die Stimme? Die Historie? Die Geschichte der Sprache, die erklingt, und das Besondere der in ihr gesagten Worte, deren versteckte Bedeutungen und emotionale Aufladungen? Wie, wie oft und von wem sie zuvor benutzt wurden, in welchem anderen Gedicht und in welchem Lied, das abends auf dem Balkon gesungen wird? Oder daß sie eben noch nie in einem solchen Kontext benutzt wurden? Und schon ist nicht mehr der Autor wichtig, sondern der Leser dieser Gedichte: sein Leben, seine Vormittage und Nächte, seine Lektüren und Lieben, seine Krankheiten und Obsessionen. Daß er die Tochter eines Immigranten aus einem armen, vom Krieg zerstörten Land ist. Daß er eine Brille mit sehr dicken Gläsern tragen muß. Daß er Hunde lieber mag als Katzen. Jedesmal spricht ihn die Lyrik auf andere Weise an, weil er ihr jedesmal eine andere Stimme gibt. Jeder einzelne Lektüreakt ist anders, einzigartig, und diese Einzigartigkeit hat wenig mit dem Wörterbuch zu tun, sie spielt sich anderswo ab, neben den Wörtern, vielleicht über ihnen. Vereinfacht können wir sagen: in der Psyche des Lesers oder, wenn wir das griechische Wort übersetzen, in seiner Seele. Im geistigen Raum. Derlei kann man schwerlich einpacken und über die Grenze transportieren und gleichzeitig hoffen, daß sich unterwegs nichts davon verflüchtigt.
Aus dem Polnischen von Bernhard Hartmann
SINN UND FORM 2/2021, S. 240-248, hier S. 240-242
1. Als sein Gedicht »Versuch, die verstümmelte Welt zu besingen« in Claire Cavanaghs Übersetzung bald nach dem 11. September 2001 im »New (...)
LeseprobeRóżycki, Tomasz
Der dunkle Mantel. Über Adam Zagajewski
1.
Als sein Gedicht »Versuch, die verstümmelte Welt zu besingen« in Claire Cavanaghs Übersetzung bald nach dem 11. September 2001 im »New Yorker« erschien und ihn in den USA berühmt machte, war Adam Zagajewski in Europa und insbesondere in Deutschland, wo er von 1979 bis 1981 als DAAD-Stipendiat lebte, schon lange bekannt und geachtet. In Polen kannte man ihn als Verfasser nicht nur ästhetisch, sondern auch politisch wichtiger und streitbarer Bücher. Die Bühne der amerikanischen Literatur betrat er mit einem Lyrikband, der – auf Empfehlung von Joseph Brodsky, wie Adam einmal erzählte – in einem der wichtigsten Verlage des Landes erschien. Czesław Miłosz, Zbigniew Herbert, Susan Sontag und viele andere amerikanische Dichter und Kritiker waren von seinen Gedichten begeistert, und Adam unterrichtete an Universitäten in Houston und Chicago. Dann erschien infolge einer Verkettung von Umständen – man weiß ja, wie der Zufall bisweilen spielt – »Versuch, die verstümmelte Welt zu besingen« im »New Yorker«, und von da an wollte das Publikum meist gerade dieses Gedicht hören. Doch eigentlich sind fast all seine Gedichte so, fast alle wollen von Freude, Leid, Begeisterung und Trauer erzählen – und vom Trost der Poesie, die für Adam all das zugleich war. Er kam in Lemberg zur Welt, in einer Stadt, in der seine Familie seit Generationen lebte und die sie verlassen mußte, als er ein paar Monate alt war. Er kam in einem verstümmelten Land zur Welt, unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, der allein Polen sechs Millionen Einwohner genommen und seine Hauptstadt vom Erdboden getilgt hatte. Sein Leben lang hat er versucht, eine Welt zu besingen, die trotz alledem erschütternd schön ist. In seinem Gedicht »Karfreitag in den U-Bahn-Schächten« schreibt er von der »Matthäus-Passion«, die »Schmerz in Schönheit verwandelt«. Er hoffte wohl darauf, daß dies auch seiner Lyrik gelingt.
Er wurde am 21. Juni geboren, dem Tag der Sommersonnenwende, an dem alles beginnt und alles endet, an dem der Zeiger der Jahreszeitenuhr seinen höchsten Punkt erreicht, an dem die Erdachse sich am nächsten der Sonne zuneigt, an dem zugleich aber der erneute Abstieg in die Finsternis beginnt. Sein Geburtsjahr ist 1945, ein Wendejahr, in dem alles endete und alles neu begann. Gestorben ist er am 21. März, dem Welttag der Poesie, dem ersten Tag des kalendarischen Frühlings, an dem man den Winter verabschiedet und der in Polen jahrelang der Tag des Schulschwänzers war, an dem Tausende Kinder zum Blaumachen aus den Schulen flüchteten. Bis zu diesem Jahr, weil im März 2021 die meisten Schulen geschlossen blieben.
