Leggewie, Claus
geb. 1950 in Wanne-Eickel, Politikwissenschaftler, Ludwig-Börne-Professor an der Universität Gießen, bis 2017 Direktor des Kulturwissenschaftlichen Instituts in Essen. 2019 erschien »Jetzt! Opposition, Protest, Widerstand«, 2022 »Reparationen im Dreieck Algerien, Frankreich, Deutschland«. (Stand 6/2024)
Siehe auch SINN UND FORM:
- 1/1992 | Zurück aus Sowjetrussland? Die Reiseberichte der radikalen Touristen André Gide und Lion Feuchtwanger 1936/37
- 5/2016 | Neue Briefe aus Paris. Eine Wende im literarisch-politischen Grenzverkehr
- 1/2020 | Auf den Spuren Wolfgang Koeppens in Washington
- 6/2024 | Nichts ist gewaltiger als der Mensch. Das Anthropolis-Projekt
Für Rupert Neudeck,
den Frankreichkenner und Menschenretter
(1939 – 2016)
Das Schmettern des gallischen Hahns
Frankreich zieht (...)
Leggewie, Claus
Neue Briefe aus Paris.
Eine Wende im literarisch-politischen Grenzverkehr
Für Rupert Neudeck,
den Frankreichkenner und Menschenretter
(1939 – 2016)
Das Schmettern des gallischen Hahns
Frankreich zieht deutsche Kulturschaffende seit der Revolution von 1789 in seinen Bann. Zu den Frankophilen des »Jungen Deutschland«, einer Kongregation freiheitsliebender Literaten im Vormärz, zählte Carl Ludwig Börne, 1786 als Juda Löb Baruch in der Frankfurter Judengasse (am heutigen Börneplatz) geboren und 1837 in Paris gestorben. Aus dem Exil schrieb er seiner Muse Jeanette Wahl »Briefe aus Paris«, deren zweiter (von insgesamt 115) vom 7. September 1830 für den Sound zeitgenössischer Frankreichbegeisterung stehen mag. Schon der Grenzübertritt löst bei ihm Verzückung aus: »Die erste französische Kokarde sah ich an dem Hute eines Bauers, der, von Straßburg kommend, in Kehl an mir vorüberging. Mich entzückte der Anblick. Es erschien mir wie ein kleiner Regenbogen nach der Sündflut unserer Tage, als das Friedenszeichen des versöhnten Gottes. Ach! und als mir die dreifarbige Fahne entgegenfunkelte – ganz unbeschreiblich hat mich das aufgeregt. Das Herz pochte mir bis zum Übelbefinden, und nur Tränen konnten meine gepreßte Brust erleichtern. (…) Die Fahne stand mitten auf der Brücke, mit der Stange in Frankreichs Erde wurzelnd, aber ein Teil des Tuches flatterte in deutscher Luft. Fragen Sie doch den ersten besten Legationssekretär, ob das nicht gegen das Völkerrecht sei. Es war nur der rote Farbenstreif der Fahne, der in unser Mutterland hineinflatterte. (…) Gott! könnte ich doch auch einmal unter dieser Fahne streiten, nur einen einzigen Tag mit roter Dinte schreiben, wie gern wollte ich meine gesammelten Schriften verbrennen, und selbst den unschuldigen achten Teil von ihnen, der noch im Mutterschoße meiner Phantasie ruht!«
Börne trifft am 16. September 1830 in Paris ein, mit ihm halten sich rund siebentausend deutsche Exilanten an der Seine auf. Er flaniert, besucht Kaffeehäuser, die Oper und das Vaudeville, den Jardin des Plantes und stürzt sich »jubelnd in das frische Wellengewühl«. Solche Euphorie ist mittlerweile nur noch schwer vorstellbar. Börne, der heute als Erfinder des politischen Journalismus gilt, wurde 1808 in Gießen zum Doktor der Philosophie promoviert und lebte eine exemplarische Existenz, ihm ging es um"die Vermittlung zwischen Wissenschaft und Publikum, die Information der Öffentlichkeit durch eine allgemeinverständliche Darstellung von Ideen, das Zusammenführen der verschiedenen Lebenskreise« (Willi Jasper). Diese Tätigkeitsbeschreibung nimmt recht genau die Aufgaben vorweg, denen sich Ende des 19. Jahrhunderts »les intellectuels « stellen sollten und die von Paris aus für ganz Europa stilbildend wurden.
