Lenhard, Philipp
geb. 1980 in Bielefeld, Akademischer Rat auf Zeit am Historischen
Seminar der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität. 2014 erschien »Volk oder Religion? Die Entstehung moderner jüdischer Ethnizität in Frankreich und Deutschland 1782 –1848«, 2019 »Friedrich Pollock. Die graue Eminenz der Frankfurter Schule«. (Stand 2/2020)
Siehe auch SINN UND FORM:
- 4/2019 | Adornos letzte Postkarte
- 2/2020 | Die Legendenbildungslegende
Ende Juli 1969 bricht Adorno mit seiner Frau Gretel in den Sommerurlaub in die Schweiz auf. Es liegen anstrengende Tage und Wochen hinter ihm. Mit (...)
LeseprobeLenhard, Philipp
Adornos letzte Postkarte
Ende Juli 1969 bricht Adorno mit seiner Frau Gretel in den Sommerurlaub in die Schweiz auf. Es liegen anstrengende Tage und Wochen hinter ihm. Mit Herbert Marcuse war es zu einem heftigen Streit über die Haltung zur Studentenrevolte gekommen. Im Sommersemester hatte Adornos Vorlesung aufgrund von permanenten Störaktionen abgebrochen werden müssen. Einige Mitglieder des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes Frankfurt hatten Ende Januar das Institut für Sozialforschung besetzt, und Adorno hatte es polizeilich räumen lassen. Sein Student Hans-Jürgen Krahl wurde als Rädelsführer verhaftet. Unmittelbar vor der Abfahrt war es zum Prozeß gekommen, in dem Adorno gegen ihn aussagen mußte. »Nach dem Staatsanwalt stand der ehemalige Schüler auf«, berichtet ein Zeitgenosse, »und nahm den Zeugen ins Kreuzverhör. Ob er sich wirklich bedroht gefühlt habe, wollte er wissen, und was er eigentlich gesehen habe, das ihn veranlaßte, die Polizei zu rufen? Studenten, die heranmarschierten. In Reih und Glied? Nein, das nicht, aber … ein skurril-bösartiger Dialog.« All das setzt Adorno zu. In den Bergen sucht er nun Erholung und Zerstreuung, denn er hat in den kommenden Monaten viel vor. Eine Reise nach Venedig, wo er auf einer Tagung über die Kritische Theorie der Kunst referieren soll, steht für September auf dem Programm. Gershom Scholem hat ihn nach Israel eingeladen, außerdem sind Rundfunkauftritte geplant. Vor allem aber schreibt er an seiner »Ästhetischen Theorie«, die er in den nächsten Monaten abschließen will. Anders als in den vergangenen Jahren geht es dieses Mal nicht nach Sils Maria in Graubünden, ins berühmte Hotel Waldhaus, wo sich schon Hermann Hesse, Thomas Mann und Friedrich Dürrenmatt wohlfühlten. Gretel schmeckt das Essen dort nicht, auch die anderen Gäste sind ihrer Laune abträglich. Also reist das Paar ins Hotel Bristol nach Zermatt, zum Matterhorn, das der angeschlagene Philosoph in der »Ästhetischen Theorie« das »Kinderbild des absoluten Berges« nennt, »wie wenn es der einzige Berg auf der ganzen Welt wäre«. Hier will er sich von den Frankfurter Strapazen erholen. »Lieber Fred«, schreibt er am 25. Juli 1969 an Friedrich Pollock, den Mitbegründer und langjährigen Vizedirektor des Instituts für Sozialforschung, »tausend Dank für die Sendung, deren heilige Frühe uns ganz besonders erfreute. Wir sind gut respektiert, leiden nur noch ein wenig unter der fast unerträglichen Hitze und einer crowd, die damit nur allzugut sich vereint. Aber wir schalten alles ab, so gut es geht, und beginnen uns jetzt zu erholen. Hoffentlich habt Ihr’s recht schön in dem Wald-Häusl. Sag allen das Herzlichste von seinem getreuen Teddie.« Darunter kritzelt seine Frau »Alles Liebe, Gretel«. Auf der Rückseite der Postkarte prangt eine monumentale Schwarzweißaufnahme des Matterhorns. Das Dokument war bis jetzt gänzlich unbekannt. Es ist nicht im Adorno-Archiv verzeichnet, auch im Horkheimer-Pollock- Nachlaß in Frankfurt ist die Karte nicht vorhanden – genausowenig wie zwei weitere aus den sechziger Jahren. Alle drei sind Teil eines bislang kaum beachteten Teilnachlasses von Friedrich Pollock, der über Umwege in der Universitätsbibliothek Florenz landete – der Nachlaßverwalter von Pollocks Ehefrau hatte die Materialien nach ihrem Tod an Professor Furio Cerutti gegeben, einen der wichtigsten Kenner der