Und seine Initialen sind A. Z., als habe das Pendel von einem zum anderen Ende des Alphabets ausgeschlagen und unterwegs alle Möglichkeiten der Sprache, die gesamte Skala, durchmessen. Doch das ist vielleicht allzu billige Kabbalistik. Ich erinnere mich an den Moment, als ich zum Studium nach Krakau kam. Der Kommunismus war gerade zusammengebrochen, die Zeiten hatten sich gewendet, es war das Umbruchsjahr 1989. Krakau war schmutzig – die Häuserwände fast schwarz, die Luft von Abgasen verunreinigt. Die achtziger Jahre in Polen waren Jahre der Erschöpfung, der Krise und des täglichen Kampfs. Selbst einfachste Alltagsdinge erforderten große Anstrengung. Das Leben schien aus nichts als Erschwernissen zu bestehen. Bei einem Straßenhändler an der Jagiellonen- Universität kaufte ich zwei oder drei Bücher, die bis dahin kaum zu bekommen gewesen waren, weil sie im kommunistischen Polen nicht publiziert werden durften: illegale Nachdrucke der Pariser und Londoner Ausgaben von Adams Gedichten und Essays. An diesem warmen Tag erlebte ich auf einer Parkbank im noch immer leicht unwirklichen Krakau einen Augenblick des Rauschs. Ich spürte, daß ich eine Lyrik gefunden hatte, die zum Element der Luft gehört: Sie ließ sich atmen. Man konnte sich erheben, oder anders – man konnte eintauchen und sich tragen lassen, so wie es der Körper im warmen Mittelmeer kann. »Für einen bezauberten Augenblick ist ihm alles gleich nah, alles gleich fern: denn er fühlt zu allem einen Bezug. Er hat nichts an die Vergangenheit verloren, nichts hat ihm die Zukunft zu bringen. Er ist für einen bezauberten Augenblick der Überwinder der Zeit.« (Hugo von Hofmannsthal, »Der Dichter und diese Zeit«) Damals, auf der Bank in den Planty, dem Grüngürtel um die Krakauer Altstadt, erblickte ich mein trauriges und schmutziges Land mit anderen Augen, jemand bestätigte, daß es in unserem Leben noch etwas anderes gibt, etwas auf den ersten Blick vielleicht Unsichtbares, das aber wichtiger und schöner ist, das Kraft und Mut spendet, das befreit. Noch kurz zuvor, in der Volksrepublik Polen, unterlagen diese Gedichte der Zensur. Wie armselig, schwach und niederträchtig, so dachte ich, muß ein Staat mit Zehntausenden Beamten sein, der sich vor einer solchen Lyrik fürchtet.
Es war eine sehr konkrete und polnische Lyrik, so polnisch, wie die polnische Erinnerung an das verlorene Lemberg nur sein kann. Und zugleich war sie losgelöst von den verfluchten polnischen Problemen, anders, weltläufig, frei. Und zwar nicht etwa deshalb, weil die Gedichte von der Wirklichkeit losgelöst gewesen wären, was die polnische Kritik ihnen bisweilen vorwarf, nein – sie handelten von der Wirklichkeit selbst, denn unsere Wirklichkeit ist eine doppelte, schon allein, weil sie aus Sichtbarem und Unsichtbarem besteht und zudem, mit Hegel gesprochen, von der »Furie des Verschwindens« bedroht wird und uns deshalb nur momentweise zugänglich ist. Poesie ist auch das Bewußtsein dieses Verschwindens, das Elegische, das Verabschieden der Wirklichkeit, ein Moment der Trauer, notwendig, damit wir nicht nur den Verlust, sondern auch das Übermaß an Hoffnung ertragen.