Von Börne und Heine, um nur einen Compagnon und Widersacher zu nennen, führt eine lange Spur zu teilweise schon vergessenen Deutschen, die aus dem französischen Geist Inspiration und Courage bezogen. Jean-Paul Sartre und Albert Camus werden seit den vierziger Jahren breit rezipiert, ebenso wie um 1968 die Nouvelle Gauche und in den Siebzigern die »Franzosentheorie« von Roland Barthes, Jacques Derrida und Michel Foucault, auch die »Neuen Philosophen« um André Glucksmann und Bernard Henri-Lévy. Zu erwähnen sind aber auch Friedrich Sieburg, konservativer Kulturkorrespondent der »Frankfurter Allgemeinen« in Paris, oder Armin Mohler, der Doyen der Konservativen Revolution, der für diverse Tages- und Wochenzeitungen aus der französischen Hauptstadt berichtete.
Vielen Generationen war Paris vor allem ein Leuchtturm der sozialen Emanzipation: »Wenn alle Bedingungen erfüllt sind, wird der deutsche Auferstehungstag verkündet werden durch das Schmettern des gallischen Hahns«, prophezeite Karl Marx im Januar 1844 von Paris aus den Deutschen, die ihre bürgerliche Revolution verpaßt hatten und nun gleich in die sozialistische Gesellschaft springen sollten. Die Pariser Kommune von 1871 nährte noch einmal die Hoffnungen der radikalen Linken, und bis heute erwarten sich Unbeirrbare ein neues Fanal aus Frankreich, wenn die Bewegung der »Nuit debout« die Nacht über aufrecht steht und Gewerkschaften gegen die französische Agenda 2010 mobil machen. Eines jedenfalls galt lange als ausgemacht: Der (französische) Geist steht links.
Energischsein
In Frankreich können freilich auch Republikaner den Aristokraten geben. Männer (und Frauen) der Linken pflegen Marotten und Spleens, die sie vom einfachen Volk abheben, ganz selbstverständlich benehmen sie sich als Angehörige der Elite. Dazu gehört finanzielle Unabhängigkeit – eine Erbschaft, ein Familienbetrieb oder eine Apanage im Hintergrund, Tantiemen aus der Schriftstellerei. Man spricht ein etwas altmodisches Französisch, unverdorben vom plebejischen oder migrantischen Patois, aber nicht ohne drastisches Vokabular und stets etwas pathosschwanger. Eine katholische Erziehung stört ebensowenig wie Freimaurerei, man bedient sich toter Sprachen und bissiger Aperçus. Und kann im Alter von Abenteuerreisen in koloniale Gebiete berichten, deren Verlust milde bedauert wird.
Um derlei rechts zu überholen und sich wahrhaft Elite nennen zu können, muß man schon Monarchist sein, die Ermordung Ludwigs XVI. unter der Guillotine als Urkatastrophe des modernen Frankreich ansehen, die Messe auf Latein hören, eventuell okkulten und esoterischen Neigungen frönen. Und offen reaktionär sein, die Revolution für einen welthistorischen Fehler und Maréchal Pétain, der mit Hitler kollaborierte, für eine honorige Person halten. Mit der Familie Le Pen, die dem Front National in quasi-dynastischer Erbfolge vorsteht, macht man sich nicht direkt gemein, liefert aber der rachgierigen Bourgeoisie die Stichworte und verachtet den Plebs, der früher der KP, nun Le Pen folgt, als auswechselbare Masse.
