Mensching, Steffen
geb. 1958 in Ost-Berlin, Schriftsteller, Schauspieler, Regisseur, Intendant des Theaters in Rudolstadt, wo er auch lebt. Mitglied der Akademie der Künste. Zuletzt erschienen die Romane »Schermanns Augen« (2018) und »Hausers Ausflug« (2022). (Stand 5/2023)
Siehe auch SINN UND FORM:
- 5/1989 | Berliner Elegien
- 5/2023 | »Ich dachte, ich hätte Vergangenheit rekonstruiert, aber ich habe Zukunft beschrieben.« Ein Gespräch mit Achim Engelberg über Dokumente, Phantasie und Literatur
- 5/2023 | Das Wort. Eine Umkreisung in vier Runden
Befristetes Angebot:
Den gesamten Beitrag kostenlos als PDF herunterladen.
1
Im Archiv der Berliner Akademie der Künste liegt eine achtzig Seiten starke Broschüre, die 1932 im Verlag Ida Graetz in Berlin-Charlottenburg erschien. Der Titel lautet wenig spektakulär: »Das Wort«. Später ergänzte der Autor Rudolf Leonhard die Publikation um die Unterzeile »Versuch eines sinnlichen Wörterbuchs der deutschen Sprache« und behauptete, damit die »zärtlichste und lauterste Liebeserklärung, die je der deutschen Sprache gemacht worden ist«, verfaßt zu haben. (...)
Mensching, Steffen
Das Wort. Eine Umkreisung in vier Runden
1
Im Archiv der Berliner Akademie der Künste liegt eine achtzig Seiten starke Broschüre, die 1932 im Verlag Ida Graetz in Berlin-Charlottenburg erschien. Der Titel lautet wenig spektakulär: »Das Wort«. Später ergänzte der Autor Rudolf Leonhard die Publikation um die Unterzeile »Versuch eines sinnlichen Wörterbuchs der deutschen Sprache« und behauptete, damit die »zärtlichste und lauterste Liebeserklärung, die je der deutschen Sprache gemacht worden ist«, verfaßt zu haben. Als er 1950 aus dem Exil zurückkehrte, steckte in seinem Gepäck ein Exemplar der Studie, die er in den Jahren der Emigration handschriftlich bearbeitet hatte. Die Neuausgabe war eine der Illusionen, die er sich machte, als er in der jungen DDR, dem demokratischen Deutschland, wie der Dichter gesagt hätte, seinen Wohnsitz wählte. Er sollte keine Wiederauflage seiner Texte aus der Zwischenkriegszeit erleben.
Vermutlich erfuhr er auch nie, daß ihm und seiner Untersuchung von einem Kollegen Beachtung geschenkt wurde, der wie er durch Emigration und Vertreibung an Popularität verloren hatte, dem aber – im Gegensatz zu ihm – eine Renaissance und ungeahnter Nachruhm bevorstand. Der Philosoph Walter Benjamin hatte seinem Freund Gershom Scholem in Jerusalem am 25. Oktober 1932 in einem Brief aus Italien »Das Wort« als lesenswert empfohlen, nicht ohne spitzzüngig anzumerken, diese Leistung sei um so erstaunlicher, als es sich bei Leonhard um einen »bis dato recht unbeträchtlichen Literaten« handele. »So bedenklich ihr völliger Mangel an theoretischer Fundierung« sei, gebe die »kleine sprachphilosophische Studie« doch ungewöhnlich viel Stoff zum Nachdenken.