Ich schreibe das, weil manche Dinge nur einmal im Leben geschehen, wir können schweigend über sie hinweggehen, doch früher oder später wird uns das Schweigen über den Kopf wachsen und uns verschlingen. Wir können auch versuchen, für sie zu danken, und sei es unbeholfen, doch der Dank ist naturgemäß immer kleiner als das Geschenk. Um etwas beschreiben zu können, muß man auf Distanz gehen. Am besten wäre es, der Gegenstand der Beschreibung käme zum Stillstand, was in diesem Fall unmöglich ist, selbst wenn das Fixiermittel der Tod ist. Man kann nämlich nicht das Herz einer Glocke in Bewegung beschreiben, man kann allenfalls davon sprechen, was es auslöst. Nicht, weil es in diesem Fall wohl immer zu früh sein wird, Abstand zu gewinnen, sondern weil es vielleicht überhaupt unmöglich sein könnte, denn es ist schwer, sich ausreichend von sich selbst zu distanzieren. Wie Wallace Stevens schrieb: »Zitate sind deshalb von besonderem Interesse, weil niemand Worte zitieren wird, die nicht seine eigenen sind, von wem auch immer sie geschrieben wurden. Der ›wer auch immer‹ ist der Zitierende in anderer Gestalt, in einer anderen Zeit, unter anderen Umständen.« (Brief an Elsie Viola Kachel vom 7. Januar 1909) Es spielt keine Rolle, daß das, worüber ich schreiben will, unsichtbar oder ungreifbar ist – unsere Begegnung ereignete sich im Element der Luft und seither teilen wir etwas Ungreifbares. Dieses Ungreifbare ist nicht verschwunden, es ist immer noch hier, in mir, und eben deshalb ist es unmöglich, Abstand zu gewinnen. Das gilt übrigens für die meisten Nachrufe – was geschrieben wird, betrifft meist den Nachrufenden, nicht den Verstorbenen. Und das finde ich beruhigend.
FRÜCHTE
Ungreifbar ist das Leben, und nur
in der Erinnerung enthüllt es seine Züge,
nur im Nichtsein. Ungreifbar sind
die Nachmittage, reif und laut, die Blätter
voller Saft, die bauchigen Früchte, die raschelnde
Seide der Frauen (…). Ungreifbar die Berge am Horizont.
Der Regenbogen unberührbar. Die großen Felsen der Wolken
ziehen langsam über den Himmel. Ungreifbar,
reich, der Nachmittag. Mein Leben,
wirbelnd und ungreifbar, frei.
Übersetzung von Renate Schmidgall
2.
Adams Lyrik war anders als alles, was ich bis dahin gelesen hatte, zumal in der überwiegend düsteren und schweren Gegenwartslyrik mit ihrem trockenen, hölzernen Zungenschlag. Sie trug Raum und Atem in sich, sie war nicht eng, sondern barst schier von Licht. Sie war klar und leicht, sie war und ist – wie Adam selbst schreibt – »Suche nach Glanz«. Und sie war eine Lyrik der Freude – der Daseinsfreude, der Bewunderung für das Schöne und die Welt, der Freude darüber, ein Kind dieser Welt zu sein. Eine Freude wie die eines Bades im Mittelmeer. Er wußte und schrieb auch darüber, daß im selben Meer Flüchtlinge ertrinken, und er wußte und schrieb darüber, daß in Lemberg, das er so liebte, kurz vor seiner Geburt unzählige Menschen gestorben waren. »Das Gedicht wächst aus dem Widerspruch, aber es wächst diesen nicht zu«, schreibt er in »Ode an die Vielheit«. Er spricht die Welt nicht von Schuld frei, doch seine Gedichte tun, was Lyrik seit ihren Anfängen immer getan hat: Sie zelebrieren das menschliche Dasein, das menschliche Leben. Es ist schwer und manchmal nicht zu ertragen, doch die Welt verdient gepriesen zu werden, das Leben verdient, daß man dafür dankt, und das Gute ist stärker als das Böse. Czesław Miłosz bewunderte diese »Begeisterung für die Welt«. Adams Gedichte sind oft ekstatisch, orgasmisch, sie gehen vom Konkreten aus und steigern sich ins Hymnische, wie unter vielen anderen das Gedicht »Lava«, das eine Antwort auf Adornos berühmten Satz sein könnte, es sei barbarisch, nach Auschwitz Gedichte zu schreiben. Sie erzählen von Augenblicken des Glücks, in denen wir, wie Schopenhauer schreibt, »des schnöden Willensdranges entledigt (sind), wir feiern den Sabbath der Zuchthausarbeit des Wollens, das Rad des Ixion steht still«, und die Nietzsche als »ewige Wiederkunft« bezeichnete. Es ist eine leichte und zugleich durchdringende Lyrik, und wenn ich sie lese, kommt es mir vor, als sei der Kalender durcheinandergeraten und habe die Feiertage vergessen, von denen sie kündet.
(…)
Aus dem Polnischen von Bernhard Hartmann
SINN UND FORM 5/2021, S. 636-647, hier: S. 636-639
Ungenaue Karten, falsche Karten, verbrannte Karten. Karten, die so dicht mit Bedeutung gesättigt sind, daß sie unmöglich erklärt werden können (...)
