Pitschmann, Siegfried
(1930 –2002), Erzählprosa und Hörspiele. Posthum erschienen seine Erinnerungen (»Verlustanzeige«, 2004) sowie, herausgegeben von Kristina Stella, der Briefwechsel mit Brigitte Reimann (»Wär schön gewesen!« 2013) und der Roman »Erziehung eines Helden« (2015). (Stand 3/2016)
Siehe auch SINN UND FORM:
- 2/1968 | Fünf Versuche über Uwe
- 3/2016 | Aufzeichnungen eines Lehrlings. Mit einer Vorbemerkung von Kristina Stella
Vorbemerkung Siegfried Daniel Pitschmann, ein kaum bekannter ostdeutscher Meister der Short story, wurde am 12. Januar 1930 im niederschlesischen (...)
LeseprobePitschmann, Siegfried
Aufzeichnungen eines Lehrlings
Vorbemerkung
Siegfried Daniel Pitschmann, ein kaum bekannter ostdeutscher Meister der Short story, wurde am 12. Januar 1930 im niederschlesischen Grünberg (heute Zielona Góra) geboren und war das zweitälteste von sechs Kindern des Tischlermeisters Daniel Pitschmann und seiner Frau Lucie, die einer alteingesessenen schlesischen Handwerker- und Lehrerfamilie entstammte. Anfang 1945 wurde die Familie mit einem der letzten Flüchtlingszüge, die unversehrt aus Grünberg herauskamen, evakuiert. Zwei Kinder lebten schon nicht mehr: Siegfrieds kleine Schwester Dorothea starb mit zehn Monaten, der ältere Bruder Gottfried war, noch nicht achtzehnjährig, in den letzten Kriegsmonaten gefallen. Die Familie landete nach mehr als vierzehntägiger Fahrt in Mühlhausen in Thüringen. Pitschmanns Kindheit war, wie er später sagte, »für immer verloren«.
In zahlreichen literarischen Texten, die ab 1946 entstanden, verarbeitete er seine Erlebnisse. Auslöser war ein Preisausschreiben des Volksbildungsministeriums, bei dem das beste Jugendbuch Thüringens prämiert werden sollte. Pitschmann las in der Zeitung davon und begann spontan zu schreiben. Wegen seines »beachtlichen Erzähltalents« erhielt der Sechzehnjährige für die Erzählung »Monika und Friederchen« einen Anerkennungspreis. Er entdeckte Rilke, dem er sich seelenverwandt fühlte. 1948 begann er mit den »Aufzeichnungen eines Lehrlings« – eines Lehrlings, der eigentlich Modelltischler oder Musiker sein wollte, bis ihn die Liebe zu den Uhren packte. Die handwerkliche Präzision des Uhrmachers wurde zum Markenzeichen von Pitschmanns Texten; doch die Perfektion, die er sich abverlangte, hatte ihren Preis. Das Leben schien ihm voll unüberwindlicher Hürden und kaum verkraftbarer Verluste. Schreibend versuchte der sensible junge Mann mit der ungewöhnlichen Beobachtungsgabe seine Gefühle zu kanalisieren. In immer neuen Variationen bearbeitete er seine Themen, wechselte die Protagonisten, kombinierte Szenen. Er schrieb und schrieb.
Um 1950 entstand ein unbetitelter Prosatext. Das Typoskript umfaßt 49 Seiten. Die assoziativ aneinandergereihten Episoden können als Summe seines literarischen Frühwerks gelten. Pitschmann stand damals an der Schwelle eines neuen Lebensabschnitts und versuchte die traumatischen Erlebnisse hinter sich zu lassen. »Es soll keiner sich überreden lassen, das Nachstehende etwa als Biographie eines Bestimmten aufzufassen, es kann jeder gemeint sein. Du, ich, tausend. Es sollen nur in einer scheinbar lockeren Aneinanderreihung von Geschehen die Kräfte sichtbar gemacht werden, die in einem jungen Menschen und um ihn herum streiten und wirken und ihn formen«, heißt es im »Vorspruch« zum Text. Gleichwohl werden die autobiographischen Bezüge deutlich, es geht um die Erfahrungen der um 1930 Geborenen, die als Kinder vom Krieg geprägt wurden und dann den Aufbau des Sozialismus miterlebten. Die folgenden drei Episoden aus dem Typoskript werden hier erstmals veröffentlicht.