Als Inkarnation dieses état d’âme, einer Seelenlage zwischen Dandytum, Rebellion und Melancholie, darf der über neunzigjährige Schriftsteller Jean Raspail gelten. Die meisten Deutschen kennen den Mann nicht, dem die FAZ schwärmerische Elogen widmet und jüngst einen Abgesandten in die Pariser Wohnung, selbstverständlich Rive droite, schickte, zum »letzten ausführlichen Gespräch (…), das der reaktionäre Einzelgänger der Öffentlichkeit zu geben gedenkt« (6. April 2016). Das Resümee war der Sektion »Geisteswissenschaften« fast eine ganze Seite wert.
Die Homestory war eine Art Kassiber an Raspails anschwellende Lesergemeinde in Deutschland. Drei Werke sind soeben zum Teil neu übersetzt erschienen, zwei davon im Verlag Antaios, dem nach Ernst Jüngers Zeitschrift benannten Verlag im Rittergut Schnellroda in Sachsen-Anhalt, einer Kaderschmiede der »Alternative für Deutschland« und der Pegida-Bewegung. Deren Ambitionen ließen sich gut in eine markige Losung Jean Raspails fassen: »Gewalt ist nicht zwangsläufig ein Töten, sondern zunächst eine Attitüde eminenten Energischseins.« Das klingt nach Aufruhr und Rebellion, aber sicher nicht nach links. Exakt solche jüngerhaften Sätze festigen Raspails Status als »Kultautor« der völkisch-autoritären Rechten. Nicht daß man ihn gegen seine Liebhaber diesseits und jenseits des Rheins verteidigen müßte (er macht seinem Image als »archéo-réac« alle Ehre), aber versuchen wir zunächst, seinem früheren Werk gerecht zu werden.
Für Kindheit und Jugend des 1925 geborenen Autors trifft grosso modo zu, was über ähnliche Geistesaristokraten schon gesagt wurde: Abkunft von einem Militärattaché und Bergwerksdirektor aus einer lupenrein französischen Familie, katholische Gymnasien, eine gewisse Sympathie für Deutsche in Uniform (1935 an der besetzten Saar und 1940 im okkupierten Frankreich), Antipathie gegen ein Amerika, das Frankreich 1945 von ihnen befreit. Raspail pflegt seine Gattin zu siezen (die Burschen vom Rittergut tun es ihm nach) und blickt auf ein aufregendes Leben als Freigeist und Abenteurer zurück. Zwischen 1952 und 1972 legte er ein Dutzend Reiseberichte über selbstorganisierte Expeditionen vor: 4500 Kilometer mit dem Kanu durch »Französisch-Nordamerika«, von Québec bis New Orleans, diverse Reisen ums Kap Hoorn, im Auto durch Alaska, auf den Spuren der Inka und Abstecher zu den Ureinwohnern Patagoniens, Raspails Arkadien an der Südspitze Lateinamerikas. Damals entdeckte der Ethnologe Claude Lévi-Strauss die traurigen Tropen, deren Völker im Strudel der Modernisierung untergehen; Raspail übertrug deren Schicksal auf den in seinen Augen unaufhaltsamen Niedergang der Franzosen: »reif für den finalen Schlag«.
