Loschütz, Gert
geb. 1946 in Genthin / Jerichower Land, aufgewachsen in Dillenburg / Hessen, Prosa, Theaterstücke, Hörspiele, lebt in Berlin. Zuletzt erschienen das Kinderbuch »Auf der Birnbaumwiese« (2011) und der Roman »Ein schönes Paar« (2018). (Stand 5/2018)
Siehe auch SINN UND FORM:
- 3/2014 | »Ich war anders verletzt...« Über Helga M. Novak
- 1/2015 | Vom Schreiben über verlassene Orte
- 6/2017 | Prag, November 2016
- 5/2018 | Herburgers Lachen
Zwei Schreib-Orte Einmal wohnte ich auf einer Insel in einem wunderschönen Haus, das ein Freund gemietet und mir für die Zeit, in der er es nicht brauchte, überlassen hatte. Es lag in einem großen Garten, in dem Äpfel, Wein und Aprikosen wuchsen. Dreimal in der Woche kam ein Gärtner, kippte einen Schalter neben der Terrassentür herunter, und schon schoß aus überall am Boden versteckten Düsen das Wasser. Es war im Frühsommer, Juni, so heiß, daß ich mich, wenn ich arbeiten wollte, in das kühlste Zimmer des Hauses zurückzog. Es lag im Erdgeschoß. Ich saß an einer Geschichte, einer Novelle, die ich zu Hause begonnen hatte und an der ich dort weiterschrieb. Wenn ich aufschaute, sah ich meine Frau und eine Freundin, die uns begleitete, im Liegestuhl am Swimmingpool. Und wenn ich den Blick wieder senkte, las ich die Sätze, die ich grade in die Maschine getippt hatte: (...)
LeseprobeLoschütz, Gert
Vom Schreiben über verlassene Orte
Zwei Schreib-Orte
Einmal wohnte ich auf einer Insel in einem wunderschönen Haus, das ein Freund gemietet und mir für die Zeit, in der er es nicht brauchte, überlassen hatte. Es lag in einem großen Garten, in dem Äpfel, Wein und Aprikosen wuchsen. Dreimal in der Woche kam ein Gärtner, kippte einen Schalter neben der Terrassentür herunter, und schon schoß aus überall am Boden versteckten Düsen das Wasser. Es war im Frühsommer, Juni, so heiß, daß ich mich, wenn ich arbeiten wollte, in das kühlste Zimmer des Hauses zurückzog. Es lag im Erdgeschoß. Ich saß an einer Geschichte, einer Novelle, die ich zu Hause begonnen hatte und an der ich dort weiterschrieb. Wenn ich aufschaute, sah ich meine Frau und eine Freundin, die uns begleitete, im Liegestuhl am Swimmingpool. Und wenn ich den Blick wieder senkte, las ich die Sätze, die ich grade in die Maschine getippt hatte:
»Es schneite immer heftiger. Der Schnee blieb liegen und bildete bald eine geschlossene Decke über dem Asphalt … Die Straße führte durch ein Waldstück. Hier und da sah ich im Licht der Scheinwerfer junge Birken, die unter der Last des Schnees umgeknickt waren. Der Scheibenwischer schabte über das Glas, und die Reifen surrten.«
Ich erinnere mich so gut daran, weil ich mir der Absurdität der Situation völlig bewußt war: draußen das südliche Paradies, brüllende Hitze, zwei junge Frauen im Bikini – und innen, am Schreibtisch, eine deutsche Winterlandschaft, Schneetreiben, und eine Erzählfigur, die so gestört war, daß sie sich einen toten Gegenstand, einen Computer, zur Frau umdenken mußte.
Ein anderes Mal saß ich im siebten Stock eines Hochhauses in der Nähe des Washington Square. Diesmal war es nicht ein Swimmingpool, auf den ich schaute, sondern das Flachdach einer Schwimmhalle, auf dem ein Sportplatz angelegt war, ein mit Maschendraht eingezäuntes Basketballfeld. Dahinter sah ich die Häuserzeile der Mercer Street und über dieser die oberen Geschosse der Häuser am Broadway mit den auf hohen Spinnenbeinen stehenden Wassertanks auf den Dächern. Es war im Herbst, die Zeit der langen Sonnenuntergänge, die die Straßen in ein unwirkliches rotes Licht tauchten.
