Lewitscharoff, Sibylle
geb. 1954 in Stuttgart, Romane, Essays, Erzählungen und Hörspiele, Mitglied der Akademie der Künste, lebt in Berlin. Zuletzt erschienen »Abraham trifft Ibrahîm. Streifzüge durch Bibel und Koran« (mit Najem Wali, 2018) und »Von oben. Roman« (2019). (Stand 3/2020)
Siehe auch SINN UND FORM:
- 2/2010 | Steine, die fliegen, Worte, die fallen. Literatur und menschliche Schuld
- 4/2012 | Ich versus Wider-Ich. Selbstvorstellung in der Akademie der Künste
- 2/2018 | »Menschliches Wesen / Was ist’s gewesen«. Über Paul Gerhardt
- 1/2019 | Erich Auerbach liest Dante als Dichter der irdischen Welt
- 3/2020 | Die Hölle als Hölle beschreiben. Flann O’Briens »Der dritte Polizist«
Nicht der Ostwind, nicht der Westwind, nicht Nord- noch Südwind haben mir die folgenden Ideen zugeweht oder ihnen zumindest aufgeholfen, vier Herren (...)
LeseprobeLewitscharoff, Sibylle
Steine, die fliegen, Worte, die fallen. Literatur und menschliche Schuld
Nicht der Ostwind, nicht der Westwind, nicht Nord- noch Südwind haben mir die folgenden Ideen zugeweht oder ihnen zumindest aufgeholfen, vier Herren waren es.
Vier Herren, vier Bücher: die »Philosophie des Traums« von Christoph Türcke, einem Philosophen, der höchst ergiebig über die Anfänge der Menschwerdung nachgedacht hat, sodann »Ich sah den Satan vom Himmel fallen wie einen Blitz« von René Girard, einem Anthropologen, der genau das Buch zum Erweis der eminenten Botschaft des Christentums schrieb, welches die Theologen versäumt haben zu schreiben, ferner die Lektion über Abraham und Isaak von Stéphane Mosès aus »Eros und Gesetz. Zehn Lektüren der Bibel«, diesem glanzvollen Literaturwissenschaftler, der leider vor zwei Jahren verstorben ist, und nicht zuletzt die Fragmente meines immerwährenden Beraters – Franz Kafka, der so fledermausfein in sich hineinhorchte und vom Seeleninnenflug mit erschreckender Botschaft für sein »Tagebuch« zurückkehrte – »immer ängstlicher im Niederschreiben, jedes Wort, gewendet in der Hand der Geister, wird zum Spieß, gekehrt gegen den Sprecher«.
Wenn ich mir jetzt die kleine Schar von Interessenten vorstelle, die den Aufsatz vielleicht zur Hand nimmt, sehe ich da lauter Spieße sitzen, die nur darauf warten, sich in meine mehr behaupteten und aufgelesenen denn eigens erforschten und erwiesenen Argumente zu bohren. Trotzdem, ich riskier’s und hoffe auf den einen oder anderen geneigten Leser.
Was trennt den Menschen vom Tier? Nicht so sehr die Anfänge der sprachlichen Verständigung, Botschaftslaute der Erregung, des Beutefindens, des Wohlbehagens oder der Gefahr, es ist die Fähigkeit des Erzählens. Erzählen ist bekanntlich ein vielseitiges, mitunter raffiniertes Vermögen. Im Lauf unzähliger Generationen hat es sich zu einem komplexen Vorgang entwickelt, wie wir ihn seit etwa zwei- bis dreitausend Jahren kennen.
Das Vergangene, das Künftige, das Gegenwärtige in Sätze zu ziehen, sogar das zwischen Möglichem und Unmöglichem, zwischen Wahrheit und Lüge schwankende Geistgeflacker darin unterzubringen, das alles können eine gelenkige GrammatikundeinendlosesGewimmelvonWörternscheinbarmühelosleisten; und – Wunder über Wunder – der eine erzählt oder schreibt eine Geschichte auf, ein anderer versteht sie und spinnt sie vielleicht fort. Ich vermag mir die Anstrengung, die Rückschläge und das Vorwärtstasten nicht vorzustellen, die es Wesen aus Fleisch, Knochen und Blut gekostet haben muß, in einer langen, langen Kette ihrer sich selbst mit Sinn anfüllenden Seinswerdung diese diffizile Fähigkeit zu entwickeln. Beim Erzählen geht es um Sinn, einen mörderischen Sinn zumeist. Was sich darum herumrankt, sind Ornamente, die der Beruhigung dienen, Aufflüge zum Erhaschen der Schönheit und Transzendenz inbegriffen.
Wozu in der Welt, woher gekommen, wohin bestimmt zu gehen, wieso leiden; schuldhaft oder schuldlos, gestraft, ungestraft oder gar erlöst, von wem, weshalb, wofür – das sind Fragen, die beim Erzählen untergründig mitschwingen, auch dann, wenn sie sich nicht lauthals bemerklich machen. Die großen Mythen, die religionsstiftenden Bücher, sie erzählen davon explizit, enthüllend, aber auch verhüllend. Weil einige davon mit großer Intensität und hoher Intelligenz an diese Urfragen rühren, sind sie tradiert worden, haben immer neue Auslegungen erfahren und dadurch ihre Kraft bis heute bewahren können.
Nicht nur ein Liebhaber der Bücher, sondern jeder einzelne heute lebende Mensch zehrt von dieser über Generationen entwickelten Geschicklichkeit, einen Sinnfaden durch die Welt sich schlängeln zu lassen bis zu sich hin, und nun sind wir dabei, durch neue mediale Techniken die damit verbundenen Fähigkeiten zu verlernen und das gewaltige Erbe zu vertun, indem wir es im Meer der unendlichen Sinnzerstückelung versenken.