LeseprobeRóżycki, Tomasz
Großmutters Haus. Eine Reise in die Ukraine
Ungenaue Karten, falsche Karten, verbrannte Karten. Karten, die so dicht mit Bedeutung gesättigt sind, daß sie unmöglich erklärt werden können und das Entwirren des Geflechts von Namen und Zeichen großen Schmerz bereitet. Ich tauche ein in das Dunkel und versuche, einige Winkel kurz zu erhellen. Ich beuge mich vor und sammle ein paar verkohlte Klumpen, Fetzen und Rußpartikel. Ich muß mich an die Erde schmiegen, mit dem Kopf ins hohe Gras des Bahndamms eintauchen. Ungerecht, wie überaus ungerecht sind diese Teile, diese Bruchstückchen. Nie wird man sie zu einem Ganzen fügen können, zu einem vollständigen, gerechten und objektiven Bild. Immer ist es bloß ein Bruchstück, das man retten und entziffern konnte, der Rest – wo ist der Rest? Ich weiß es nicht, noch immer hat diese Geschichte für mich mehr Unbekanntes als Bekanntes. Die schwarzen, verkohlten Fragmente könnten vieles erklären. Ich weiß nur, was ich gesehen habe und was mir erzählt wurde. Und man erzählte mir nur so viel, wie man erzählen wollte. In jeder Geschichte gibt es mehr Verschwiegenes als Erzähltes, jede Geschichte hat ihre schwarzen, verbrannten, verkohlten, nicht zu entziffernden Stellen. Deshalb weiß ich, daß es keine gute Version gibt – es wird immer etwas geben, das ich übergehe, etwas Mißachtetes, das nach Stimme verlangt, ein unentdecktes Unrecht. Ein unausgesprochenes Glück, das der Wind mit sich davontrug. Mögen mir also alle verzeihen, deren Namen ich aufrufe. Die verbrannte, verkohlte Geschichte des Bösen und des Guten, die ungerechte, mehrdeutige, grausame Geschichte der polnischen Kolonisierung der Ukraine, das alles ist längst vergangen. Für die einen ein schönes, für die anderen ein schwarzes Kapitel. Es blieben die in der Luft schwebenden Fetzen und Rußpartikel, Menschen wie ich.
2004 reiste ich – zum zweiten Mal in meinem Leben – in die Ukraine. Anlaß war das Literaturfestival in Lemberg, zu dem mich der unvergessene Nasar Hontschar eingeladen hatte, der in einem späteren Sommer während eines anderen Dichtertreffens ertrank – die Nachricht von diesem Unglück kursierte unter Freunden und Bekannten lange als Scherz, weil niemand die Banalität dieses Unglücks wahrhaben wollte; alle hielten es für einen neuen Bluff, eine neue Performance Nasars, der zu den mannigfaltigsten Verwandlungen fähig war. Auf dem Lemberger Festival kündigte er meinen Auftritt als echter Jesushipster an – mit langen Haaren und langem, vollen Patriarchenbart. Auf dem Kopf trug er einen Anglerhut, wie er zur Grundausstattung von Tausenden unserer Landsleute gehörte, die in den neunziger Jahren ihre ersten Reisen nach Europa unternahmen. Als ich meine Gedichte las, verschwand Nasar kurz, um am Ende der Lesung komplett umgestylt wieder aufzutauchen, mit kahlgeschorenem Kopf, Tschub und langem gezwirbeltem Schnurrbart. Er sah aus wie ein echter Kosake. Auf der anschließenden Party in einer Wohnung unweit des Mickiewicz-Denkmals schlief er im lautesten Gesang auf einem Sessel ein und verharrte so bis zum Morgen, als ich ihn wie den Geist eines Taras Bulba oder Samuel Zborowski erblickte, mit der obligatorischen Pfeife und einem Rhabarbarstengel statt eines Säbels. So wird er mir im Gedächtnis bleiben.