Ich war für drei Monate in New York, auch diesmal hatte ich eine Geschichte dabei, die ich zu Hause begonnen hatte und an der ich dort weiterarbeiten wollte: die ersten sechzig Seiten eines Romans, daneben viele Notizen, Beschreibungen des Ortes, an dem die Geschichte angesiedelt war, und Portraits von Leuten, die darin vorkamen. Sie war so gut vorbereitet, daß ihr der Ortswechsel nicht das geringste anhaben konnte. Dachte ich. Doch dann zeigte sich, daß das ein Irrtum war. Nachdem ich wochenlang versucht hatte, wieder in sie hineinzufinden, habe ich sie beiseite gelegt und bin bis zu meiner Abreise mit dem Schreibheft rumgerannt, um, wenn schon nicht mit dem Roman, dann doch wenigstens mit einem Vorrat von Notizen nach Hause zu kommen. Ich bin kreuz und quer durch die Stadt gefahren, meistens aber war ich zu Fuß unterwegs, blieb, wenn mir etwas auffiel, stehen und trug es in mein Heft ein, während ich gleichzeitig wußte, daß ich nie etwas davon verwenden würde. Oder zumindest nicht gleich, sondern erst nach einer Weile, einer Art Schamfrist. Über diese Stadt war so oft geschrieben worden, daß jeder weitere Versuch eines plausibleren Grundes bedurfte als bloße Anwesenheit.
Zwei Beispiele: das erste zeigt, daß die Umgebung nicht den geringsten Einfluß aufs Schreiben hat. Das zweite genau das Gegenteil.
Nun könnte man sagen, daß die Wirklichkeit New Yorks bedrängender war als die der Ferieninsel. Und daß dies der Grund dafür sei, warum es gelang, an der einen Geschichte weiterzuarbeiten und an der anderen nicht. Mag sein. Wichtiger aber ist, denke ich, etwas anderes: Die Ferieninsel konkurrierte mit einem erfundenen Ort, New York aber mit einem konkreten. Die Orte der Novelle waren eine namenlose Kleinstadt und ein Dorf irgendwo in Deutschland, der Ort des abgebrochenen Romans aber hatte einen Namen und seinen Platz auf der Landkarte, es war ein bestimmter Ort in der Nähe von Frankfurt, den ich so gut kannte, daß ich ihn zu Hause beim Schreiben vor mir gesehen habe und nun, in New York, nicht mehr sah.
Der erfundene Ort ließ sich überallhin mitnehmen, der konkrete nicht: er war trotz der mitgebrachten Notizen an die Erinnerung gebunden, und diese war durch den Ortswechsel beschädigt worden.
Soll das heißen, daß es zwar keine Bedingung, aber ein Vorteil ist, wenn man in der Stadt, über die man schreibt, wohnt? Daß man durch ihre Straßen gehen, ihre Häuser betrachten, ihre Geräusche hören und ihre Luft atmen kann? Keineswegs. Und doch ist klar, daß jeder Ort (und erst recht jeder Ortswechsel) seinen Tribut fordert. Das heißt, bei mir ist es so.
Ost-West-Passage
Daß es – für die Literatur – kein Vorteil sein muß, wenn Wohn- oder gar Herkunftsort und literarischer Ort identisch sind, zeigt sich schon daran, daß die schönsten und eindringlichsten Bücher über Orte, Städte und Landschaften nicht selten von Autoren geschrieben wurden, die diese verlassen haben – in der Regel nicht freiwillig, sondern unter dem Zwang der Umstände, die mal Krieg, mal Vertreibung, mal Flucht, mal unerträglich gewordene Enge heißen. Vier Gründe, von denen jeder seine Zeit hat, was nicht bedeutet, daß sie wie die Jahreszeiten nacheinander auftreten müssen.
