Matt, Peter von
geb. 1937 in Luzern, bis 2002 Professor an der Universität Zürich, Mitglied der Akademie der Künste, lebt in Dübendorf (Schweiz). Jüngste Veröffentlichungen: »Sieben Küsse. Glück und Unglück in der Literatur« und »Was ist ein Gedicht?« (beide 2017). (Stand 5/2017)
Siehe auch SINN UND FORM:
- 1/2008 | Zur Dramaturgie der Dummheit in der Literatur
- 2/2009 | Selbstvorstellung
- 2/2010 | Die Tumulte der Wissenschaft und die Ruhe der Bibliotheken
- 2/2012 | Max Frisch und sein Ruhm
- 4/2014 | Schreiben als Akt der Forschung. Max Frischs »Berliner Journal«
- 2/2016 | Claudio Magris. Visionen aus der Erfahrung der Grenze
- 4/2017 | Der stehende Blitz. Die Paradoxien des Gedichts
- 5/2017 | »Ich gehe immer von Konflikten aus«. Ein Gespräch mit Sieglinde Geisel über genaues Lesen und das Schreiben über Literatur
Meine Damen und Herren, in der Literatur beschäftigen mich Sätze, und es beschäftigen mich Konflikte. Einerseits also die kleinste, (...)
Leseprobevon Matt, Peter
Selbstvorstellung. Akademie der Künste
Meine Damen und Herren,
in der Literatur beschäftigen mich Sätze, und es beschäftigen mich Konflikte. Einerseits also die kleinste, andererseits die größte Einheit in einem Werk. Nach vielen Jahrzehnten professionellen Lesens bin ich zur Überzeugung gelangt, daß sich die Literatur wesentlich im einzelnen Satz verwirklicht. Das zeigt sich an einem merkwürdigen Phänomen. Wenn ein Buch etwas taugt, stößt man in ihm von Zeit zu Zeit auf einen Satz, der den Zusammenhang, in dem er steht, übersteigt. Aus dem Schreiben eines größeren Ganzen heraus geboren, ist er doch ein Ding für sich, ein philosophisches und poetisches Ereignis, das man erlebt und untersuchen kann, als stünde es ganz allein zwischen zwei Buchdeckeln. Ich notiere mir das jeweils auf dem hinteren Schutzblatt: »S. 127 Satz«. Und wenn ich das Buch später wieder in die Hand nehme, schlage ich zuerst diese Sätze nach und freue mich über die Wiederbegegnung. In einem solchen Satz kann sich das Denken und Erfahren des Autors beispielhaft verdichten. Es kann aber auch sein, daß der Satz dieses ganze Denken und Erfahren zischend übersteigt, als würde eine Rakete aus der Prosa fahren. In Rezensionen werden solche Sätze nie erwähnt. Die Rezensionen schauen immer auf das Ganze, beschreiben das Ganze, bewerten das Ganze, als ob nur das Ganze die Wahrheit wäre. Es ist aber ein Aspekt unter andern.
Wissenschaftlich sind diese Sätze heikel. Ich erlebe sie als Solitäre. Darf ich sie aber von der Figur trennen, die sie ausspricht, vom erzählten Moment, in dem sie fallen? Natürlich darf ich. Ob ich die Teile eines Romans für so miteinander verwachsen halte wie die Organe eines Körpers oder aber für so zufällig zusammengeschüttelt wie die Glassplitter im Kaleidoskop, das ist je eine Optik, die zu wählen ich frei bin, und je nachdem sieht das Werk anders aus.
Das Paradebeispiel ist für mich der Satz, den die schöne Philine gegenüber Wilhelm Meister äußert, als dieser sie auffordert, zu ihm auf größere Distanz zu gehen. Wilhelm erklärt feierlich: »Ihre Gegenwart beunruhigt mich mehr, als Sie glauben.« Sie lacht ihm ins Gesicht, meint, sie denke nicht daran, und sagt dann: »Auf den Dank der Männer habe ich niemals gerechnet, also auch auf deinen nicht; und wenn ich dich lieb habe, was geht’s dich an?«
»Und wenn ich dich lieb habe, was geht’s dich an?« – Natürlich kann ich diesen Satz benützen, um eine der zauberhaftesten Frauen der deutschen Literatur psychologisch zu ergründen. Aber er reicht über ein Charaktersymptom weit hinaus. In den zehn Worten steckt eine ganze Liebestheorie. Die zehn Worte antworten auf die Menschheitsfrage, was die Liebe sei, in der vielleicht verblüffendsten Weise. Und sie sind Literatur, ein aufstrahlendes Ereignis der Literatur. Inwiefern? Sie lösen ein Rätsel mit einem neuen Rätsel. Das nämlich macht die Literatur aus, und das hat sie heute noch mit den ältesten Orakeln gemein.