Sinn stiften, erzählend Sinn in den unerträglichen Wirrwarr des Lebens der Generationen vor uns, neben uns und nach uns zu bringen, das ist bei allen Nebeneffekten, die ein ästhetischer Genuß haben mag, vor allem ein grandioses Mittel gegen die Angst. Obwohl eine radikal mit Sinn erfüllte Welt, die jede Schuld und jedes Glück und jedes Verhängnis unumstößlich zu interpretieren wüßte, vielleicht noch unerträglicher wäre als eine, deren Sinn ständig zu entgleiten droht.
Erzählen war nie ein harmloser Zeitvertreib, schon gar nicht, als es auf mühsamen Wegen und Umwegen entstand. Aus fließendem Blut und zertrümmerten Knochen ist es gemacht. Der innere Kern, der Glutkern der Erzählung kündet von Mord, verschleiert den Mord, sucht die aufgeregten Gemüter zu beruhigen und eine mehr oder weniger die Gemeinschaft entlastende Vernunft oder Weisheit daran zu knüpfen. Ich spreche vom Menschenopfer, nicht vom heutigen Kriminalroman, obwohl es interessant wäre, zu ihm hin eine zittrige Linie zu ziehen.
Menschenopfer, das haben die Ethnologen, Anthropologen und Mythenforscher herausgefunden, standen an allen Ecken und Enden der Welt am Beginn der menschlichen Kultur. Die mörderische Praxis ist bereits die Antwort auf die Katastrophe, der Versuch, einer mörderischen Natur sinnvoll zu begegnen, indem man ein Opfer aus der Gemeinschaft aussondert und es der bösen Natur, dem bösen Dämon oder den bösen Toten, die diese Natur repräsentieren, zur Besänftigung in den Rachen wirft. So abstrus das aus der Rückschau klingen mag: in dieser Praxis liegt bereits der Keim der Vernunft. Eine nicht beherrschbare Gewalt findet ein blutiges Gegenmittel. Überhaupt ein Mittel zu finden, zumal ein so komplexes, an das sich die Repräsentation knüpft, bedeutet, daß die Menschen ihre Köpfe einen Millimeter über das gegebene Schicksal hinausreckten.
Hoch müssen die Wellen der Erregung in einer solchen Gemeinschaft geschlagen haben, in der alle mehr oder minder an der Tötung beteiligt waren, darüber hat Christoph Türcke sehr einprägsame Gedanken versammelt. Ein wirksames Mittel der Beruhigung wird die allmählich sich entwickelnde Fähigkeit gewesen sein, den Schrecken der Tötung mit Hilfe von Erzählformen zu bändigen, die der Tat im nachhinein einen gemeinschaftsbindenden Sinn verleihen. Wie das genau zugegangen sein mag, ist natürlich nur durch Spekulation zu ergründen, wissen können wir es nicht. Vom Stammeln über die Aneinanderreihung einfacher Wörter bis hin zu einer komplexen Grammatik führt ein windungsreicher, höchst mühsamer Lernweg, der durch kein Quellenstudium nachzuvollziehen ist.
In diesen frühen Erzählungen, die uns als ausgeschmückte, angereicherte Mythensysteme überliefert wurden, also in ihren späten Formen, gibt es das Phänomen des Enthüllens und Verhüllens. Der mörderische Glutkern wird zwar berührt, aber sogleich wieder verdeckt – man denke an die vielfältigen Zerstückelungsfiguren, aus denen, so sie wieder zusammengesetzt werden, eine neue Welt entsteht oder mit deren Hilfe die Welt zumindest in der Balance gehalten wird. Die Sinngebung mit ihren vielfachen Techniken der Verschleierung hält Einzug. Sie weiß die verstörten Gemüter zu beruhigen und Entlastung zu verschaffen von der Schuld. Aus schrecklichen Bluttaten werden gemeinschaftsstiftende Gründungsmorde, die der äußeren und inneren Konfliktabfuhr dienen.
Sinngebung, Sinnstiftung, das ist nicht zu trennen von einem keimenden Schuldempfinden, das heißt, über der Schuld wird ein Sinngewölbe errichtet, das eine Handlung aus der anderen folgen läßt und zu einer Entwicklungslogik führt, die beruhigenden Charakter hat. Das Unheimliche, eine Vorform der gefühlten inneren Schuld, wird nach außen transportiert und einem Erzählstrom überantwortet. Das archaische Erzählen ist trotzdem voll, ja übervoll der verstörenden Momente von plötzlich einbrechender Grausamkeit. Natürlich auch, weil die Erzählungen oft in Bruchstücken überliefert sind, Handlung und Deutung unvermittelt nebeneinander stehen.
Im Vermögen der verschleiernden Erzählung, ihrem bisweilen aus vielen Strängen gedrehten Sinnfaden, sind die Schwindelkünste enthalten, die zum Handwerk des Schriftstellers gehören. Sie sind aber in weniger raffinierter Form so allgemein verbreitet, daß sie in jedem Monolog, in jedem Geplauder, in jeder launigen Bemerkung, jedem Selbstgespräch auftauchen. Denn die Wahrheit, die reine Wahrheit und nichts als sie, verkraftet kein Mensch. Es gehört zur schier übermenschlichen Anstrengung der beiden biblischen Testamente, daß sie allmählich die Wahrheit über das Menschenopfer ans Licht brachten. Eine erschöpfende, tiefschürfende Bergwerksarbeit, betrieben in den dunklen Stollen der menschlichen Seelengeschichte.
Ich glaube nicht, daß die Leiden der Juden schlüssig erklärt werden können. Wir sollten uns davor hüten, diese Leiden einer allzu beruhigenden Formel zu unterwerfen. Warum sie so viel haben leiden müssen, steht vielleicht – aber das ist ein sehr zögerndes Vielleicht – damit in Verbindung, daß sie sich als eines der ersten Völker aufmachten, den schwierigen Weg der Zivilisation zu beschreiten, in der das Menschenopfer tabu ist. Und nicht nur das: indem die Juden die Lügen dahinter, die Schwindelmärchen, die diese grausame Praxis verdecken sollten, zu entlarven begannen, wurden sie allen verhaßt oder zumindest suspekt, für die diese Wahrheit und die damit aufgepackte ethische Bürde eine Zumutung bedeutete.