Damals in Lemberg besuchte ich, während Nasar noch döste, einige Orte mit Bezug zur Geschichte meiner Familie, die nach dem Zweiten Weltkrieg kraft der Übereinkunft zwischen den Siegern Stalin, Churchill und Roosevelt aus dieser Gegend zwangsausgesiedelt worden war. Die Grenzen Polens wurden nach Westen verschoben und die in den an die Sowjetunion verlorenen Gebieten lebenden Polen in Güterwaggons nach Pommern und Schlesien gebracht, wo ich bis heute lebe. Millionen Menschen mußten ihre Wohnungen aufgeben, ihre Nachbarn, Traditionen, Erinnerungen und weiß Gott was noch – etwas, das sich seit Jahrhunderten in dieser Region abspielte. Der Zweite Weltkrieg traf besonders die dort lebenden Menschen: Polen, Juden, Ukrainer, Armenier, Karäer, Roma – alle, die dort seit Jahrhunderten ein einzigartiges Mosaik von Kulturen und Sprachen bildeten. Sie erlitten den Terror der sowjetischen Besatzung: Massenhinrichtungen und millionenfache Deportation in den Gulag, die Arbeitslager im russischen Hinterland. Später kam der NS-Terror hinzu, als sich die Deutschen zur Schaffung von »Lebensraum« an die systematische Auslöschung der einheimischen Bevölkerung machten, angefangen mit der planmäßigen Vernichtung der Juden, der Anstiftung zu Morden und Pogromen. Durch die Schreckensherrschaft der Nationalsozialisten wurde auch die in den Jahren der polnischen Repressionen gegen die Ukrainer angestaute böse Energie freigesetzt, was zu einem unvorstellbar grausamen Bürgerkrieg zwischen Polen und Ukrainern führte, einer Art antipolnischem Aufstand, ethnische Säuberung und Massaker in einem. Es war ein Krieg, in dem Nachbarn Nachbarn mordeten, und die Zahl der Opfer und die Monstrosität der Taten erinnern an die ethnischen Säuberungen im ehemaligen Jugoslawien, die Jacques Derrida von einer Krise Europas sprechen ließen. Meine Familie gehörte zu denen, die alle Varianten des Terrors erlitten und viele Opfer zu beklagen hatten. Die Absurdität des Ganzen wurde noch dadurch vertieft, daß sich als Folge von jahrhundertelangem Zusammenleben und Mischehen in meiner Familie Urgroßmutter Ernestyna (die im »Adreßbuch für Polen« von 1929 als Besitzerin eines Fleischladens in der Ulica Traugutta 1a in Lemberg figurierte) und Urgroßvater Józef (der seine tatarische Abstammung betonte) begegneten, die polnischsprachige Paczkowska und der ukrainische Sawran, die ukrainischen Michaliszyns und die ungarischen Majors und Pics (Pitz). So wenig wir sagen können, wie diese Namen ursprünglich klangen und was sie bedeuteten, so wenig wissen wir, was jene – excusez le mot – »Identitäten« bedeuteten und aus welchen früheren Vermischungen, Mißverständnissen oder Simplifizierungen sie hervorgingen. Ganz zu schweigen von den komplizierten Religionszugehörigkeiten. Sprache, Ethnie und Religion einer einzelnen Person waren oft – nach nationalistischen Kriterien – absolut »unidentisch«. Töchter mit polnischen Vornamen, Söhne mit ukrainischen oder umgekehrt – das war eher die Norm. Die entlang der ethnischen Schnittstellen gezogenen Grenzen verliefen quer durch die Familien. Die Brüder meiner Großmutter Różycki, die Sawranows, waren im ukrainischen Untergrund aktiv, sie wurden vom NKWD verhaftet und unter freiem Himmel in einem provisorischen Gefangenenlager am Bahnhof von Lemberg gefangengehalten, bevor man sie in den Gulag deportierte. Meine Großmutter brachte ihnen Wasser. Ihr Ehemann, mein Großvater Różycki, war – was er lange nicht zugeben wollte – im polnischen Untergrund. Von den Tätowierungen, die dieser Lemberger Batiar seit seinem Dienst in der polnischen Handelsmarine auf dem Arm trug, sind mir besonders die Erkennungszeichen der Lemberger Patrioten – Löwen und der Schriftzug »Semper Fidelis« – sowie die nackte Meerjungfrau in Erinnerung geblieben. Die Traditionen durchdrangen einander wie die Sprachen, wie der sogenannte Bałak, ein regionaler Jargon, in dem sich Ukrainisch, Polnisch, Jiddisch und Deutsch mischten. Die Feiertage vieler Religionen wurden gemeinsam begangen, die Speisen vieler Küchen standen dabei auf dem Tisch. Das gemeinsame Spiel der Kinder im Hof, die gegenseitige Hilfe bei der Arbeit, das gemeinsame Singen bei allen möglichen Gelegenheiten, schlüpfrige Gedichte sowie Witze und Redewendungen – die Jahrhunderte des Zusammenlebens, der kleinen Gesten der Freundschaft und der Toleranz bewirkten in den wechselseitigen Beziehungen mehr Gutes als Schlechtes. Doch das Böse hat leider eine entsetzliche Kraft und vermag in einer Sekunde zu zerstören, was in Jahrhunderten aufgebaut wurde, und den Reichtum des Multikulturellen in einen blutigen, zerschnittenen und zerfetzten Knoten zu verwandeln.
Damit das Böse mit solcher Macht ausbrechen kann, muß es auf fruchtbaren Boden treffen. Die Geschichte des Unrechts in dieser Region ist ebenso lang wie die Geschichte des geradezu legendären Sinns für Humor ihrer Bewohner, und ich denke, daß die polnische Seite darin zu den Hauptschuldigen gehört – nur daß sie sich, wie immer in solchen Fällen, um keinen Preis zu ihrer Schuld bekennen will. Die Geschichte dieses Teils der Welt ist keine besondere, sie unterscheidet sich nicht von der anderer Regionen von Asien über den Balkan bis Afrika. Es ist immer eine Geschichte des Leids und des Gefühls von erlittenem Unrecht, das die Gegenwart und das zukünftige Leben vergiftet, eine Geschichte des Nichtverstehens und der Nichtverständigung, über die man eine Brücke schlagen muß, damit sich die Menschen begegnen können.