Kritischen Theorie in Italien. Der auf mehrere Kisten verteilte Bestand gibt Einblick in die Nachkriegsgeschichte der »Frankfurter Schule« sowie in Theodor W. Adornos Gefühlswelt. Die Postkarte an Pollock ist nur ein kurzer Urlaubsgruß, aber sie steckt voller Anspielungen. Das läßt sich der Bildungsbürger »Teddie« Adorno nicht nehmen. »Heilige Frühe« ist ein Goethe-Zitat, aus der »Achilleis«; die Verwendung des Begriffs »crowd« für die anderen Urlaubsgäste spielt vielleicht auf David Riesmans Buch »The Lonely Crowd« an, in dem die spätbürgerliche konformistische Massengesellschaft seziert wird, vielleicht aber auch auf die eigenen Untersuchungen zur Kulturindustrie – freundlich gemeint ist es jedenfalls nicht; und die grammatikalisch etwas rätselhafte Formulierung »von seinem getreuen Teddie« ist eine ironische Übertragung des »getreuen Eckart« aus dem Nibelungenlied. Es sollte Adornos letzte Postkarte sein, denn er überlebt die Reise nicht. Am 26. Juli schreibt er Herbert Marcuse einen Brief, in dem er sich als »schwer ramponierten Teddie« bezeichnet. Knapp eine Woche später fahren die Adornos mit dem Lift auf die Spitze eines 3000 Meter hohen Berges. Die Höhenluft bekommt ihm nicht, sein Herz beginnt zu rasen. Er leidet unter Atemnot und Brustschmerzen, so daß sich das Paar entschließt, das Krankenhaus St. Maria im nahen Visp aufzusuchen. Dort, wo 1954 schon sein Freund und Kollege Franz Neumann gestorben war – Pollock hatte die Grabrede gehalten –, erliegt er am Morgen des 6. August einem Herzinfarkt. Gretel ist bei ihm, als er stirbt. Adornos letzte Postkarte erreicht Pollock im Luxushotel Waldhaus in Flims. Als er einige Tage später die Nachricht vom Tod des Freundes erhält, steht er unter Schock. Schon seit dem gemeinsamen Exil in Amerika – Pollock kam 1934 nach New York, Adorno folgte 1938 – waren sie mehr als nur Kollegen gewesen. Mit der Zeit war die Beziehung immer enger geworden, und so mag es kein Zufall sein, daß gerade Pollock kurz vor dem Tod noch einmal Post erhielt. Obwohl sich die beiden gegenseitig »Teddie « und »Fred« nannten, siezten sie sich bis zuletzt. Das war kein Ausdruck von Fremdheit, sondern etwas anderes, wie Adorno am 20. Mai 1964 in einem (bislang unpublizierten) Brief anläßlich von Pollocks 70. Geburtstag schreibt: »Es ist ja zwischen uns beiden, Ihnen und mir, eine nachgerade ehrwürdige Tradition, Gefühle nicht gar zu unmittelbar auszudrücken. Ich weiß nicht, ob diese Tradition, ganz ernst genommen, wirklich das Beste ist; ob man nicht manchmal eben doch es sagen sollte und all die Tabus verletzen, die mit Begriffen wie Reife, Männlichkeit, Unsentimentalität und ähnlichem verbunden sind, und denen unsereiner ja selber nicht über den Weg traut.« Die bisweilen verkrampft und steif wirkenden Umgangsformen Pollocks nahm Adorno in dem Brief aufs Korn – so »ganz ernst« könne man das bürgerliche Getue nicht nehmen, dahinter versteckten sich letztlich verdrängte Triebregungen. Doch zu nahe treten wollte er Pollock auch nicht: »Mag es sich damit verhalten wie es wolle – es ist eine schwierige Sache, über der man tiefsinnig werden kann. Aber eines möchte ich doch. Sie sollen wissen, daß, wenn ich auch heute diese Tradition respektiere und Ihnen nicht all das sage, was mich bewegt in dem Augenblick, da Sie siebzig Jahre alt werden, diese Haltung nichts von dem hat, was sie so oft ist, nämlich von der Prätention, zu stark Gefühltes zu verschweigen, wo in Wirklichkeit nur die Kälte ist. Ich denke an Sie mit all der Wärme und Freundschaft, hinter der nicht nur Stimmung und subjektives Verhalten steht, sondern die ihre Substanz hat an einem langen Leben, das ich mir nicht ohne Sie vorstellen kann und das, so bin ich eingebildet genug zu glauben, auch Sie nur schwer ohne mich sich vorstellen könnten, jedenfalls in dem Sinn, daß unser beider Leben sonst das nicht geworden wäre, was es ist. Daß diesem Gefühl auch das einfache der Dankbarkeit sich gesellt; daß ich, wären Sie nicht, mit großer Wahrscheinlichkeit zugrunde gegangen wäre, das wollen Sie zwar, schamhaft wie Sie sind, wohl nicht hören, aber lassen Sie es mich doch, dies eine Mal, with so many words, Ihnen sagen.