Menschenopfer im Alten Testament, da sind wir sofort bei Abraham und Isaak, dieser intrikaten Geschichte vom Fehlhören und Hören, vom Opfern und Verschonen. Und wir sind beim Stammvater dreier Religionen, der jüdischen, der christlichen, der islamischen.
Wer eine Geschichte erzählt, wer einen Befehl gibt, wer eine Weisheit verkündet, ist darauf angewiesen, daß jemand ihn hört. Will Gott sich bemerklich machen, und sei es in kürzestem Kurzbefehl, in einem Laut, in einer Silbe nur, kommt es darauf an, daß jemand ihn hört. Bekanntlich kann sich der Gott der Bibel in Seiner unmittelbaren Gestalt dem Auge des Menschen nicht zu erkennen geben; der Mensch könnte Seinen Anblick nicht verkraften. Gott legt daher Seine Botschaften in das Ohr einzelner, herausragender Menschen, oder Er schickt einen Engel, etwas schwächer als Er selbst und darum dem Auge des Menschen gerade noch zumutbar, als Mittler.
Auf den ersten Blick scheint es so, als habe Abraham den Befehl von Gott erhalten, seinen langersehnten Sohn Isaak zur Opferstätte zu führen und ihn dort zu binden, will heißen: mit dem Messer niederzumachen. Ein extremer Befehl trifft auf einen Mann des extremen Gehorsams. Man kann diese Geschichte aber nach mindestens zwei Seiten hin auslegen. Man kann mehr vom Anfang her in sie hineinhören oder vom Ende.
Kierkegaard hat es in »Furcht und Zittern« aus der Anfangsrichtung getan. Für ihn lag die Pointe der Geschichte im absoluten Gehorsam Abrahams, seiner Bereitschaft, eine Schreckenstat, die dem Vaterherzen zuwiderläuft, als gottbefohlene auszuführen.
Diese Auslegung basiert auf einer geradezu ekstatischen Überhöhung des Gehorsams, sie bebt und deliriert gleichsam vor dem mysterium tremendum, dem Gottesschrecken, der hier darin besteht, daß der unbegreifliche, unerforschliche Gott vom Menschen das absolut Widersinnige, Unmenschliche verlangen kann und verlangt. Indem sich Abraham, der gottesfürchtige Modellmensch, ohne zu fragen, ohne zu zögern dem Befehl ergibt, stellt sich – was freilich in dem Augenblick, da der Befehl ergeht, keinesfalls sicher ist – die Rettung ein. Auf der Rettung selbst aber liegt bei dieser Auslegung wenig Gewicht, das Rettungsgewicht wiegt leichter als eine Feder.
Bei solcher Auslegung geraten wir natürlich in gefährliche Nähe zum Terrorismus, dessen Täter, anscheinend gottbefohlen, ohne zu zögern, die widrigsten Greuel verüben. Es sei ehrenhalber aber gesagt, daß Kierkegaard hier äußerst raffiniert argumentiert. Er will durch die Absolutheit des Glaubens die immerfort nachwachsenden Widersprüche des Ethischen, wo die Ansprüche verschiedener Pflichten sich im Streit auftummeln können, zur Ruhe bringen. Abraham rettet sich vor diesen Pflichten gleichsam in seinen Glauben hinein, er wird fügsam.
Ganz anders, wenn wir die Pointe der Geschichte im Verschonen und nicht so sehr in der Gotteshörigkeit erkennen. Da stellt sich nämlich die Frage: hat Abraham, als er den Befehl zur Tötung seines Sohnes erhielt, richtig gehört? Hat er erst falsch gehört, dann aber im entscheidenden Moment, als der Engel des Herrn den Tötungsfahrplan unterbricht, richtig? Wurde Abraham von einer düsteren Sehnsucht ergriffen, seinem Geschlecht ein Ende zu machen, und damit aller Verheißung, die auf seinem Geschlecht in der Zukunft ruhte? Hatte ihn der Todestrieb im Griff, wie man mit einem modernen Wort sagen würde, und verwechselte er deshalb eine morbide innere Stimme mit der Stimme Gottes?
Für einen Augenblick kommt die Geschichte vom Segen, der auf dem Volk Israel, auf Abrahams Nachfahren liegen soll, ins Stocken. Würde Isaak tatsächlich getötet, wäre es mit dieser Geschichte aus. Und Gott hätte sich auf aberwitzige Weise selbst widersprochen. Schließlich hatte Er Abraham ja versprochen, auf ihm und seinen Nachkommen liege der Segen. Vergessen wir nicht: Abraham wird, als er den Befehl vernimmt, nichts versprochen, gar nichts. Nicht etwa: wenn du deinen Sohn tötest, wird dieses oder jenes Glückverheißende geschehen.
Aus. Keine Zukunft. Keine messianische Vaterschaft mehr. Kein Sohnesfolger, der Abraham ja erst zum Stammvater dreier Religionen machen wird. Stéphane Mosès hat die Kommentare beleuchtet, die von der Zweideutigkeit der Stimme ausgehen, welche Abraham hört. Gewiß, er soll auf den Berg Morija steigen, aber soll er da hinaufsteigen, um seinen Sohn zu opfern oder um ihn dort in den Dienst Gottes zu initiieren? Es gibt sogar Auslegungen, die davon sprechen, beim Geschehen auf dem Berg habe es sich um ein heiliges Spiel gehandelt, ein täuschend echtes zwar, aber die Protagonisten, Abraham und Isaak, hätten doch im Geheimen gewußt, daß es nicht zum Äußersten kommen würde. Mir kommt diese Interpretation schlaff vor, weil sie den anstößigen Kern der Geschichte verharmlost.