Ich fuhr damals in den Ort, in dem vor dem Krieg das Haus meiner inzwischen neunzigjährigen Großmutter stand. Sie selbst hatte gewünscht, daß ich – wenn ich so viele Jahre nach dem Alptraum des Krieges zum ersten Mal dorthin käme – nachschaue, ob von ihrem Haus etwas übriggeblieben sei, wenngleich sie sich diesbezüglich kaum Illusionen machte. Sie hatte die leise Hoffnung, daß noch die gemauerte Muttergotteskapelle im Hof existierte, das Wahrzeichen nicht nur des Hauses, sondern ihres ganzen Lebens dort vor dem Krieg. Meine Großmutter glaubte, die Muttergottes habe ihr und ihren Kindern in jener Zeit vielfach das Leben gerettet.
Alles, was ich wußte, wußte ich aus Familiengeschichten. Und wir wissen ja, wie solche Geschichten sind. Stark emotional aufgeladen, bisweilen allzu stark. Sehr wahr, weil sehr subjektiv und mit sehr subjektiven Emotionen aufgeladen. Und deswegen auch immer falsch. Deshalb hört man in strittigen Fällen am besten beide Seiten an. Oder zumindest mehrere Zeugen. Leider ist das nicht immer möglich, weil es manchmal keine Zeugen mehr gibt. Als meine Großmutter 1945 ihr Haus verlassen mußte, gab sie die Schlüssel einer obdachlosen Frau mit Kleinkind, die damals im Ort auftauchte und einige Zeit heimlich in einer Scheune oder auch auf freiem Feld übernachtete. Sie wurde anscheinend Kowalicha genannt. Ich muß nicht hinzufügen, daß sie Ukrainerin war. Großmutter war nicht vermögend, aber sie besaß ein Haus (ein Holzhaus mit gemauertem Sockel). Die Armen und Obdachlosen in dieser Gegend waren meist Ukrainer. Die Polen bildeten – von offensichtlichen Ausnahmen abgesehen – in der kolonialen Wirklichkeit eine privilegierte Klasse. Meine Großmutter war vor dem Krieg als Frau eines polnischen Eisenbahners im Staatsdienst in einer weitaus besseren Lage als ihre jüdischen oder ukrainischen Nachbarn. Während des Kriegs fürchtete sie dennoch oft um ihr Leben, ihr Haus stand an einer gut sichtbaren Stelle unweit der Bahnstation. Als 1943 die Deutschen und die ukrainische Polizei in Hlynjany und Solotschiw Juden ermordeten, sah sie, was geschah. Vor ihrem Haus standen jüdische Frauen mit Kindern, die wie durch ein Wunder entkommen waren und die ein Nachbar nach dem anderen fortjagte. Großmutter, selbst mit einem Kind auf dem Arm, konnte ihnen keine Zuflucht gewähren – sie sah am Horizont das brennende Ghetto, sie wußte, die Nachbarn schauten genau hin, und jederzeit konnte einer sie denunzieren, was für sie und ihre Kinder das Todesurteil bedeutet hätte. Sie konnte den Jüdinnen nur Brot anbieten und zusehen, wie sie weiterzogen, vermutlich in den Tod, der schon im nahen Wald, auf der Straße oder am Bahnhof lauern konnte. Vielleicht empfand sie eine unausgesprochene Schuld an dem, was sie mit ansah, und vielleicht gab sie deshalb, als die Sowjets einen Zug hinstellten, der die Polen ein für allemal fortbringen sollte, der obdachlosen jungen Frau mit dem Kind die Schlüssel zu ihrem Haus.