Das Werk Siegfried Pitschmanns ist trotz seiner vielversprechenden Anfänge schmal geblieben. Der Grund dafür war die Auseinandersetzung um sein Romanmanuskript »Erziehung eines Helden«, anhand dessen der Schriftstellerverband der DDR ein Exempel gegen die sogenannte »harte Schreibweise« statuierte. Aus der Berliner Zeitung vom 26. Juni 1959 mußte Siegfried Pitschmann erfahren, was seit Wochen hinter seinem Rücken lief : »Stilistisch äußert sich die ›harte Schreibweise‹ vor allem in Elementen wie Wiederholungen, stereotypen Redewendungen, aufgelösten Sätzen, vor allem aber im häufigen Gebrauch von Vokabeln aus dem Verbrecher- oder Kommiß-Jargon. Vorbild für unsere Autoren waren die Amerikaner Hemingway, Mailer, Jones und andere. Der ›hard boiled style‹ hat seine Wurzeln in einer zutiefst pessimistischen und nihilistischen Weltauffassung. Sie sehen ihre Umwelt als schlecht an (was größtenteils berechtigt ist), aber sie halten sie für unabänderlich. Einer unserer jungen Autoren arbeitet an einem Werk, das den Aufbau der ›Schwarzen Pumpe‹ zum Inhalt hat. Die Menschen, die hier arbeiten, werden als ständig betrunken, geldgierig und ohne moralischen Halt geschildert.« Der neunundzwanzigjährige Pitschmann wurde als Autor wie als Person gedemütigt und demoralisiert und unternahm sogar einen Selbstmordversuch. Sein Romanmanuskript konnte nicht erscheinen.
Vor dem Hintergrund seiner frühen Texte und ihres autobiographischen Gehalts erschließt sich erst die Tragweite des Geschehens. In dem 2005 posthum erschienenen Erinnerungsband »Verlustanzeige« schrieb er: »Es war ein entsetzliches Abschlachten, ein Strafgericht. Für mich war in dieser einen Stunde alles aus. Etwas in mir zerbrach.« Pitschmann war damals in zweiter Ehe mit seiner Schriftstellerkollegin Brigitte Reimann verheiratet. Es gelang ihm zwar, wieder auf die Beine zu kommen, doch sein Selbstvertrauen blieb beschädigt. Mit Reimann schrieb er die Hörspiele »Ein Mann steht vor der Tür« und »Sieben Scheffel Salz«. Ein gemeinsamer Neuanfang in Hoyerswerda und im Kombinat Schwarze Pumpe schuf zusätzlichen Abstand. Zu eigenen Arbeiten fehlte ihm vorerst der Mut; zu groß war die erlittene Ungerechtigkeit. Ähnliches widerfuhr einige Jahre später seinem Kollegen Werner Bräunig mit dem Roman »Rummelplatz«.
Trotz der vernichtenden Kritik war im Aufbau-Verlag ein Erzählband Pitschmanns geplant. Brigitte Reimann ermutigte ihren Mann dazu, seine fertigen Texte durchzusehen und für den Band bloß noch zu bearbeiten. Das gelang, und so konnte »Wunderliche Verlobung eines Karrenmanns« 1961 erscheinen. Beim Variieren, Bearbeiten und Kombinieren blieb es, Pitschmann verband neue Erzählungen mit »allerlei Themen«, die er »noch auf Lager« hatte, zu »gemischten short stories«. So beschrieb er seinem Verleger Günter Caspar seinen Arbeitsstil, mit dem er die Schreibhemmungen zu kompensieren suchte. Dennoch blieben viele der frühen Texte unveröffentlicht. Mit Wehmut dachte er an deren Entstehungszeit zurück: »Warum nicht einfach heruntererzählen ohne Rücksicht auf Ballast? Warum schon das Lektorat vor dem Lektorat? Ein Teufelskreis aus Pedanterie, Vorsicht und Verkürzungssucht, den es nur selten zu durchbrechen gelingt. Ich denke voll Neid und Eifersucht an das dicke Manuskript, das ich unbekümmert, ohne Hemmungen in vierzehn Tagen schrieb; freilich war ich damals achtzehn Jahre alt, und natürlich konnte die Arbeit nicht gedruckt werden.« Pitschmann lebte nach seinem Weggang aus Hoyerswerda fünfundzwanzig Jahre in Rostock, war dort Vorsitzender des Bezirks-Schriftstellerverbandes und bei Hanns Anselm Perten am Volkstheater künstlerisch-wissenschaftlicher Mitarbeiter und Dramaturg, bevor er 1990 nach ThürinPischmanngen zurückkehrte, wo er bis zu seinem Tod im Jahr 2002 in einer bescheidenen Zweizimmerwohnung in Suhl lebte. Seine vier Ehen, aus denen drei Kinder hervorgingen, brachten ihm kein langfristiges privates Glück. In seinen letzten Lebensjahren engagierte er sich in der »Literarischen Gesellschaft Thüringen« und setzte sich für junge Autoren ein. 1976 erhielt Pitschmann den »Heinrich-Mann-Preis« der Akademie der Künste der DDR, 1978 den »Louis-Fürnberg-Preis«. Die Erzählbände »Kontrapunkte« (1968), »Männer mit Frauen» (1974), »Auszug des verlorenen Sohns« (1982), »Elvis feiert Geburtstag« (2000) und das Szenarium zu Lothar Warnekes Spielfilm »Leben mit Uwe« (1974) sowie das erfolgreiche Theaterstück »Er und Sie« (1976) sind seine wichtigsten Werke. Pitschmanns einziger Roman »Erziehung eines Helden« wurde jüngst aus dem Nachlaß herausgegeben; seine unveröffentlichten Erzählungen und Hörspiele sind noch zu entdecken.
Kristina Stella
SINN UND FORM 3/2016, S. 323-331, hier S. 323-325