Im babylonischen Talmud wird insistiert, das Menschenopfer an sich sei Gott verhaßt. Die Opferideen sind nicht durch Gott in die Hirne der Menschen gelangt, auch in das Hirn Abrahams nicht; es geht dabei um die Konfrontation mit dem Bösen. Abraham wird, nachdem er von Gott bisher nur Gutes erfahren hat, dem Bösen ausgesetzt und auf die Probe gestellt.
Nach dieser Auslegung hat Abraham zwar geglaubt, den Befehl Gottes zu vernehmen, und darin fehlgehört, indem er womöglich das zwittrige Stimmchen einer teuflischen Einmengung in den Segensplan vernahm, während er aber im entscheidenden Moment, da der Engel des Herrn dazwischentritt und Abraham beim Namen ruft, und dieser antwortet: hier bin ich! richtig hört, und ein Ausweichen ins Tieropfer möglich wird.
Abraham widersteht der Tötungsversuchung, das ist das Wichtige. Was die Feinauslegung der Geschichte betrifft, gäbe es hier mit Hilfe von Stéphane Mosès noch viel zu rapportieren, doch belassen wir es dabei. Erwähnt sei nur, daß die christliche Überlieferung immerzu vom Opfer Isaaks spricht, die jüdische Überlieferung hingegen von der Bindung Isaaks, was ungleich stärker den Aspekt betont, ihn in den Dienst Gottes zu stellen.
Halten wir fest: Isaak wird verschont, und damit ist ein Riesenschritt hin zur Zivilisierung, zur generellen Abkehr vom Menschenopfer getan. Gott will solche Opfer nicht mehr, hat sie vielleicht nie gewollt. Was in der Bibel in wenigen kurzen Sätzen zusammengedrängt steht, ist ein unendlich schwieriger und mühevoller Prozeß in der Geschichte der Menschheit. Wie bedeutsam diese Geschichte ist, erkennt man schon daran, welche Fülle an Kommentaren sie hervorgelockt hat und noch immer hervorlockt.
Und hier mengt sich die Stimme Franz Kafkas dazwischen, der das allzu Sichere, den mit Müh und Not erwischten Sinn, wieder ins Wacklige überführt: »Alles erscheint mir als Konstruktion. Jede Bemerkung eines anderen, jeder zufällige Anblick wälzt alles in mir auf eine andere Seite. Ich bin unsicherer als ich jemals war, nur die Gewalt des Lebens fühle ich. Und sinnlos leer bin ich. Ich bin wirklich wie ein verlorenes Schaf in der Nacht und im Gebirge oder wie ein Schaf, das diesem Schaf nachläuft.«
Schaf, das dem Schaf nachläuft, das leitet über zum reinsten der reinen Schafe, dem Lamm Gottes, dem ich mich bisweilen mühe hinterherzulaufen, wenn auch meistens erfolglos. Hinterherlaufen wiederum, das ist ein Wort, das gut zu den Gedanken von René Girard paßt, der die Mimesis, die Nachahmung zum Herzstück seiner Theorie über das Menschenopfer erwählt hat.
Überzeugend konnte er erklären, wie geschickt einige Mythen darin sind, die Wahrheit über das Menschenopfer systematisch in ihr Gegenteil zu verkehren. Das Opfer hat Schuld auf sich geladen, heißt kurz gesagt die mythische Begründung.
Die Verfolger wurden also in die Pflicht genommen, es umzubringen. In einem mimetischen, will heißen ansteckenden Furor überzeugen sich die Verfolger wechselweise davon, daß sie recht tun und recht getan haben. Sie wälzen alle angehäufte Schuld auf das Opfer ab und stiften darüber ein neues Gemeinschaftsbündnis. Ein Massenphänomen, ein kollektiver Gewaltexzeß. Und niemand kommt und klärt die Mörder über ihren verbrecherischen Irrtum auf. Der menschliche Sündenbock ist tot. Das Opfer wird erst dämonisiert, danach vergöttlicht. Vorübergehend kehrt Ruhe ein. Bis sich der mimetische Furor wieder entzündet und ein neues Opfer unter die Steine oder unters Messer kommt. Dafür kommt jeder Außenseiter in Frage, mit niederem oder hohem sozialen Rang. Oder ein Ausnahmemensch, der verblüffende Sätze spricht und eine verblüffende Haltung vorlebt – wie Jesus Christus.
Warum Mimesis? Warum Furor? Dahinter steht die immer wieder neu sich entzündende und verschärfende Rivalität des menschlichen Begehrens, Rivalität, die sich am Nächsten mißt, der mehr hat, der anscheinend begünstigt ist. Von der zerstörerischen Kraft dieses Begehrens weiß das Zehnte Gebot, das alle Arten solchen Messens und Begehrens verbietet, ein kluges Lied zu singen. Ein aggressiver, sich wechselweise anstachelnder Furor befällt die Rivalen, die sich ihrer Aggression entledigen, indem sie gemeinsam ein Opfer niedermachen. Stünde das eine Opfer nicht zur Verfügung, müßten sie übereinander herfallen.
Und, wie gesagt, nach dem Mord kehrt Entspannung, kehrt erst einmal wieder die Ruhe des Friedhofs ein.
Mimesis ist aber nicht an sich schlecht oder gefährlich. Auch Jesus fordert unentwegt zur Mimesis auf. Es ergeht bei seinem Handeln, seinem Sprechen ja fortwährend die Einladung, ihn nachzuahmen, so wie er selbst versucht, Gott nicht in Seiner göttlichen Egozentrik, sondern in Seiner Vorbildlichkeit des Gewährenlassens nachzuahmen. Aber es gibt den Gegenspieler, Satan, wenn auch nicht unbedingt als Person, so doch als zerstörerische Potenz, die ebenfalls zur Mimesis einlädt. »Satan sät Ärgernisse und erntet den Sturm der mimetischen Krisen«, wie René Girard so treffend schreibt.