Gerne hätte ich jetzt in meiner Bibliothek gewühlt und wahllos Stellen zusammengetragen, zu denen ich einmal hinten ins Buch geschrieben habe: »Satz!« Auch wäre es wohl aufschlußreich, wem von Ihnen welche Sätze bekannt und vertraut sind, wem sie ebenfalls einmal aus dem Text heraus entgegengesprungen sind. Aber zu solchen Spielen sind Sie nicht hergekommen.
Ganz konnte ich es allerdings doch nicht lassen. Zwei, drei Fälle wollte ich doch den Zufall finden lassen. Ich griff mir einen Roman von Jeremias Gotthelf heraus, aus Trotz, weil den gewaltigen Erzähler in Deutschland niemand lesen will. Da stand tatsächlich auf dem Innendeckel: »S. 310 Satz!«. Ich blätterte und las: »Wir hätten eine Saunatur, sagte er, es verleide einem, Mensch zu sein.« »Wir hätten eine Saunatur «, das kann jeder sagen; das andere aber, »es verleide einem, Mensch zu sein«, dazu braucht es mehr, einen Kopf von Rang und gefährlichem Witz. Man glaubt, es habe von fern gedonnert. Und wenn man darüber nachdenkt, werden die paar Worte immer unheimlicher.
Darauf griff ich zu Gottfried Keller, [...]
SINN UND FORM 2/2009, S. 282-284
Faust, der bekannte Doktor, hat etwas gegen die Bücher. Karl Moor, der bekannte Räuber, hat etwas gegen die Tinte. Zwar wurde diese doppelte (...)
Leseprobevon Matt, Peter
Die Tumulte der Wissenschaft und die Ruhe der Bibliotheken
Faust, der bekannte Doktor, hat etwas gegen die Bücher. Karl Moor, der bekannte Räuber, hat etwas gegen die Tinte. Zwar wurde diese doppelte Abneigung sorgsam mit Tinte festgehalten und in Büchern gedruckt, aber das hinderte die beiden leidenschaftlichen Kulturrevolutionäre nicht an ihrer Verwerfung alles beschriebenen Papiers. Es teilt den schlechten Ruf von Tinte und Buch. Wie die Tinte als kalter Gegensatz zum heißen Blut gehandelt wird, so gilt das Papier als Gegensatz zu allem Lebendigen, »papieren« ist im Deutschen ein Schimpfwort. Als wäre es nicht die spirituellste Materie überhaupt. In seiner Privatbibliothek berserkert Faust wie ein Verdammter gegen die hohen Bücherwände, die Papierrollen, die Pergamente, und er atmet erst auf, als er das Fläschchen mit dem braunen Gift erblickt. Durch den Selbstmord will er den Büchern endlich entkommen.
In Fausts Suizid, der nur durch einen Zufall verhindert wird, ist insgeheim auch die Parallelaktion versteckt, die Vernichtung der Bücher. Statt sich zu töten, könnte er auch das ganze bedruckte und gebundene Papier verbrennen. Denn Faust bestreitet unumwunden den Nutzen aller Bücher. Um das Elend seiner Lage zu verdeutlichen, in der das bedruckte Papier ihm den Zugang zur göttlichen Mitte der Welt versperrt, vergleicht er sich mit einem Wurm, der im Staube kriecht und jederzeit zertreten werden kann:
Den Göttern gleich’ ich nicht! zu tief ist es gefühlt;
Dem Wurme gleich’ ich, der den Staub durchwühlt,
Den, wie er sich im Staube nährend lebt,
Des Wandrers Tritt vernichtet und begräbt. (V. 652–655)
Das ist eine recht konventionelle Rhetorik, die wütende Selbsterniedrigung eines narzißtisch Gekränkten. Aber anschließend wird die Metapher von Faust realisiert. Er blickt die Bücherwände hoch und erkennt: Das ist tatsächlich Staub, alles ist nur Staub; ich lebe nicht metaphorisch darin, sondern leibhaftig:
Ist es nicht Staub, was diese hohe Wand
Aus hundert Fächern mir verenget?