Ich denke, zum Beispiel, an das Danzig von Günter Grass, an die Memellandschaften von Johannes Bobrowski, an das Mecklenburg von Uwe Johnson, an die Mark Brandenburg von Helga M.Novak, aber auch an das Dublin von James Joyce. Allen, scheint es, hat die Sehnsucht nach ihrem Ort die Erinnerung geschärft, womit weniger die Erinnerung an Ereignisse gemeint ist als vielmehr die an Gerüche, Farben, Geräusche, Spracheigentümlichkeiten, Landschaftsformationen, an eine bestimmte Vegetation, eine bestimmte Architektur, eine bestimmte Anordnung der Häuser und Straßen zueinander und – nicht zu vergessen – an ein bestimmtes Licht.
Dies zusammen ist es, was einen Ort ausmacht und sich einem in Kindheit und früher Jugend mit einer solchen Schärfe in die Netzhaut, ins Gehör, in die Geruchs- und Geschmacksnerven einbrennt, daß es noch für den Erwachsenen das Maß der Dinge darstellt. Das ist bei allen so, freilich, aber bei denen, zu deren Beruf das Erinnern gehört, vielleicht noch ein bißchen mehr. Man sieht es daran, mit welcher Ausdauer sie beim Schreiben an ihren verlassenen Ort zurückkehren.
»Das Becken des Mediterranean Swimming Club, zwanzig Meter lang, achtbahnig, ist vielleicht geräumiger als das der ›Mili‹ in Jerichow, in dem Gesine Cresspahl schwimmen gelernt hat, das Kind, das ich war …«, heißt es in Band 2 der »Jahrestage« von Uwe Johnson. Oder: »So bedeckt wie heute morgen über dem Hudson war der Himmel im Sommer vor 24 Jahren über Ribnitz und dem Saaler Bodden, als die Paepckes ihre letzten Ferien anfingen.«
Das ist nicht nur das Muster, nach dem sich das Erinnern in Romanen richtet, sondern das des Erinnerns überhaupt. Eine winzige Beobachtung, ein Geruch, ein bestimmtes Licht reichen aus, um es in Gang zu setzen. Und die Richtung, in die es geht, steht fest: es ist die des verlorenen Ortes. Durch das Weggehen hat er bei Johnson (wie bei Grass und Novak) ein Gewicht erhalten, das er sonst nicht hätte, er ist von so zentraler Bedeutung, daß ohne ihn das Werk selbst nicht denkbar wäre. Auch wenn von anderem die Rede ist, ist die Rede doch immer auch von ihm.
Noch einmal Johnson: »Erinnerung baut an: sagen die, die noch einmal zurückgegangen sind. Dahin zurück darf ich nicht. Das ist weit von hier. Das ist mehr als 4500 Meilen entfernt, und mehr, noch nach acht Stunden Flug muß man dahin gehen, bis man in die Nacht gerät, und kommt nicht an.«
Grass, Johnson, Novak haben in vielen Städten gewohnt. Und es ist, nehme ich an, kein Zufall, daß sie sich, älter geworden, wieder Orte zum Wohnen ausgesucht haben, die ihren Herkunftsorten vergleichbar sind: Bei Johnson war es zuletzt eine Insel in der Themsemündung; Novak, die in Deutschland nicht mehr leben mochte, zog nach Polen; und Lübeck, wo Grass heute lebt, ist Danzig sicherlich ähnlicher, als es Berlin oder Wewelsfleth waren.
Es gibt ein Wort, um das ich immer einen großen Bogen gemacht habe, nun benutz ich es doch: das Wort Heimat. Faßte man den Begriff der Heimatliteratur weiter, als man es gewöhnlich tut, und nähme ihm den Geruch des Engen, Spießbürgerlichen, Trivialen, der ihm anhaftet, ließe sich die These aufstellen, daß der Heimatverlust geradezu die Voraussetzung für die Entstehung großer Heimatliteratur ist. Denn: Die Entfernung vom eigenen Ort bedeutet ja nicht nur Verlust, sondern auch Zuwachs von Erfahrung, Kenntnis und, geht es weit genug weg, Welthaltigkeit, was wiederum den Blick auf den verlassenen Ort verändert und vielleicht erst den Abstand schafft, der es erlaubt, ihn in seiner ganzen Widersprüchlichkeit zu erfassen.