Einzig in ihrer Art ist die Zusammenkunft von Jesus’ und der Ehebrecherin, festgehalten im Johannes-Evangelium. Sie hat auch mit dem Schreiben zu tun. Wie ein sich entzündender kollektiver Furor, der kurz davor steht, sich zu entladen, aufgehalten und zur Ruhe gebracht werden kann, davon erzählt die Geschichte. Unter Anführung der Schriftgelehrten ist eine aufgebrachte Menge drauf und dran, eine Ehebrecherin zu steinigen. Jesus aber gibt zunächst keine Antwort, er bückt sich nieder und schreibt mit dem Finger in den Sand. Es ist eine grandiose Ablenkungsgeste. Jesus setzt sich dem aufgebrachten Begehren nicht Aug in Aug aus, er tritt nicht an die Seite der Ehebrecherin und nimmt Partei, was ihn zweifellos in Gefahr bringen würde, gleich mit gesteinigt zu werden. Er vermeidet alles, was ihn selbst zum Mittäter oder zur Beute des mimetischen Furors machen könnte. Vergessen wir nicht, auch einem aufgebrachten Tier darf man nicht geradewegs in die Augen schauen, es wird dadurch nur noch mehr gereizt.
Zauberhaft an dieser Geschichte ist, wie der Furor an Jesus Finger wie an einem Blitzableiter hinab in den Sand fährt, in einen geschriebenen Text hinein, dessen Rätsel schwer zu lüften ist. (Manchen Kommentatoren zufolge lautet der Text: terra terram accusat, die Erde richtet die Erde, aber das ist ein anderes Thema.) Erst jetzt, wo der Erregung schon die Spitze genommen ist, kann die wunderbare Dämpfungspointe folgen: »Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein«.
Wirklich, ein außerordentlicher Satz, der ins Mark unserer Selbstgerechtigkeit zielt. Jesus schreibt in den Sand. Der erste Stein, der den Bann brechen könnte, fliegt nicht. Als Masse sind die Leute gekommen, einzeln ziehen sie wieder ihrer Wege. Jesus bleibt mit der Frau allein zurück und verdammt sie nicht. Bringen wir den Unterschied zwischen Mythos und Bibel noch einmal auf den Punkt. Verdient es das Opfer, geschlachtet zu werden?
René Girard schreibt: »Der Mythos antwortet stets mit ›Ja‹, die biblische Geschichte mit ›Nein‹.« Nein und abermals nein, die gesteinigten Propheten, Johannes der Täufer, Jesus, sie alle waren unschuldig, daran läßt die Bibel keinen Zweifel.
Von der Bibel wird die Kollektivgewalt nicht mehr sanktioniert. Gott ist woanders, jedenfalls nicht bei der aufgereizten, schlachtenden Menge. Mehr und mehr, in den übereinanderliegenden Schichten der Bibel, trennt sich Gott von der Gewalt. Schon die Psalmen geben den Opfern, denen schreckliche Gewalt angetan wurde, eine Stimme, und nicht ihren Verfolgern. Auch dazu noch einmal Girard: »Die Psalmen (…) setzen mythische Situationen in Szene, aber sie lassen uns an einen Menschen denken, der auf die ausgefallene Idee käme, einen prächtigen Pelzmantel mit der Innenseite nach außen zu tragen, und der, statt Luxus, Stille und Wollust auszustrahlen, das noch blutige Fell der gehäuteten Tiere zur Schau stellen würde.« Der Tod am Kreuz und die Auferstehung, sie sind das Herzstück, das die Wahrheit über das jesuanische Opfer und damit über alle je geschlachteten Menschenopfer aufdeckt: das Opfer ist unschuldig. Keinerlei Schuld kann an diesem Menschen gefunden werden. Die Klarheit der Offenbarung erlöst vom Nichtwissen der mythologischen Erzählungen, worin die Verfolger nicht wissen, was sie getan haben, und ihre Nachfolger nicht wissen wollen, was sie tun.
Franz Kafka schrieb: »Die Wirkung eines friedlichen Gesichts, einer ruhigen Rede, besonders von einem fremden, noch nicht durchschauten Menschen. Die Stimme Gottes aus einem menschlichen Mund.« Werden wir also ein bißchen ruhiger, schauen wir friedlich umher, ohne einander durchschauen zu wollen, sprechen wir aber dennoch von der Schuld.
Seit den Tagen, da die Teile des Neuen und des Alten Testaments verschriftet wurden, ist nicht nur viel Wasser den Jordan hinuntergeflossen, auch Laufrichtung, Laufgeschwindigkeit, das Hakenschlagen, die Hopser, die Bruchkanten, wann wo welche Stützpfosten in die Erzählung eingeschlagen werden, das alles hat sich gewaltig geändert. Von verschwindend geringen Ausnahmen abgesehen wird aber, wenn überhaupt erzählt wird, immer auch von schuldhaften Verwicklungen erzählt. In weiten Teilen des Alten Testaments bildet die genealogische Reihenfolge das narrative Korsett, anhand dessen die Helden die Bühne betreten, wo sie von einer schuldhaften Erbschaft entweder erstickt werden oder sich emporwinden zu neuer, erfrischender Gottesbereitschaft.
Im Neuen Testament tritt diesbezüglich eine sehr weitreichende Wende ein. Mit dem Auftritt Jesu, der zwar selbst noch durch die genealogische Reihe legitimiert ist – er ist durch seinen weltlichen Vater Josef ein Abkömmling des davidischen Königshauses –, bricht die verwandtschaftliche Kette entzwei. Jesus bewegt sich provozierend außerhalb der Familie, indem er mit einer Schar Jünger umherzieht, die zwar eine Ersatzfamilie bilden, wodurch aber keine Sippe mit Söhnen und Töchtern aus eigenem Fleisch und Blut begründet wird.