So erzählte sie es mir: Lieber so als das Haus leer zurückzulassen. Es war eine Geste der Barmherzigkeit, aber vielleicht hoffte sie auch insgeheim, mit der Übergabe der Schlüssel an eine Bedürftige wäre das Haus sicher bis zu ihrer – sofern ein solches Wunder geschehen würde – glücklichen Rückkehr. Von den im Ort zurückbleibenden Nachbarn konnte diese Geste außerdem als Ausdruck der Feindseligkeit oder zumindest des Mißtrauens verstanden werden. Eine Polin, ihre Bekannte und langjährige Nachbarin, mit der sie die Mühen und Nöte des Lebens und des Krieges geteilt hatten, legte die Schlüssel und die Obhut über ihr Haus – sicher nicht das ärmste in der Gegend – in die Hände nicht ihrer nächsten Nachbarn und Bekannten, sondern einer Fremden, einer Landstreicherin, die niemand kannte und die vermutlich ihr Leben nicht im Griff hatte. Das sagt wohl einiges über die Verhältnisse in diesem Ort. Als der Zug abfuhr, weinten die polnischen Passagiere, und mit ihnen ihre ukrainischen Nachbarn. Eine Epoche ging unwiderruflich zu Ende. Natürlich weinten nicht alle, denn viele hatten auch heimlich oder offen das Verschwinden der Polen herbeigesehnt, weil für sie damit nämlich die Epoche des offenen und verborgenen Kolonialismus und der Geringschätzung endete. Und auch manche Polen waren erleichtert – sie wollten dieses verfluchte Land womöglich für immer verlassen. Denn dieses Land, das im Laufe der Jahrhunderte von vielen Volksgruppen bewohnt wurde, aber im Grunde ukrainisch war, war von Polen gleich nach dem Ersten Weltkrieg als Resultat eines kurzen Kriegs gegen die Ukrainer besetzt worden. Seit dieser Zeit lebte ein großer Teil der Bevölkerung dieses Landes unter polnischer Besatzung, und man darf nicht vergessen, daß die Polen hier – seit Jahrhunderten – nicht bloß herrschten, sondern Besatzer waren. Und das sollte nun enden, sie wurden in die nach dem Zweiten Weltkrieg dem polnischen Staat zugesprochenen Gebiete an Oder und Ostsee ausgesiedelt. Die Gegend war unsicher, und im Dorf kam es zu Überfällen und Morden. Im Nachbardorf Scheniw, so erzählte Großmutter, ermordete jemand Tante Leonka – mutmaßlich unter dem Vorwand, er wolle sie zur Bahnstation bringen. Die Leiche fand man am nächsten Tag unter Stroh am Wegrand. Ihre Habe war geraubt worden, das Haus geplündert, die Täter hatten nach Gold und Wertgegenständen gesucht. Später hämmerten nachts »Jungen aus dem Wald« ans Fenster des Hauses von Großmutters geliebtem achtzigjährigen Großvater (diese Geschichte erzählte sie mir oft) und sagten, auf Befehl der UPA habe er bis zum Morgen Zeit, sich auf den Weg nach Polen zu machen. Mein Ururgroßvater kannte die Jungen, sie kamen aus den Nachbardörfern. Er ging zu ihnen hinaus und sagte auf Ukrainisch, sie kennten ihn doch, er sei hier geboren wie sie, sie seien ein Blut und er, Michaliszyn, sei zu alt, um woanders hinzugehen. Wenn sie wollten, sollten sie ihn an Ort und Stelle umbringen. Sie brachten ihn nicht um, aber sie schlugen ihn zusammen und ließen ihn vor der Tür liegen, dann zündeten sie das Haus an. Er starb einige Tage später. Als meine Großmutter mit ihren zwei kleinen Kindern abreiste, machte sie sich keine großen Illusionen, ob sie irgendwann an diesen Ort zurückkehren dürfe und wolle, an dem so viel Böses geschehen war. Auf diesen Boden, auf dem einst die Polen ihre ukrainischen Nachbarn unterdrückten und peinigten, auf dem die Sowjets eine Lektion ihres unmenschlichen Systems gaben, indem sie nachts Tausende Menschen zum Sterben abholten, und auf dem die Deutschen zeigten, daß man Juden, Homosexuellen, Sinti und Roma und allen slawischen Untermenschen das Menschsein absprechen und sie ungestraft ermorden konnte. Auf diesen Boden, wo ein Bruder den anderen ermordet hatte und von dem so viele Nachbarn verschwunden waren – wie hätte man da in Frieden leben können?