»Fremdheit als die Bedingung für genaue Beschreibung, Heimat-Literatur aus Heimatlosigkeit geboren«, hat das der Trondheimer Germanist Bernd Neumann, über Johnson nachdenkend, genannt. Dennoch: Mit wie viel Schmerz diese aus dem Verlust gewachsene Literatur erkauft wird – davon erhält man eine Ahnung, wenn man liest, was Helga M. Novak anläßlich eines Besuchs in ihrer Kindheits- und Jugendlandschaft in einem Gedicht festgehalten hat. Es war die Zeit, in der die Mauer noch stand und man über Friedrichstraße nach Ostberlin einreiste, und es war, da das Tagesvisum nur für das Territorium der Hauptstadt galt, eine verbotene Reise, denn sie führte über deren Grenzen hinaus: »von Grünheide nach Fangschleuse 2 km …« Und dann heißt es:
»Gedränge im Bus dampfende Raglanärmel
es riecht nach angeschossenem Wild …
links verbirgt sich der Wupatzsee
unter Entenfedern rechter Hand der Wacholder
wie ein betrunkener Zimmermann mit Pelerine
gleich falle ich auf die Knie
und bitte die Frau neben mir
bevor sie ganz verdunstet
alle Kleider mit mir zu tauschen
bis runter zum Liebestöter Strumpfhalter
einfach alles zu wechseln
damit ich fürderhin mein Leben friste
in einem Nest wie Fangschleuse z.B.
unauffällig
wie der Schatten des Wacholders bei Nacht?«
Das ist keineswegs ironisch, dahinter steckt der ernste Wunsch, bleiben zu dürfen. Freilich wird – das Fragezeichen am Gedichtende weist darauf hin – auch erwogen, um welchen Preis das geschähe: den der Unsichtbarkeit, des Einverständnisses und der Unterordnung. Das Fragezeichen ist es, das den Grund für das Weggehen und den für das Nichtzurückkommen- bzw. Nichtbleibenkönnen benennt.
Heimatliteratur – wäre der Begriff nicht zu einem Synonym für etwas geworden, das sich vornehmlich in Heftchenformat an den Ständern der Supermärkte findet oder als paarig gereimte Gedichte und vergangenheitsselige Anekdoten in den Sonntagsbeilagen von Regionalzeitungen, zählte ich das Gedicht von Helga M. Novak ebenso dazu wie die Danzig-Romane von Grass oder die Jerichow-Romane von Johnson.
[…]
SINN UND FORM 1/2015, S. 54-65, hier S. 54-58
Seit langem überlege ich, was das ist: ein glückliches Leben. Oder ein geglücktes. Sagt man: Ein Leben war glücklich, wenn einer erreicht hat, (...)
LeseprobeLoschütz, Gert
Herburgers Lachen
Seit langem überlege ich, was das ist: ein glückliches Leben. Oder ein geglücktes. Sagt man: Ein Leben war glücklich, wenn einer erreicht hat, was er sich in frühen Jahren vorgenommen hatte? Ist ein glückliches Leben also ein erfolgreiches? Oder ist es eins, in dem die glücklichen Tage überwiegen? Und: Welchen Zeitraum zieht man für diese Berechnung in Betracht? Welchen Lebensabschnitt? Nimmt man alle zusammen? Oder beschränkt man sich auf einen? Einen frühen? Einen mittleren? Den späten? Gar den letzten, der ja kaum jemals zu den glücklichen zählt? Nimmt man die letzten zehn Jahre, in denen bei Herburger ein Unglück zum anderen kam und – wie bei Hiob – das letzte das vorangegangene jeweils übertraf, müßte man wohl von einem sehr unglücklichen Leben sprechen. Was natürlich Unsinn ist.
Und doch … da ist das Abdriften aus der Mitte des literarischen Lebens an den Rand; der notgedrungene Wechsel vom großen zu immer kleineren Verlagen (deren Mut und Fürsorge ausdrücklich zu würdigen sind); die trotz unverminderter Produktivität kaum noch vorhandene Aufmerksamkeit von Kritikern und Lesern; da sind die ausbleibenden Einladungen zu Lesungen und Diskussionen oder auch nur zu einem Kneipenabend mit Kollegen.