Reif für den Knockout, diese Art von Niedergang ist Thema des ersten großen Romans, auf den Raspail selbst den Beginn seiner Karriere datiert: »Le Camp des Saints«, zu deutsch »Das Heerlager der Heiligen«. Er erschien 1973 im renommierten Pariser Verlag Robert Laffont, erlebte bis 2013 mehrere Neuauflagen und Übersetzungen in diverse Sprachen und soll in Frankreich bis zu 200 000 Mal verkauft worden sein. Der fromme Titel geht auf Abschnitt 20/7 in der Johannes-Offenbarung zum Tausendjährigen Reich zurück: »Und wenn die tausend Jahre vollendet sind, wird der Satan losgelassen werden aus seinem Gefängnisse, und er wird ausgehen und verführen die Völker in den vier Ecken der Erde, und er wird sie versammeln zum Streite, deren Zahl ist wie der Sand des Meeres. Und sie zogen herauf auf die Breite der Erde und umringten das Heerlager der Heiligen und die geliebte Stadt. Und es fiel Feuer von Gott aus dem Himmel und verzehrte sie.«
Diese »Apokalypse nach Jean« ist die dramatische Geschichte einer Masseninvasion elender und hungernder Inder, die zu Hunderttausenden am Ganges aufbrechen und nach vierzigtägiger Fahrt über die Weltmeere mit ihren abgetakelten Schiffen an der Côte d’Azur landen. Eine »Armada der letzten Chance« nennt ein französischer Starjournalist die Flotte, und es fehlt nicht an anspielungsreichen Bekundungen der Solidarität. Im Pariser Mai wurde gegen die von de Gaulle und der KPF erwirkte (und klar judenfeindliche) Ausweisung von Daniel Cohn-Bendit der kosmopolitische Slogan »Wir sind alle deutsche Juden!« angestimmt, analog erschallt der anreisenden Schar multikulturell entgegen: »Wir sind alle Menschen vom Ganges!« Deren Reise auf hundert überfüllten Schiffen verfolgt der Roman in Rückblenden und prangert die Verblendung derjenigen an, die sich der Invasion nicht entgegenstemmen (wie es die Regierungen von Australien, Ägypten und Südafrika tun). Im Mittelmeer zunächst voller Mitleid empfangen, werden sich die Menschen vom Ganges dafür nicht erkenntlich zeigen, sondern Frankreich fast widerstandslos übernehmen.
Diese Eroberung durch schiere Zahl spielt sich, in klassischer Einheit von Zeit, Ort und Handlung, zu einem nicht näher bestimmten Zeitpunkt (sagen wir: heute) rund um ein Osterfest ab und enthält wunderbar bösartige Beobachtungen über das Gemunkel und Geplapper von Menschen in Notsituationen, mit denen sie nicht gerechnet haben und die sie sich schönreden: Das sind die Opportunisten an der Staatsspitze, das ist die intellektuelle Schickeria, das sind namentlich kirchliche Würdenträger unter einem Papst namens Benedikt XVI. (1973!), der eher dem Nachfolger Franziskus gleicht. Den Klerus nimmt Raspail besonders aufs Korn, auch die linksliberale Presse (deutlich erkennbar ist als Vorbild die Wochenzeitung »Le Nouvel Observateur«), die sich zu beweisen bemüht, »wie sehr die Menschen vom Ganges schon immer unsere Kultur bereichert haben«.
»Mitleid!« bricht es aus einem Protagonisten heraus. »Immer dieses erbärmliche, widerliche, hassenswerte Mitleid. Ich weiß, Sie nennen es Nächstenliebe, Solidarität, Weltgewissen und so weiter. (…) Bedenken Sie doch die Konsequenzen Ihres allzu willfährigen Mitleids! Das ist doch geradezu kriminell! Nur ein Wahnsinniger oder ein Verzweifelter kann so blind sein wie Sie!« Ungerührt lassen (ausgeschriebene) »zweiunddreißigtausendsiebenhundertzweiundvierzig Lehrer« ihre Schüler Aufsätze schreiben, wie man die Fremdlinge willkommen heißen kann … Natürlich geht die Sache schief: »Das Tier«, wie die Million Inder bei Raspail heißen, wird eine einstmals blühende, aber moralisch verrottete Zivilisation vandalisieren. Sie kopulieren wild und vergewaltigen, es kommt zu Plünderungen, die Gefängnisse werden geöffnet, der Präsident ruft den Kriegszustand aus. Doch seine Armee will nicht schießen, die stolzen Fregatten und Flugzeugträger der Grande Nation im Mittelmeer bleiben stumm. Die Franzosen machen sich feige aus dem Staub und hauen in die Schweiz ab, die dann als nächste überrannt wird. Nur eine kleine Gruppe von Desperados stellt sich dem Desaster entgegen, doch die Auflösung von allem, was Frankreichs Zivilisation einmal ausgemacht hat, können sie nicht abwenden. So ungefähr geht der Untergang des Abendlands.