Sie verließen ihre Häuser in einem Klima der Angst. Die Sowjets, die die Aussiedlung organisierten, waren alles andere als vertrauenswürdig. Noch drei Jahre zuvor hatten sie bei Frost Menschen in dieselben Waggons gepfercht und in den fernen Norden deportiert, in die sibirischen Lager und nach Kasachstan. Schon 1940 und 1941 waren viele Nachbarn und Familienangehörige deportiert worden, darunter Großmutters Bruder Staszek, der erst Jahre später, gegen Kriegsende, zurückkehrte. Er lief eine ungeheure Strecke zu Fuß, bis er in einem etwa zehn Kilometer entfernten Ort Unterschlupf fand. Großmutter erfuhr es, als eines Abends ihre Schwester zu Besuch kam und ohne ein Wort eine Metallschüssel auf den Tisch stellte, den einzigen Gegenstand, den der Bruder in der Nacht seiner Deportation hatte mitnehmen dürfen. Die beiden Frauen weinten vor Glück, erzählten aber niemandem davon. Der Bruder blieb in seinem Versteck, bis eines Tages wieder Deportationen angekündigt wurden, diesmal nach Westen. Tante Malwinka, die erst 1956 aus Rußland zurückkehrte, verlor dort ihren Mann und ein Kind, das zweite wurde ihr weggenommen und in ein weit entferntes Pionierlager gesteckt. Erst nach dem Krieg fanden sie sich durch einen glücklichen Zufall wieder und gingen nach Polen – nicht in die Heimat, sondern in die Westgebiete an der Oder. Andere, entferntere Cousins kehrten nie aus der Verbannung zurück. Manchen gelang die Flucht. Der Bruder meines Großvaters, Stefek, kam dank des Sikorski-Maiski-Abkommens aus dem Lager frei und schaffte es trotz extremer Entkräftung, Sowjetrußland mit der Anders-Armee zu verlassen. Das Glück blieb ihm auch auf dem Kaspischen Meer und in Persien hold, wo er schwer erkrankte. Als er im Frühjahr 1944 nach langer Rekonvaleszenz wieder auf die Beine kam, wurde das 2. Polnische Korps, in dem er als Pionier diente, nach Italien verlegt, nach Monte Cassino, wo seit vielen Monaten blutige Kämpfe zwischen den Alliierten und der Wehrmacht tobten. Eigentlich hatte das für Anders’ Soldaten wenig Sinn, in Jalta war entschieden worden, daß sie nicht in ihre Heimat würden zurückkehren können. Sie kämpften trotzdem. Und wieder hatte er Glück: Die Schlacht wurde gewonnen, Monte Cassino erobert, die Deutschen zogen sich zurück. Er kam zehn Tage später ums Leben, beim Entminen eines Gebäudes im schönen Städtchen Piedimonte. Sein Grab befindet sich auf dem polnischen Friedhof in Monte Cassino.
Als mich einmal ein kanadischer Schriftsteller bat, ihm diese Geschichte zu erzählen und zu erklären, konnte ich es nicht. Vielleicht schreibe ich sie deshalb jetzt auf, im Bewußtsein, daß sie ein Sumpf ist, in dem ich mit jedem Wort tiefer einsinke, denn kein Wort ist unschuldig in solchen Geschichten. Jedes ist ungerecht und verletzend.
Als ich meiner Großmutter erzählte, daß ich nach so vielen Jahren diese Gegend besuchen wollte, war sie erst entsetzt und riet mir ab. Sie fürchtete, mir werde dort ein Unglück geschehen. Jahrelang hatte man nicht hinfahren können, der Ort lag in der Ukrainischen Sowjetrepublik, er war Teil der UdSSR. Die Grenzen waren mit Wachposten und Stacheldraht gesichert. Die Kontakte dorthin waren abgerissen oder wurden zensiert und überwacht. In dieser Zeit wuchsen im traumatisierten Gedächtnis der Menschen Widerstand und Furcht. Man erzählte sich, oft hinter vorgehaltener Hand, Geschichten über Massaker, Verbrechen und Ungerechtigkeiten, die nie gesühnt oder dokumentiert worden waren. Mit den Jahren wuchs das Gefühl von Unrecht, Verrat und Trauer, man kultivierte es wie ein religiöses Ritual zur Feier des unschuldigen Leidens, bis es schließlich zur Phobie wurde. Auf die Nachricht, daß ich in die Ukraine fahre, reagierten die meisten Großmütter in der Nachbarschaft empört. Sie alle hatten die schlechteste Meinung von den Ukrainern, obwohl fast alle selbst ukrainische Vorfahren hatten und manche sogar ukrainische Namen trugen. Sie sangen immer noch ukrainische Lieder, aßen an Feiertagen traditionelle ukrainische Gerichte. Das waren unsere Nachbarn, sagten sie, aber nicht jedem konnte man trauen. Doch je länger wir uns unterhielten, desto offensichtlicher lebten nach und nach die guten Erinnerungen auf. Ich bin sicher, hätte es nicht die Vertreibung und die räumliche Trennung gegeben, hätten die Menschen sich wenigstens einmal mit ihren früheren Nachbarn treffen und austauschen können, dann wäre das Verhältnis ein anderes gewesen. Doch irgendwem war sehr daran gelegen, daß es dazu nicht kam. »Ich mache mir keine Illusionen, was das Haus angeht«, sagte Großmutter. »Es steht sicher nicht mehr, aber vielleicht ist die Kapelle am Weg noch da. Du findest die Stelle, nicht weit vom Bahnhof, mitten im Dorf. Da stand das Haus meiner besten Freundin, Alina, vielleicht lebt sie immer noch dort. Wir haben im Hof gespielt und die Feiertage zusammen verbracht, die katholischen bei mir und die unierten bei ihr. Wir waren wie Schwestern.«
Und so fuhr ich. (…)
Aus dem Polnischen von Bernhard Hartmann
SINN UND FORM 2/2023, S. 188-201, hier S. 188-195