Eine Weile versuchten wir, Hans Christoph Buch und ich, ihn wieder hineinzuziehen in den alten Freundeskreis. Wir riefen ihn an, er sagte zu und kam dann nicht. Meistens jedenfalls, neun von zehn Verabredungen gingen so aus, fast immer kam ihm im letzten Moment etwas dazwischen, manchmal teilte er uns den Grund dafür mit, in der Regel aber schwieg er sich aus oder gab so seltsame, eher literarischen als realen Mustern folgende Begründungen an, daß wir nicht wußten, was davon zu halten war. Dann ließ er eine Weile nichts von sich hören, bis er erneut anrief und sich über seine Vereinsamung beklagte.
Es war – wir wußten es, auch ohne daß er darüber sprechen mußte – schwer für ihn auszugehen. Das Geld, das fehlte; das aufeinander Angewiesensein der Gemeinschaft, in der er mit Frau und behinderter Tochter lebte und aus der er sich kaum fortbewegen konnte, ohne daß es wie Flucht aussah und ihm Schuldgefühle eingab. Nicht zu vergessen: Die erst Jahr für Jahr, dann Woche für Woche spürbar abnehmende Kraft und die damit wachsende Sorge um die Tochter, die Frage, was aus ihr werden würde, wenn sich die Eltern einmal nicht mehr um sie kümmern könnten. Also blieb er in der Enge der gar nicht kleinen, aber durch die Anzahl der alten, oft über Jahrzehnte mitgeschleppten Möbel doch eng gewordenen Blissestraße-Wohnung.
Und da waren die ein Leben lang mit Hilfe von Antidepressiva in Schach gehaltenen und sich dennoch immer wieder meldenden Ängste und Panikattacken, gegen die nur eins half: Schreiben, Schreiben, und wenn auch das nicht mehr half, größere Mengen von Antidepressiva, und wenn auch die versagten: die Flucht in die Klinik.
Einmal – es muß vor etwas mehr als zehn Jahren gewesen sein – saßen wir da, abends im Park einer dieser im Westend gelegenen Psychokliniken für Menschen, die mit ihrem Leben nicht mehr zurechtkamen, alte Menschen zumeist, denen in Gesprächs- oder Malgruppen wieder zu ihrer verlorengegangenen Mitte verholfen werden sollte. Es war im Herbst, eben dunkel geworden. Wir hockten draußen auf einer Bank und sahen durchs Fenster die Alten, Verlorenen durch den großen Vorraum in den Eßsaal schlurfen. Er sprach mit Aufmerksamkeit von ihnen, mit einem durch genaues Hinschauen geschaffenen Abstand, dabei durchaus liebevoll. Doch dann brach – trotz der Sedativa, mit denen er ruhiggestellt wurde – wieder dieses Gelächter aus ihm hervor, dieses aus dem Schrecken, der Angst oder der Angstüberwindung und Schreckensabwehr geborene Gelächter, das seit jeher zu ihm gehört hatte.
Wir sprachen über früher, die Zeit in Friedenau, in der Schwabinger Elisabethstraße, wo ich ihn nach seinem Umzug öfter besucht hatte, es war die Zeit, in der der zweite Band der Birne-Bücher vorbereitet wurde, wir lasen zusammen die Fahnen; die Zeit auch, in der er seine (dritte) Frau, dieselbe, mit der er noch zusammenlebte, gerade kennengelernt hatte (sie arbeitete beim Fernsehen und hieß damals seltsamerweise Gabi und nicht Rosemarie), über die Geburt der Tochter, das Laufen. Alles zog an uns vorbei, die lebenden und die schon toten Freunde. Als uns kalt wurde, standen wir auf. Ich brachte ihn zur Tür, und als ich danach zur Bushaltestelle am Spandauer Damm ging, dachte ich, daß es so enden würde, wie es nun geendet hat: in einer Katastrophe. Da im Grunde keiner der drei allein zurückbleiben konnte und sollte, blieb nur – ja was?
Einen der letzten, nun schon wieder ein Vierteljahr zurückliegenden Anrufe eröffnete er, fast übergangslos, mit den Worten: Erzähl mir was von deiner Frau, und nachdem ich zu berichten begonnen hatte, unterbrach er mich mit den Worten: Meine spricht nicht mehr mit mir. Zuerst glaubte ich, er wolle mir von einem Streit erzählen, aber dann sagte er, daß sie ihn nicht mehr erkenne. Wie, fragte ich. Er: Weil nun das eingetreten sei, wofür es seit langem Anzeichen gegeben habe – Demenz, das Schreckenswort. Sie sei dement geworden, endgültig, nicht zurückholbar.