[…]
SINN UND FORM 5/2016, S. 639-654, hier S. 639-643
»Die Kasernen der geimpften Kreuzritter auf Europas Boden, der erneuerte Limes am Rhein, Raketenrampen im schwarzen Revier, Versorgungsbasen bei der (...)
LeseprobeLeggewie, Claus
Auf den Spuren Wolfgang Koeppens in Washington
»Die Kasernen der geimpften Kreuzritter auf Europas Boden, der erneuerte Limes am Rhein, Raketenrampen im schwarzen Revier, Versorgungsbasen bei der hohen Schule von Salamanca, Bulldozer, Planierungsmaschinen, Höhlenbohrer, Verstecke für die Angst, Unterstände für die Torheit, die alten Weinberge den Göttern und den Heiligen und dem Umsatz geweiht, das deutsche Vorfeld, die germanische Mitte, des Erdteils gebrochenes Herz, Maginots wiedererstandene Illusionen, die Kolonien der Feldoffiziere und Sergeanten mit dem Indianergesicht, Nachbarschaft und Isolierung, die Main Street mitgebracht …«
Was für ein Eröffnungssatz! Der sich dann im gleichbleibenden Stakkato über zwei weitere Seiten erstreckt und, noch ganz unter dem Eindruck eines amerikanisch besetzten und beglückten Landes, den Bericht von einer Reise durch das Land der »Weltherrschaftsaspiranten« und des »guten Gelds des Marshallplans« einleitet. Liest man Wolfgang Koeppens »Amerikafahrt« von 1959 heute wieder, bekommt man ein Bewußtsein für den Anfang und das Ende des Vorbilds, das »Amerika« nicht nur in unseren Breiten darstellte.
Genau deswegen gestattete ich mir das Vergnügen, das vor sechzig Jahren im Henry Goverts Verlag erschienene Buch zum Cicerone einer neuerlichen Reise durch die Vereinigten Staaten zu machen, wo ich im Unterschied zu Koeppen einige Jahre leben und arbeiten durfte. Manhattan war der Sehnsuchtsort des Schriftstellers, bei dem bis heute vor allem die spätere Schreibhemmung und das nicht erschienene Werk herausgestellt werden – ein Werk, dessen Gesamtausgabe nun freilich nicht weniger als sechzehn Bände umfaßt. Amerika, das Koeppen dreimal besuchte, wobei er vor allem New York mit Reiseberichten bedachte, war nicht sein einziges Ziel, zuvor hatte er von Spanien, Frankreich und Rußland erzählt, und diese literarischen Reportagen wurden zu seiner Haupteinnahmequelle. Der Schriftstellerfreund Alfred Andersch leitete damals das Abendstudio des Süddeutschen Rundfunks, der die Reise mit Unterstützung durch das State Department finanzierte.
Und dem Autor alle Freiheiten ließ. Im Fall Koeppens war das die eingangs zitierte assoziative Parataxe und Montage, deren Eigentümlichkeit einen Rezensenten wie den Schriftsteller Helmut Heißenbüttel zu dem Urteil brachte, man wolle sie wohl lieber hören als lesen. Amerika war für Koeppen ein Experimentierfeld der literarischen Moderne, deren Koryphäen er in seinen frühen BRD-Romanen meisterhaft imitiert hatte, bis hin zu dem von Gertrude Stein entlehnten Titel »Tauben im Gras«. So kam Amerika »schon zu Koeppen, bevor er nach Amerika gehen konnte«, schreibt Michael Kimmage, der Übersetzer der erst 2012 erschienenen Übertragung ins amerikanische Englisch. Koeppens eigentlicher Guide war allerdings Karl Roßmann aus Kafkas Roman »Amerika«.