« Daß Adorno schreibt, er könne sich ein Leben ohne Pollock nicht vorstellen, mag zunächst erstaunen. Bislang war er nur einigen Experten ein Begriff. In der Forschungsliteratur taucht er fast ausschließlich als administrativer Verwalter des Instituts auf und hat folglich wenig Interesse geweckt. Wenig bekannt ist seine wissenschaftliche Rolle innerhalb des Instituts, in dem er vor allem als Erneuerer der Marxschen Theorie und politökonomischer Prognostiker auftrat, der untersuchte, »wohin die Reise geht«. Der habilitierte Volkswirtschaftler leistete Grundlagenforschung für seine philosophisch und kulturwissenschaftlich arbeitenden Kollegen, die sich als historische Materialisten verstanden, sich aber mit wirtschaftlichen Fragen nur am Rande beschäftigten. Auf diese wechselseitige Befruchtung spielt Adorno an. Neben Pollocks wissenschaftlicher Arbeit war aber auch seine Verwaltungstätigkeit von großer Bedeutung. Gemeinsam mit Horkheimer repräsentierte er über fast drei Jahrzehnte »das Institut« und schuf im Exil einen Hafen vor allem für jüdische Intellektuelle, die aus Europa entkommen waren. Pollock, der Deutschland 1933 verlassen hatte und 1939 ausgebürgert wurde, dessen Haus »arisiert« worden war und dessen Familienangehörige teilweise dem Holocaust zum Opfer fielen, half anderen Verfolgten, wo er nur konnte. Er kümmerte sich um Affidavits, besorgte Bürgschaften, zahlte Stipendien und Honorare aus, vermittelte Wohnungen und Jobs und war für Dutzende ein rettender Anker in einer schier ausweglosen Situation. Einer von diesen war Theodor Adorno. Als getaufter »Halbjude« war ihm im Wintersemester 1933 die Lehrbefugnis entzogen worden. Trotz des anfänglichen Optimismus, Hitlers Zeit könne bald vorüber sein, ging er 1934 nach Oxford, um dort den akademischen Grad eines Ph.D. zu erwerben. 1937 kam seine jüdische Freundin und spätere Ehefrau Margarete »Gretel« Karplus nach. War Adorno bis 1938 immer wieder nach Deutschland gereist, um seine Eltern und Freunde zu besuchen, so schien ihm das nun fast unmöglich. Anfang Februar dieses Jahres stellte er in einem Brief an Max Horkheimer fest: »Es ist kaum mehr daran zu zweifeln, daß in Deutschland die noch vorhandenen Juden ausgerottet werden: denn als Enteignete wird kein Land sie aufnehmen. Und es wird wieder einmal nichts geschehen: die anderen sind ihres Hitlers wert.« Auch Horkheimer und Pollock, die 1934 das Institut für Sozialforschung in New York wieder errichtet hatten, waren bezüglich der Entwicklung in Deutschland pessimistisch. Sie luden Adorno ein, als fester Mitarbeiter nach Amerika zu kommen – und dieser akzeptierte das Angebot. Am 16. Februar 1938 stach das frisch vermählte Ehepaar mit der S. S. Champlain in See. Pollock vermittelte eine hübsche Dreizimmerwohnung im Greenwich Village in Manhattan. Adorno wurde zum wichtigsten Mitarbeiter des Instituts und verfaßte mit Horkheimer die berühmte »Dialektik der Aufklärung«. Nach 1945 kehrten Horkheimer, Pollock und Adorno zurück, um das Institut in Frankfurt wieder aufzubauen und ihren Teil zur demokratischen »Reeducation« beizutragen. Stand in der frühen Nachkriegsgesellschaft zunächst noch Horkheimer als Repräsentant der Kritischen Theorie in der Öffentlichkeit – unter anderem erhielt er 1950 die renommierte Goethe-Plakette und war von 1951 bis 1953 Rektor der Frankfurter Universität –, so wurde Ende der fünfziger Jahre Adorno zum Gesicht der nun Frankfurter Schule getauften kritischen Sozialwissenschaft. Als Horkheimer und Pollock 1958 / 59 ins schweizerische Montagnola zogen, wurde Adorno zum Institutsleiter ernannt. Als public intellectual und geschätzter Hochschullehrer vertrat er weiter die Frankfurter Schule, die einen nicht eben kleinen Beitrag zur »intellektuellen Gründung der Bundesrepublik« leistete. Oft wünscht man sich, er könnte noch das Wort ergreifen.
SINN UND FORM 4/2019, S. 567-570