Ich kannte Herburger seit den späten Sechzigern, also seit über fünfzig Jahren, und glaube, daß er sich trotz der vielen Veränderungen, die ein so langer Zeitraum mit sich bringt, gleich geblieben ist. Immer war da dieser abwartende, von der Seite auf einen gerichtete Blick, er beobachtete einen, wie um den Moment nicht zu verpassen, in dem er mit seinem Witz zuschlagen konnte. Immer aber auch diese Freundschaftsfähigkeit, ja, die Bereitschaft zum Aussenden von Freundschafts- und Liebesbekundungen sowie andererseits die auf Unabhängigkeit schließende Fähigkeit, Erwartungen zu enttäuschen, bzw. die Weigerung, ihnen zu entsprechen; und der Hang, das für selbstverständlich Genommene nicht für selbstverständlich anzusehen; seine von nervöser Energie gespeiste Lachbereitschaft, die Freude am Lästern. Er konnte auf eine Weise witzig und übermütig sein, daß es wehtat.
In den frühen Siebzigern wurde mir der Blinddarm entfernt, am Tag nach der OP kam er ins Krankenhaus, stellte sich ans Kopfende des Betts und riß einen Witz nach dem anderen, so daß ich aus dem Lachen nicht mehr herauskam, nur daß ich wegen der frischen Bauchnaht nicht lachen durfte und mich gleichzeitig, während ich nicht aufhören konnte zu lachen, vor Schmerzen krümmte. Ein anderes Mal klingelte er an der Haustür in der Bachestraße und rief, als ich hinausschaute, ohne sich um mögliche Mithörer zu scheren, lachend zum Fenster hinauf: Valium, Valium, ob wir ihm, da schon alle Apotheken geschlossen seien, mit Valium aushelfen könnten.
Er lebte damals, zusammen mit seiner (zweiten) Frau Ingrid und seinem kleinen Sohn Daniel, in der Friedenauer Handjerystraße, keine Minute Fußweg von der Niedstraße entfernt, in der Grass wohnte, und vielleicht fünf Minuten von der Dickhardtstraße, in der sich die Literarische Dependance des Luchterhand Verlags befand. Jeden Nachmittag (oder jeden zweiten) tauchte er dort auf, erschöpft aber aufgekratzt, und verkündete, daß er wieder zehn Seiten geschrieben habe, an einem Tag wohlgemerkt – was ich, da ich ihn noch nicht gut kannte, für völlig unmöglich hielt, für eine seiner liebenswürdigen Aufschneidereien, was sein Lektor aber, der an seinem eigenen Schreiben verzweifelnde Klaus Roehler, mit spöttischsaurer Miene benickte.
Es war die Zeit, in der »Jesus von Osaka« entstand, der (wenn ich mich richtig erinnere) erste Roman Herburgers, in dem er den gepflegten Realismus der bei seinem vorigen Verlag, Kiepenheuer & Witsch, erschienenen Bücher gründlich hinter sich ließ. Er streifte die Fesseln des mit der Wirklichkeit rückkoppelbaren Schreibens ab, um sich von nun an nie wieder an die Gesetze der Wahrscheinlichkeit gebunden zu fühlen. Wann immer es ihm nötig schien, ließ er Jesus inmitten einer Schar japanischer Mädchen auf Skiern einen dem Fujiyama nachempfundenen, tatsächlich aber im Schwäbischen liegenden Berg hinunterwedeln oder – wie im letzten Buch – Meerschweinchen zwischen den geöffneten Beinen einer Madonna genannten Frau Männchen machen und deren Schamhaare auszupfen, die sie dann in das Heu ihrer Nester flochten.
Die Wirklichkeit oder besser: die die Wirklichkeit abbildende Sprache war Spielmaterial, mit dem er je nach Laune umging. Das konnte gutgehen und die wunderbarsten Blüten treiben, aber auch so weit ins Ungefähre führen, daß man nicht umhinkam, ihm das eigene Unverständnis mitzuteilen, was er durchaus übelnahm, eine Weile jedenfalls, bis man wieder eine Nachricht von ihm auf dem Anrufbeantworter fand: Ja, wo steckst du denn, Hergottsacra?!