Der 1906 in Greifswald geborene Romancier war kein Bewunderer der Vereinigten Staaten. Er steckte tief im Erfahrungsraum zweier Weltkriegskatastrophen und im Erwartungshorizont einer atomaren Konfrontation zwischen den Supermächten, die er gleich zu Beginn aufruft. Koeppen schaut weder auf die USA herab, wie viele seiner Generation, noch bewundert er sie, wie viele meiner und späterer Generationen. »Hier war ich Europäer, und ich wollte es bleiben.« Stereotypen und Platitüden finden sich selten beziehungsweise genau da, wo sie hingehören, wo das Land seinen Besuchern nämlich aus Film & Fernsehen ohnehin stets bekannt vorkommt. (Ein europäischer Schriftsteller bekundete mir während seines USA-Stipendiums in den neunziger Jahren seine Langweile: »Das kenn ich eh schon alles.«)
Koeppen war im April 1958 per Schiff angereist und in New York an Land gegangen. Von dort reiste er mit dem Zug nach Washington D. C. und New Orleans, mit dem Greyhound-Bus weiter durch Texas und Arizona, mit der Santa-Fe-Bahn nach Los Angeles, von dort nach San Francisco und über Salt Lake City nach Chicago und Boston. Von New York trat er im Juni den Rückflug nach Europa an. Gute zwei Monate sind länger als das berüchtigte »Europe in ten days«, das dollarschwere US-Bürger damals absolvierten, aber doch sehr knapp bemessen für etwas, das mehr als eine Tour d’horizon sein sollte. Die freilich lieferte Koeppen als luzider Beobachter, ob und gegebenenfalls mit wem er sich unterhalten hat, notiert er kaum. Mal war er amüsiert über Kindsköpfiges, mal schockiert über die strikte, kaum durchbrochene Rassentrennung, gelegentlich animiert durch Striptease und Sex und stets voller Bewunderung für US-Autoren. Die Diagnose des Soziologen David Riesman, Amerika bilde eine »einsame Masse« und kenne das aus Europa bekannte Kollektivhandeln nicht, formulierte Koeppen so: »Kein Land der Masse, ein Land der Einsamkeit.« Und einsam wollte er ja auch auf Reisen sein, sich wenigstens so stilisieren zwischen Katastrophenfurcht und Selbstentfremdungslust.
Koeppen tat gut daran, ganz Amerika zu durchreisen und es nicht bei Manhattan oder Berkeley zu belassen. Damals regierte Dwight D. Eisenhower im Weißen Haus, jener General, der die Deutschen erst besiegt und dann in die westliche Allianz aufgenommen hatte, um den Preis dauerhafter Teilung und periodischer Berlin-Krisen. Koeppen schrieb vor der Konsolidierung dieser Asymmetrie zur (niemals harmonischen) »Deutsch-Amerikanischen Freundschaft« und der Routine transatlantischer Lobby Groups. Washington erlebte er noch als hitzeschwüle, fast idyllische SüdstaatenCity, deren Hotels er sich dennoch nicht leisten konnte. Der Aufstieg von Senator John F. Kennedy aus Massachusetts stand noch bevor, ebenso das Free Speech Movement an der Universität von Berkeley, der er einen Besuch abstattete. Mit Jack Kerouac wußte er etwas anzufangen, aber nicht mit den Protesten gegen den Vietnamkrieg, die bei Teilen meiner Generation eine Haßliebe zu den USA erzeugten.
Ganz anders ist heute das Verhältnis zur rivalisierenden Großmacht: Mittlerweile ist eher von einer »collusion«, einer unappetitlichen Verquickung von Geschäftsinteressen des amtierenden Präsidenten Donald Trump mit Putins Oligarchen und versuchter Wahlmanipulation aus Moskau die Rede. Zur Zeit darf man aus europäischer Sicht beide Ex-Schutzmächte als trollartige Akteure wahrnehmen, die der EU schweren Schaden zufügen. Eine kämpferische Restrivalität zeigt sich nur, wenn der Straßenabschnitt vor der russischen Botschaft in Washington »Boris Nemtzov Plaza« getauft wird, in Erinnerung an den vor dem Kreml heimtückisch ermordeten Oppositionellen. Und der amerikanische Freiheitsdrang ist noch vital im (gescheiterten) Bemühen, die New Hampshire Avenue vor der saudischen Botschaft »Jamal Khashoggi Way« zu nennen, um das Bekenntnis der USA zur Pressefreiheit zu unterstreichen.