Das hat nicht nur Folgen für die religiöse Gemeindebildung, es hat auch Folgen dafür, wie erzählt wird nach dem Wirksamwerden der jesuanischen und vor allem der paulinischen Botschaft – besonders Paulus war Familienskeptiker, wenn nicht ein Familienzerstörer par excellence. Zwar spielen genealogische Herleitungen auch weiterhin eine Rolle, aber sie schrumpfen zu Kürzeln, die allenfalls noch zwei oder drei Generationen umspannen, zu Zeitausschnitten, wie wir sie aus den umfangreicheren der modernen Familienromane kennen.
Der Strom der Erzählungen schwoll, sobald er sich von archaischen Urtexten löste und allmählich zu Literatur wurde, gewaltig an, und auch die Erzählhaltungen gingen gewissermaßen in die Breite. Man schlage das Buch »Hiob« auf und lege Goethes »Wahlverwandtschaften« daneben, der Unterschied springt sofort ins Auge. Da nimmt sich »Hiob« in seiner Kargheit zunächst aus, als sei er mit zusammengebissenen Zähnen geschrieben, obwohl einige Passagen darin auch schon eine literaturhafte Blähung erleben, besonders wo Gott in ein Selbstlob über seine Schöpfung ausbricht. Das Meisterwerk von Goethe aber, das erzählt her, das erzählt hin, und liest in einer schier unmerklichen Suchbewegung Steinchen für Steinchen auf, aus denen ein reizvoll komponiertes Mosaik entsteht, bis alle Ingredienzien beisammen sind und das Unheil seinen Lauf nimmt.
Natürlich kann man die beiden Texte schwerlich vergleichen, sie haben wenig oder gar nichts miteinander zu tun. Und dennoch – zwar ist »Hiob« der Text im Alten Testament, der die Schuld- und Leidensfrage mit höchster Schärfe und Dringlichkeit stellt, fast kreischend laut, so laut, daß Gott immerhin dazu verlockt wird, Antwort zu geben – und das hat mit den gedämpften Tönen, die Goethe anschlägt, nicht das geringste zu tun. Aber untergründig geht es auch in den »Wahlverwandtschaften« um schuldhafteVerstrickungen, obwohl sich der Autor davor hütet, Urteile zu fällen, und die den Paaren innewohnende Liebesschuld zu Teilen dem Ähnlichkeitsstreben der Natur überantwortet. Die Schuld ist nicht mehr allzu konkret, sie ist osmotisch mit dem Text verbunden und streckt ihre verhängnisvollen Leimfingerchen nach allen Personen aus.
Auch Marcel Proust verstand viel von Schuld, was man bei seiner »Suche nach der verlorenen Zeit« über den in so vielen Licht- und Schatteneffekten schillernden Landschafts- und Objektbeschreibungen, dem Blütenschaum von Weißdorn und Flieder gern vergißt. Madame Verdurin, die wie eine Spinne in der Mitte des Romans sitzt, ist zweifellos eine böse, böse Frau. Ihr Schuldkonto ist gewaltig. Die meisten Figuren in diesem Buch sind bösartig. In äußerst feinen Abstufungen ist das Böse dargestellt, das in den Binnenkämpfen um eine ins Wanken geratene gesellschaftliche Rangordnung zum Austrag kommt. Wie Charles Swann von Madame Verdurin kaltgestellt wird, und wie der Herzog von Guermantes über Swanns Sterben hinweggleitet, das ist von exquisiter Bosheit. Der Gipfel ist erreicht, als die Verdurin den Baron de Charlus aus der Gesellschaft ausstößt. Das ist eine ganz große, den Leser direkt an den Herzmuskel fassende Szene. Proust bringt das Kunststück zuwege, einen höchst zweifelhaften Helden, den wir bereits in all seinen exaltierten Albernheiten und natürlich auch Bösartigkeiten kennen, im Moment der Ausstoßung als völlig unschuldiges Opfer erscheinen zu lassen. Emphatisches Ja! In diesem Moment ist Charlus absolut unschuldig, ein Homosexueller, dem auf brutale Weise der gesellschaftliche Prozeß gemacht wird, und alle Getreuen Madame Verdurins werden von der bösen Mimesis in die kollektive Gewalt gezogen. Zwar fliegen keine Steine, aber die Worte, die fallen, sind ungeheuerlich.
Was ich damit sagen will?
Daß fast alle bedeutenden Erzählungen bis auf den heutigen Tag – wie versteckt, wie scheinbar unbeteiligt von seiten des Autors auch immer – die intrikaten Schuldfragen verhandeln, die unser mühsam gezimmertes Gesellschaftsgerüst bedrohen. Intelligente Romane und Erzählungen weisen nicht mit dem Finger auf die Schuld, sie arbeiten mit feinsten Schabemesserchen und Sticheln an der Erkenntnis des Bösen, arbeiten unmerklich, aber um so wirksamer daran, den Leser selbst darin zu verstricken, auf daß er in sein pöbelhaftes, rachsüchtiges Herz blicke. Das Wunderbare an der eben aufgerufenen Romanszene ist: schlagartig werden wir zum Guten verlockt. Es ist kaum ein Leser denkbar, der im Moment der höchsten Not Charlus nicht beispränge, obwohl er auf den vorangegangenen Seiten die Demontage dieses exaltierten Mannes durchaus genossen hat.