Die wird es nun nicht mehr geben.
So sehr ich den Menschen mochte, den Verrückten aus dem Allgäu, der nach dem Abitur in München an der Uni Sanskrit belegte, wissend, daß er das Studium nie zu Ende bringen würde, der es eigentlich auch bloß tat, um sich von den anderen, den im braven Nützlichkeitsdenken gefangenen Idioten, zu unterscheiden; der als früher Aussteiger in den Süden trampte, mal in Ibiza am Strand schlief, mal in Madrid die Nächte am Bahnhof verbummelte, der über Spanien bis nach Algerien gelangte, nach Oran, ehe er nach Europa zurückkehrte, nach Paris, wo er sich mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser hielt, also weitgehend mittellos durch die Lichterstadt trieb, als deutsche Variante der zur selben Zeit im New Yorker Greenwich Village herumspukenden Beatniks, bis er irgendwann Josef Breitbach traf oder bei ihm vorstellig wurde und daraufhin die Gelegenheit erhielt, für ihn zu arbeiten … (Als was? Sortierte er dessen Bücher? War er sein Sekretär? Erledigte er für ihn kleine Besorgungen? Ich habe es, wenn er, immer nur andeutungsweise, davon erzählte, nie wirklich verstanden. Aber warum, dachte ich später, hat er eigentlich nie den im Namen seines früheren Gönners eingerichteten Preis erhalten, der ihm eine Weile Luft zum Leben verschafft hätte?) … So sehr ich ihn also mochte, diesen frühen Herburger, der immer noch auch in dem späteren, in den sechziger Jahren längst im Literaturbetrieb angekommenen und bloß dem Anschein nach verbürgerlichten enthalten war, so zwiespältig ist mein Verhältnis zu seinem Werk, diesem gewaltigen Bücherberg, den er uns hinterlassen hat, diesem Buchstabengebirge, das künftige Germanistengenerationen zu durchqueren versuchen werden, bloß um sich in den Seitentälern und Gletscherspalten zu verlieren oder, sich schon in Gipfelnähe wähnend, doch noch abzustürzen.
Zwiespältig, ja, es läßt sich nicht leugnen, denn anders als seine Bewunderer, die in der Thuja-Trilogie noch immer ein utopisches Romanwerk sehen wollen, während es mir mit seinem romantisierend-unkritischen Blick auf die DDR als eine gewaltige Ansammlung von Irrtümern erschien und erscheint, schätze ich mehr die zurückgenommenen Erzählungen aus der »Eroberung der Zitadelle« oder den schönen Text »Hauptlehrer Hofer«, in denen er weniger aufs Gas drückt und mehr seinem Stoff vertraut. Aber das Überbordende war nun mal seine Sache, das Zuviel, das er sich eine Zeitlang im Vertrauen auf die Richtigkeit des ersten Einfalls wieder wegzustreichen oder zu verbessern weigerte.
Während ich ihm seine Unkontrolliertheit vorhielt, seinen – in der Lyrik vor allem – gelegentlich wild zusammengemixten, also nicht mehr entschlüsselbaren, einer Privatmythologie folgenden Metaphernsalat, warf er mir das genaue Gegenteil vor: Spontaneitätsmangel, Beckmesserei, Langeweile, Glätte. In einer Kiste auf dem Dachboden gibt es einen Ordner mit unserem frühen Briefwechsel, in dem dieser Streit abgelegt ist. Aus Übermut oder um ihm zu zeigen, wie leicht sich diese Art von Gedichten herstellen ließ, hatte ich einen Text verfaßt, ein ellenlanges, mit plattesten Reimen durchsetztes Poem, das seine damalige Schreibweise parodierte, woraufhin der Streit zwischen uns richtig in Fahrt kam – Schnee von gestern, aber damals, in den Siebzigern, mit einer Ernsthaftigkeit betrieben, als ginge es nicht um Worte, sondern ums Leben. Und so war es ja auch. Es ging und geht bei der Literatur, so wie wir sie verstanden / verstehen, um nicht weniger als das Leben.
SINN UND FORM 5/2018, S. 709-712