Von Koeppen ließ ich mich zu einer Konferenz in die Georgetown University begleiten, die »alte Jesuitenuniversität«, deren Umgebung vom »Negerslum« zum Viertel der »Diplomaten, Staatssekretäre, Stars des Journalismus« avanciert war (die mittlerweile auch weitergezogen sind). Schülerinnen und Schüler, so war ihm aufgefallen, standen »in nach Rassen getrennten Gruppen beisammen, doch ein blonder Junge interessierte sich lebhaft für eine dunkle Schönheit; ich verstand seine Begeisterung, ich fühlte mit ihm, und ich fragte Amerikaner, wie in diesem Fall die Aussichten der Liebe seien, der Liebe auf dem Schulweg, und die Amerikaner wußten es nicht zu sagen …« Diese Passage wäre heute nicht nur politisch inkorrekt, weil über racial relations (die noch so heißen dürfen) in dieser Weise nachgedacht wird (und Koeppen ungeniert das N-Wort benutzt). Aber auch die »Rassenbeziehungen« haben sich gewandelt. Als ich den GeorgetownCampus überquerte, riefen gemischte Gruppen die Kommilitonen auf, sich an einer Wiedergutmachungsaktion für die Nachfahren jener 272 Sklaven zu beteiligen, die 1838 verkauft worden waren, um die bankrotte Uni zu retten. Offenbar ist deren Genealogie noch nachvollziehbar, und so sollen Nachgeborene aller Hautfarben ihnen einen Obolus leisten. Das nicht bindende Referendum fand eine überwältigende Zustimmung. Reparationszahlungen für die Leiden und Langfristfolgen der Sklaverei sind ein häufiges, auch von den meisten demokratischen Präsidentschaftsbewerbern aufgegriffenes Thema – das die Nation immer noch spaltet.
Viel hat sich seit 1959 verändert, manches blieb. Die Mehrheit der Washingtonians ist immer noch schwarz, aber es ist eine potente schwarze Mittelschicht entstanden – und Barack Obama hat zwei Amtszeiten regiert. Dennoch ist die Neigung der Weißen, bestimmte Viertel zu besuchen, weiterhin begrenzt. Ich erinnere mich an meinen ersten Aufenthalt in D. C., als mich ein Polizeifahrzeug flankierte und die Cops mich besorgt fragten, ob ich hier wirklich weiter spazierengehen wolle. (Sie fuhren weiter, so daß mir gar nichts anderes übrigblieb, den Spaziergang habe ich unbeschadet überstanden.) Ein paar Jahre später wollten wir zur informellen Amtseinführung Bill Clintons, der sie aus Dankbarkeit für die Stimmen der Afroamerikaner an die berüchtigte Ecke von Georgia und Florida Street verlegt hatte – der indische Taxifahrer fuhr erst los, als wir ihm nachdrücklich versichern konnten, der Präsident höchstpersönlich werde dort sein. Mittlerweile hat die Gentrifizierung auch die Schwarzen Viertel östlich der 16th Street ergriffen. Die Gegend um Howard University wird von wohlhabenden Schwarzen bewohnt und hat das hippste Nachtleben, aber die ärmeren sind in andere Viertel abgedrängt worden. Weiterhin gibt es gute Gründe für die Proteste von »Black Lives Matter«, aber endlich findet man auf Washingtons Museumsmeile auch ein Museum für afroamerikanische Geschichte und Kultur.