In der Regel werfen wir nicht mit Steinen nach unseren Opfern, mit Worten hingegen schon. Achtzig Prozent dessen, was Menschen privat oder halbprivat miteinander bereden, dürfte auf Klatsch beruhen. Klatsch ist unausrottbar, er ist köstlich, er ist die Würze des Geselligen. Ich glaube, ich bin selbst ziemlich gewieft darin, meine Gegner in dramaturgisch gut aufgebauten Anekdoten zur Strecke zu bringen. Meine Anekdoten sind gehüllt in ein Bescheidenheitsmäntelchen – das zieht man in Schwaben gern an –, so daß der, der mir zuhört, meiner Selbstgefälligkeit, all dem, was beiherspielend die eigene Dominanz zur Schau stellt, vielleicht nicht sofort auf die Schliche kommt. Aber die Selbstgerechtigkeit behält das Ruder fest in der Hand. Daran besteht kein Zweifel. Das ist einfach nicht abzustellen. Und die allermeisten Menschen reden nach demselben Muster, mehr oder minder raffiniert oder eben öde, wenn sie das Zuspitzen von Pointen nicht beherrschen und ihre Selbstgefälligkeit allzu vordergründig exponieren. Wer’s aber witzig tut, der kommt damit durch und erntet Beifall.
Man stelle sich bitte einmal selbst auf die Probe und versuche, sich auch nur eine Woche lang aller Bemerkungen zu enthalten, die etwas Abfälliges über einen anderen Menschen und eine indirekte Selbsterhöhung in sich bergen, und sei es noch so versteckt – man wird sehen, das ist in Gesellschaft kaum durchzuhalten.
Erst recht nicht durchzuhalten ist es in unseren Monologen, die wir laut oder halblaut oder still zu uns selbst sagen. Was wir uns vorerzählen, wenn wir begierig uns lauschen, das dient unablässig der Selbstvergewisserung, und der Erzählfaden schlingert dabei in der Vergangenheit herum, und ein loses Ende reicht in die Zukunft. Allen Schaden, den wir genommen, alle Kränkungen, die wir erlitten haben – in einem inneren Redestrom, in mehr oder minder kohärenten Erzählungen wird das repariert und unser Selbstbewußtsein damit wieder neu abgedichtet. Sich dabei in die Zange zu nehmen und zu fragen, worin der eigene Schuldanteil an den widrigen Vorkommnissen besteht, das ist eine schwierige Übung, bei der unsere Kräfte schnell erlahmen. Manchmal dient die Erkenntnis eigener Schuld nur dazu, uns mit unserer feinfühligen Delikatesse zu brüsten und in dem Glauben zu wiegen, die anderen seien zu eigenem Schuldempfinden unfähig.
Kein Zweifel, wir sind schuldig und böse, und nur in seltenen Momenten ist unser Herz frei für die Güte. Ein ganzer Mensch zu sein heißt schuldfähig zu sein. Ich bin tief davon überzeugt, daß alles Erzählen, das den Namen Literatur verdient, unsere immer neu sich anhäufende Schuld beäugen und umschleichen muß. Daß darin Erkenntnis steckt, die zwar nicht erlösen, aber Linderung verschaffen kann, Linderung durch ästhetisches Vergnügen.
Jedesmal, wenn ich ein Buch von Kafka aufschlage und mich für eine Weile darin festlese, schwebt über mir ein Tröster und tupft mit lindem Finger an meine Stirn. »Das Kind mit den zwei kleinen Zöpfchen, bloßem Kopf, losen weißpunktierten rotem Kleidchen, bloßen Beinen und Füßen, das mit einem Körbchen in der einen, mit einem Kistchen in der andern Hand zögernd den Fahrdamm beim Landestheater überschritt.«
Ein fragiles Bild, es lebt und vibriert, obwohl es vor langer Zeit aus dem Strom der Erinnerung gegriffen und in die Schrift gerettet wurde. Noch immer will es in die Hut des Lesers genommen werden, auch wenn der Autor und wohl auch der Mensch, der damals ein kleines Mädchen war, inzwischen längst gestorben sind.
Leider will es mir nicht recht gelingen, einen fröhlichen Schluß zu finden. Das Unbehagen, das ich fühle, sei hier nur angedeutet: eine Prosa, die sich mehr und mehr auf den Kurzsatz versteift, der sich ans Gegenwärtige klammert, ist gedanklich nicht in der Lage, eine sublime Erkundung der Schuld zu betreiben. Dabei kann man nicht auf die Vergangenheit verzichten, auch Konjunktiv und Futurform müssen ihre hochmögenden Spieldienste leisten. Eine weitere Gefahr sehe ich in den allzu zerbrochenen Erzählformen, die das Schwirren einer mehr und mehr zum Fragment verkommenden Wahrnehmung nachahmen wollen.
Das moderne Freiheitsdenken vermag immer weniger in der Schuldfähigkeit des Menschen sein Eigentliches zu erkennen. Wer immerzu vor sich hin psychologisiert oder aber auf genetische Modelle fixiert ist, sucht die Schuldfähigkeit des Menschen zu minimieren. Dabei haben die klügsten und edelsten Köpfe vieler Generationen ihre geistige Spannkraft darauf gewendet, uns in unserer Schuld zu erkennen, Mittel zu finden, wie wir der Selbstzerstörung, dem Menschenopfer, entkommen.
Eine immer mehr punkthaft auseinanderfahrende Zeit, in der es den göttlichen Aufhalter nicht gibt, in der die Kette der Generationen in winzige Stücke zerbrochen ist und wir von den Wassern des Jordan her erzählend keinen tröstenden Sinn zu uns leiten, läßt uns ängstlich und nervös, vor allem: bitterlich allein zurück. Die Erzählfäden sind mürbe geworden, sie kommen nur mehr selten aus dem Woher und reichen kaum in das Wohin. Wohin das führen mag? Mögliche Antworten seien den spekulationswilligen Köpfen überlassen. Mir jagt das Driften in vollendeter Sinnlosigkeit jedenfalls Angst ein. Aber, wer weiß, vielleicht ist es für jüngere Menschen befreiend?
SINN UND FORM 2/2010, S. 251-263
Hundert Euro für den, der überzeugend darlegen kann, daß er haarscharf als die Person nachts die Augen schließt und sich in die Kissen wühlt, (...)