Der Kulturkritiker war nicht der einzige bedeutende Kopf, dem die Publikation auffiel. Lobende Rezensionen verfaßten Joseph Roth, Hermann Hesse, Marcel Brion und Hans-Adalbert von Maltzahn. Im Literaturblatt der »Frankfurter Zeitung « vom 14. August 1932 beschrieb Roth die Schrift als »merkwürdigen Versuch «, keineswegs eine im althergebrachten Sinne philologische Arbeit, eher eine aphilologische oder antiphilologische. »Leonhard möchte nachweisen, daß die Wörter – in seinem Sinne sagt man vielleicht besser: die Worte – ein klangliches und optisches, gewissermaßen sogar bewußt klangliches (und optisches) Leben führen – unabhängig von ihrer philologischen Bedeutung, ihrer Herkunft und (um einen modernen Ausdruck rascherer Verständlichkeit halber zu gebrauchen): ihrer ›Rasse‹.«
Die Formulierung Roths irritiert den heutigen Leser. Es ist anzunehmen, daß der Romancier den Begriff Rasse sechs Monate später nicht mehr benutzt hätte. Nach Hitlers Ernennung zum Reichskanzler, dem Reichstagsbrand, dem Wahlsieg der NSDAP am 5. März 1933 kam es in Deutschland am 1. April 1933 zum ersten Judenboykott, der deutlich machte, daß die antisemitischen Parolen der Nazipartei keine leeren Phrasen waren, sondern Handlungsanleitungen für Brandschatzung, Raub und Mord. Zwei Jahre später wurde die nationalsozialistische Rassenlehre mit den Nürnberger Gesetzen zur juristischen Legitimation für die Vernichtung der Juden in Europa. Leonhards Studie über die Mysterien der Sprache erschien zur Unzeit. Durch deutsche Straßen hallte das Gebrüll »Deutschland erwache!«
Roth ahnte, worum es Leonhard ging: »Wie die Künder der ›Physiognomik‹ einst das ›Wesen‹ des Physiognomieträgers aus dessen Gesichtsbildung zu lesen beflissen waren, so bemüht sich Leonhard, den ›Sinn‹ des Wortes aus dessen ›Klangbild‹ zu erklären.« Allerdings äußerte er auch Zweifel an dieser Methode. Die Interpretationen, die Leonhard anstellte, seien zu stark von den Empfindungen der jeweiligen Betrachter abhängig, ein Pfälzer hätte beispielsweise eine andere Beziehung zum Wort »Pfütze« als ein Hanseat, und ihm, Roth, sei die Fügung »um die Ecke rennen« durchaus geläufig, während Leonhard überzeugt sei, es müsse »um die Ecke laufen« heißen. Seine Rezension schloß Roth allerdings versöhnlich, man müsse Leonhard dankbar sein für seine Kühnheit: »Er ist ein Dichter, den wir schätzen. Wenn er seine ›Werkstatt‹ öffnet, ist es uns ein Vergnügen.«
In der literarischen Beilage der »Neuen Zürcher Zeitung« würdigte Hermann Hesse »Das Wort« als »Vorstoß in eine zukünftige Art von Philologie«, Leonhard nehme die Sprache »rein als Ausdruck, nicht als Mittel der Mitteilung«, und belausche »im nuancenreichen Spiel der Vokale und Konsonanten, in geduldiger eindringlicher Behorchung, den Geist der Sprachschöpfung«. Ein Kritiker der »Prager Presse« schrieb: »In wörterbuchartiger Anordnung und verdichtetster Diktion wird eine Anzahl von Wortbildungen geboten, deren Methodik und Technik eine von allem Historismus abgelöste, in ihrem Radikalismus neue Art der Sprachbetrachtung konstituiert. Diese Betrachtungsart ist die charakterologische (…).« Und die »Neue Badische Zeitung« aus Karlsruhe stellte fest, die Studie wirke »wie eine Offenbarung«: »Nichts in der Sprache ist Zufall (…). Es gibt keine klangliche Identität der Nomina und der Res. Daher gibt es auch keine ›Synonyma‹. Immer gibt es mindestens eine Nüance, die sie voneinander unterscheidet (…).« Es sei verblüffend, zu welchen Ergebnissen Leonhard komme: »Wie er ein Wort aus sich heraus erklärt. Wie er in die Bedeutung eines Wortes eindringt. Es sind keine philologischen, es sind tief philosophische Erkenntnisse.«
Diese Einschätzung traf den Kern der Untersuchung. Aber ähnelten sich die philosophischen Intentionen Benjamins und Leonhards? Letzterer behauptete, die Abfassung seiner Schrift habe »etwa fünfzehn Jahre – natürlich nicht ununterbrochner – Arbeit erfordert«. Wenn er sich in der Zwischenzeit anderen Stoffen widmete, sei das damit verbundene Problem »eigentlich niemals dem Bewußtsein des Verfassers« entrückt. Tatsächlich gibt es im Werk des Expressionisten frühe Verweise auf das Thema. Seine 1919 bei Rowohlt erschienene Aphorismensammlung (die keine klassischen Aphorismen enthielt) umkreist die Fragestellung. Nach einer im O-Mensch-Pathos gehaltenen Einleitung (»Hört denn! Und wenn nur Steine hören. Wir wollen schrein, daß Steine und sogar Menschen hören.«) folgt eine Passage, die Benjamin hätte aufhorchen lassen: »Denn das Wort ist nicht Mittel der Mitteilung, sondern des Ausdrucks, ist Ausdruck selbst.«
In seinem Aufsatz »Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen « gelangte der Philosoph zu einer ähnlichen Einschätzung, der Text wurde Ende 1916 verfaßt: »Das heißt: die deutsche Sprache z. B. ist keineswegs der Ausdruck für alles, was wir durch sie – vermeintlich – ausdrücken können, sondern sie ist der unmittelbare Ausdruck dessen, was sich in ihr mitteilt.« Fünfzehn Jahre später – Benjamin lebte auf Ibiza und steckte in einer tiefen Depression – nahm er die sprachkritischen Betrachtungen wieder auf. Daß sich Leonhard und Benjamin inmitten einer gesellschaftlichen Krise auf ein Gebiet wagten, das zeitlos und weltabgewandt anmutet, erscheint als seltsamer Zufall. Deutet der Ausflug in die Sprachwissenschaft auf Weltflucht? Maximilian Scheer, ein enger Freund Leonhards in den Jahren des französischen Exils, bezeichnete »Das Wort« in einer Skizze über den Autor abschätzig als »zeitabgewandtes Werk«.