Koeppen interessierte sich nicht sonderlich für amerikanische Innenpolitik. Er mokierte sich über die Washingtoner Wichtigtuer, ging aber fast ehrfürchtig ins Capitol, den Sitz des Kongresses, und wohnte einer Debatte zum Arbeitsrecht bei. Aus der Perspektive des Bonner »Treibhauses« war das die hohe Schule der Politik. Ins Capitol kann man, nach eher schlampiger Leibesvisitation, immer noch hinein, um Ausschußsitzungen zu lauschen, aber der Kongreß achtet nicht länger auf parlamentarische Regeln und menschlichen Anstand, sucht längst nicht mehr parteiübergreifend den Kompromiß. Die Südstaaten-Demokraten waren damals rechts von der »Grand Old Party« angesiedelt, seit Jahrzehnten hat sich das Koordinatensystem gedreht und die Republikaner haben die niedrigsten Instinkte der Politik freigesetzt. Wie Trump eine über Jahrzehnte gewachsene Gewaltenteilung demontiert und die Demokratie aufs Spiel setzt, ist wohl die größte Veränderung (und Enttäuschung) seit 1959.
Auf Koeppens Spuren wollte ich noch in die Library of Congress, doch ein privates Event sperrte die Wißbegierigen aus dem »Hohen Tempel des Alphabetentums« aus. Kein Betteln und Flehen verschaffte ihnen Zugang in die »ideale Bücherei«, wo mittlerweile elektronisch ausgeliehen wird und die Lesesäle vom Klappern der Laptops erfüllt sind. Auch das White House, das Koeppen mit »Schulen, Schulen, Schulen« besuchte, war weiträumig abgesperrt: Staatsbesuch des ägyptischen Militärdiktators Abdel Fattah El-Sisi, den Trump später ungebührlich rühmte, genau wie Bolsonaro, Duterte und andere Autokraten. Der Washington Post war dann zu entnehmen, daß der Präsident die Chefin der »Homeland Security«, die ohnehin schon schärfste Kontrollen der Grenzen und die Vertreibung von Illegalen vorantrieb, an die Luft setzte. Die Abschottung gegen Immigration, obgleich keine Neuigkeit in der US-Geschichte, hat sich seit den fünfziger Jahren gravierend verstärkt.
Die Grand Tour des 20. Jahrhunderts führte nach Amerika. Gilbert K. Chesterton hat einmal gewitzelt, von jedem, der über den großen Teich fahre, werde ein Buch erwartet. Und so war es auch in Deutschland – jedes Jahr erschien mindestens ein »großes Amerika-Buch«, das Bewunderung, Abneigung oder Grundaussage meist schon im Titel verriet. Koeppens Radioreportage hieß »Die Früchte Europas. Amerika westwärts – Amerika ostwärts«. Diese eurozentrische Sicht, wonach die Alte Welt von Amerika etwas zu lernen, sich vor ihm zu fürchten oder es zu übertrumpfen habe, haben kommentierte Editionen auch bei Koeppen diagnostiziert. Zu seiner Zeit ging die kulturelle Amerikanisierung erst richtig in die Breite. Immer noch wird »amerikanische Kultur«, neuerdings in Form von Serien, Streaming-Angeboten und Plattformen aus dem Silicon Valley, reichlich rezipiert, Anlässe für große Reiseberichte sehen aber eigentlich nur noch heimkehrende TV-Korrespondenten, die persönlich Bilanz ziehen wollen. Das transatlantische Politikgeschäft ist zur Selbstbeschäftigung verkommen, für Work & Travel nach dem Abi sind eher Australien oder Bali angesagt, das wechselseitige Desinteresse wächst rapide. Der Kontrast zwischen der weißen Suprematie im Süden und der gelebten Multikulturalität an der Westküste sollte, wie Koeppen damals meinte, aufgehoben werden im Kosmopolitismus der Vereinten Nationen, deren Gebäude am East River er vor dem Abflug seine Reverenz erwies. Das war, dreizehn Jahre nach Kriegsende, sicher auch als Aufforderung an die Deutschen zu verstehen. Und das ist sie heute für die ganze »westliche Welt«, die sich damals zur Lebensform entwickelte und gerade zum Auslaufmodell wird.
SINN UND FORM 1/2020, S. 123-127