LeseprobeLewitscharoff, Sybille
ICH VERSUS WIDER-ICH
Selbstvorstellung in der Akademie der Künste
Hundert Euro für den, der überzeugend darlegen kann, daß er haarscharf als die Person nachts die Augen schließt und sich in die Kissen wühlt, von der gemeinhin angenommen wird, er sei ebendiese Person und keine andere.
Was gemeinhin als eine bestimmte Person mit Namen, Lebensdaten, etcetera verstanden wird, ist natürlich das, was im Paß verzeichnet ist und in einem kurzgefaßten Lebenslauf stehen könnte, vor allem aber sind es die abertausend, vielleicht Millionen Blicke, die diese Person von anderen Personen empfangen hat, welche sie fortlaufend interpretiert, einige davon ignoriert, Blicke, die zu einem immerzu leicht in Veränderung begriffenen Etwas versammelt werden, seiner nicht recht habhaft werdend, aber auch nicht bloß aus Luft bestehend, ein etwas, das die betreffende Person vielleicht als ihr Ich bezeichnen würde. Was immer dieses Ich sein mag, in seinen wesentlichen Teilen setzt es sich aus den verwandelten Blicken anderer zusammen.
Kommen wir zum Ich. Kommen wir zu mir. Will heißen, zu meinem Ich und Wider-Ich, wobei sich letzteres nicht aus den Blicken anderer zusammensetzt, sondern aus Blicken, die von meinem Inneren auf es geworfen werden. Es sind nämlich mindestens zwei Ichs, und sie vertragen sich nicht unbedingt. Ein Tag-Ich und ein Nacht-Ich, oder, genauer gesagt: ein Sitzen-Stehen-Gehen-Ich und ein Bett-Ich.
Es wird viel behauptet. Darum muß ich jetzt deutlicher werden.
Es wird zum Beispiel behauptet, ich, dieses geheimnisvoll hochmögende Ich, das jetzt vor Sie hintritt, sei in Stuttgart-Degerloch geboren, habe einen Bulgaren zum Vater und eine Schwäbin zur Mutter. Ein bulgarischer Vater ist wahrlich kein Sechser im Lotto, und eine kleinbürgerliche schwäbische Mutter mit blonden Locken und dezentem Silberblick auch nicht.
Es stimmt ja auch vorne und hinten nicht. Ungefähr mit zehn, vielleicht schon früher, aber davon weiß ich nichts Genaues mehr, habe ich mein wahres Ich entdeckt und seine Möglichkeiten auf dem Kopfkissen fortentwickelt und ausgeformt, zuweilen geschah es auch indolent hingefläzt in der Schulbank.
Frei herausgesprochen: an einem so öden Ort wie Stuttgart-Degerloch konnte ich nicht geboren worden sein, von so erzgewöhnlichen Eltern konnte ich nicht herstammen. Definitiv nicht! Da hätte ich mich ja gleich an einem Nagel im Universum aufhängen können. Nein. Mein Vater, mein richtiger, nicht der mir angedichtete Pseudovater – Sie hören, wenn von meinem richtigen Vater die Rede ist, wird die Stimme gleich anders – mein richtiger Vater war ein Abkömmling des Hauses Rothschild, ein Komponist und Ethnologe, den es nach Amerika verschlagen hat, und der wiederum von seinem Vater verstoßen worden war, weil er sich mit einer Indianerin zusammengetan hat, nämlich meiner Mutter. Lachen Sie nicht. Die Apachen, wie Karl May sie gezeichnet hat, sind ein ehrenwertes Volk. Halten wir fest: jüdischer schwerreicher Bankiersohn aus Frankreich, der sein Erbe ausgeschlagen hat, Indianerin.
Ich kann Ihnen nun nicht in allen Einzelheiten schildern, wie es dazu kam, daß alle, auch mein drei Jahre jüngerer Bruder, auf höchst grausame Weise ums Leben kamen, und ich als einzige Zuschauerin und Zeugin übrigblieb. Schon höre ich die üblichen kleinlichen Einwände. Es wird behauptet, ich hätte einen großen Bruder, acht Jahre älter, was ich jetzt nicht bestätigen kann und will. In puncto Familienvernichtung bin ich radikal – gewesen und geblieben. Familien verdienen es, vernichtet zu werden. Nur diese eine, kopfkissenerzeugte, hatte es eben nicht verdient, und daher rührt der wissende Glanz in meinen Augen, die Unbeugsamkeit meines Charakters, die Strafbefehle, die er aussendet, die Strafen, die er mit eigener Hand ausführt.
Genannt sei dieses bedeutsame Ich mein Wider-Ich. Wobei – merkwürdig, es kommt mir erst jetzt in den Sinn – dieses Wider-Ich ohne Namen auskommen muß. Es heißt jedenfalls definitiv nicht Sibylle Lewitscharoff. Es heißt aber auch nicht sowieso-sowieso-Rothschild. Weil mein verstoßener Vater in der Fremde einen anderen Namen angenommen hat. Aber welchen?
Kopfzerbrechen hat mir schon öfter bereitet, daß bei meiner Wider-Familie, bei den werdenden Schritten meiner sich aus ihr entwickelnden Ichheit, die historischen Zeiten etwas durcheinandergeraten – sie reichen von den amerikanischen Indianerkämpfen im 19. Jahrhundert bis zum Zweiten Weltkrieg, sie reichen in die sechziger und knapp in die siebziger Jahre hinein, was bedauerlich ist, weil sonst doch alles wie an der Schnur, mit kleinen Ausbuchtungen zwar, aber überaus logisch und plausibel erzählt wird. Auf Logik, zumindest die Logik der Gefühle und der von ihnen angeregten Handlungen, legt mein Wider-Ich allerhöchsten Wert. Nun, diese kleinen historischen Unschärfen wird man eben hinnehmen müssen, weil man einer so hochmögenden Persönlichkeit verzeihen muß, daß sie wilder als übliche Personen die Zeiten durchstreift und in den Zeiten blüht.
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SINN UND FORM 4/2012, S. 571-574, hier S. 571-572