Benjamin wurde zum Klassiker der Moderne, Leonhard blieb eine Randfigur der Literatur des 20. Jahrhunderts, ein zweitrangiger Autor mit kommunistischem Stigma. Über die Beziehung der ungleichen Gleichen ist wenig bekannt. Benjamin erwähnte den Namen des Kollegen nur im Brief an Scholem und im Aufsatz »Lehre vom Ähnlichen«, der erst nach seinem Tod veröffentlicht wurde. Ob Leonhard in seinen unveröffentlichten Briefen oder Tagebüchern auf Benjamin zu sprechen kam, ist ungewiß, in den Traum-Protokollen von 1940 bis 1944 taucht der Name nicht auf, allerdings findet man in Leonhards Adreßbuch (das ebenfalls im Archiv der Akademie der Künste einzusehen ist und sich wie ein Who’s Who des Exils liest) mehrere Anschriften des Emigranten Benjamin; das Hotel Floridor im 14. Arrondissement, Place Denfert-Rochereau, die Villa Robert-Lindet im 15. Arrondissement oder ein Zimmer in der Rue Dombasle Nummer 10, wo zeitweise auch Otto Katz (alias André Simone) und Hans Sahl wohnten.
Trotzdem dürften sie sich begegnet sein, beide gehörten eine Zeitlang zur freideutschen Jugendbewegung. In einem Fernsehinterview erwähnte Gershom Scholem 1973, daß Benjamin mit einem Wortführer dieser Bewegung, Kurt Hiller, in eher distanziertem Verhältnis stand. Leonhard hingegen war mit Hiller bis Anfang der dreißiger Jahre befreundet, die bereits erwähnten, bei Rowohlt erschienenen Aphorismen »Alles und Nichts« sind ihm gewidmet. In der von Hiller 1923 herausgegebenen Publikation »Das Ziel. Aufrufe zu tätigem Geist« stehen Texte von Leonhard und Benjamin hintereinander. Auch in dem von Ignaz Ježower 1928 zusammengestellten »Buch der Träume« folgen auf Leonhards Notate die des drei Jahre jüngeren Benjamin. Man kann davon ausgehen, daß sie die Texte des anderen gelesen haben. Auch hatten sie gemeinsame Bekannte in Berlin, Paris oder Nizza, etwa Lion Feuchtwanger, Wieland Herzfelde und Maria Osten, und werden sich bei Zusammenkünften des Schutzverbands Deutscher Schriftsteller im Exil, den Leonhard ab 1933 leitete, über den Weg gelaufen sein.
Die französische Sprache war beiden vertraut, Leonhard folgte bereits 1927 seinem Freund Walter Hasenclever nach Paris, lebte dort in dessen Wohnung, später, nach der Heirat mit einer Französin, Yvette Prost, zog er nach Hyères an die Côte d’Azur. Benjamin floh Mitte März 1933 aus Deutschland und lebte vorwiegend in Frankreich. Beide standen links. Während sich Benjamin theoretisch der Idee des Sozialismus näherte, war Leonhard Aktivist, ohne Parteimitglied zu werden, und scheute sich nicht, auch propagandistisch aufzutreten. Er stellte seine literarische Arbeit in den Dienst der Sache, als Pazifist und Sozialist – eine freiwillige Unterwerfung, die für Benjamin nicht in Frage kam. Die agitatorischen Tendenzen in Leonhards Werk dürften ihn wenig überzeugt haben, auch ist anzuzweifeln, daß er die esoterischen, ja dandyhaften Seiten des Lyrikers zur Kenntnis nahm. Benjamin interessierte sich für den Rausch, seine Haschisch-Experimente verweisen auf die dunkle Sehnsucht des sonst Struktur und Regelwerk achtenden Theoretikers; Leonhard, der in seinen lyrischen Texten zum freien Vers und einem Parlando-Ton neigte, lebte sein Bedürfnis nach Rausch aus. Sexualität und Libido spielten in seinem Leben eine mindestens so wichtige Rolle wie der politische Kampf. Leonhard war praktizierender Hedonist, etwas, das Benjamin gelegentlich auch gern gewesen wäre.
(…)
SINN UND FORM 5/2023, S. 681-697, hier S. 681-684
Befristetes Angebot:
Den gesamten Beitrag kostenlos als PDF herunterladen.