Der Trödel, der mit tausendfachem Tand
In dieser Mottenwelt mich dränget? (V. 656–659)
Das ist die Verdammung des Papiers als des Nichtigen schlechthin und damit auch die Verdammung alles dessen, was darauf mit Druckerschwärze festgehalten wird. Faust beschimpft den in seinen Augen niedrigsten Stoff der Welt, und was darin lebt, der Wurm, ist das kläglichste aller Lebewesen. Diese radikalste Entwertung der Bibliothek durch einen Universitätsprofessor wird abschließend auch inhaltlich auf den Punkt gebracht:
Hier soll ich finden, was mir fehlt?
Soll ich vielleicht in tausend Büchern lesen,
Daß überall die Menschen sich gequält,
Daß hie und da ein Glücklicher gewesen? – (V. 660–663)
Der Moment ist dramatisch. Da wird eine einzige Erkenntnis der Summe des Wissens gegenübergestellt, das in einer Bibliothek enthalten sein kann. Nur auf diese Erkenntnis kommt es an, und für sie braucht es die Bücher nicht. Zu wissen gilt allein, daß die Menschen sich immer selbst und gegenseitig quälen und das Glück ein Zufall ist. Wer sich dessen bewußt ist, weiß genug, um richtig handeln zu können; wem das nicht klar ist, dem nützen die schwersten Folianten nichts.
Diese pauschale Verwerfung des Weltwissens hat Tradition. Die Religionen neigen dazu, die Gläubigen aller Schattierungen. Der erste Korintherbrief vollzieht den Akt in aller Schärfe, indem er die Dialektik von Torheit und Weisheit entwickelt. Die Weisheit dieser Welt ist Torheit vor Gott, die Torheit dieser Welt ist Weisheit vor Gott. Dieser mörderischen Alternative gegenüber verflüchtigen sich Philosophie und Wissenschaft wie ein Rauch. Der Heilige Paulus wörtlich: »Wo bleibt da ein Weiser? Wo ein Schriftgelehrter? Wo ein Wortführer dieser Weltzeit? Hat Gott nicht die Weisheit der Welt zur Torheit gemacht?« (1. Korinther 1,20) Und der Apostel hätte ohne weiteres anfügen können: »Wo bleiben da die Bibliotheken?«
Daß dieser Gedanke für die streng Gläubigen schon immer in der Luft lag, bezeugt die Anekdote über den Untergang der Bibliothek von Alexandria. Dort waren das gesamte Wissen und die ganze Literatur der Antike versammelt. Ihre Vernichtung beschäftigt die Menschheit bis auf den heutigen Tag, so sehr, daß die tatsächlichen historischen Ereignisse hinter den vielen bunten Überlieferungen gar nicht mehr zu erkennen sind. Im berühmtesten dieser Berichte wird erzählt, daß der Kalif Umar im Jahre 642 gesagt habe: »Wenn in diesen Büchern das gleiche steht wie im Koran, dann braucht es sie nicht, und wenn darin etwas anderes steht als im Koran, dann braucht es sie erst recht nicht.« Daraufhin wurden die Gebäude abgefackelt. Der Bericht ist eine Erfindung des Mittelalters. Aber es ist eine gute Geschichte, denn sie belegt die Vorstellung, daß alles Wissen des Logos belanglos sei gegenüber einem einzigen Wort des Mythos. Diese Vorstellung wird nie ganz von unserem Planeten verschwinden. Hinter den vielen Phantasien von einer absoluten Bibliothek steckt sie ebenso wie hinter den Vorstellungen von deren Ruin. In der legendären »Bibliothek von Babel«, die Jorge Luis Borges 1941 beschrieben hat und die alle überhaupt möglichen Kombinationen von 23 Buchstaben und zwei Satzzeichen enthält, in Büchern von je 110 Seiten, fällt das Phantasma der totalen Bibliothek sogar zusammen mit dem Phantasma ihrer Vernichtung. Denn in diesem Ozean von Büchern wären die sinnvollen und für einen Leser zugänglichen Werke unter den abstrusen Kombinationen gar nicht aufzufinden – obwohl alle sinnvollen Bücher, die die Menschheit hervorzubringen überhaupt im Stande ist, also auch alles zukünftige Wissen, in der Bibliothek von Babel irgendwo vorhanden sein müßten. Die Summe der Erkenntnis ist offenbar nur um den Preis ihrer Zerstörung zu haben.
[…]
SINN UND FORM 2/2010, S. 160-168