Krauß, Angela
geb. 1950 in Chemnitz, Gedichte, Essays, Erzählungen und Romane, lebt in Leipzig. Zuletzt erschienen »Das Weltgebäude muß errichtet werden. Man will ja irgendwo wohnen« und »Von Verklärung und Aufklärung. 11. Kamenzer Rede in St. Annen« (beide 2024). (Stand 3/2025)
Siehe auch SINN UND FORM:
- 4/1986 | Disregulation
- 6/2011 | Das im Leben verborgene Gedicht
- 1/2025 | Unterstrom. Mein Verleger Siegfried Unseld
- 3/2025 | Das Werk sind nicht die Bücher. Ein Gespräch mit Jörg Magenau über Lebenskunst und poetische Existenz
Im Frühling 2005 war es, als mich Paul Michael Lützeler im Rahmen des Max-Kade-Programms an die Washington University nach St. Louis einlud, mit (...)
LeseprobeKrauß, Angela
Das im Leben verborgene Gedicht
Im Frühling 2005 war es, als mich Paul Michael Lützeler im Rahmen des Max-Kade-Programms an die Washington University nach St. Louis einlud, mit seinen Studenten zu arbeiten.
Im Jahr vorher hatte ich die Frankfurter Poetikvorlesungen gehalten, in St. Louis ging es um Seminare, also um Austausch, zudem auf der anderen Seite der Welt, das war etwas anderes. So wollte ich es auch machen: anders.
Ich stellte mir meine Seminare vor wie ein ins Leben eingespieltes Prosastück.
Es wurde ein Drama.
Es hatten sich acht Studenten eingeschrieben, vier Amerikaner, vier Deutsche. Im Jahr ihres Masterabschlusses, sie hatten eine literaturwissenschaftliche akademische Laufbahn im Blick. Zweifellos von ihrem Jahrgang die jeweils vier intelligentesten deutschen und amerikanischen jungen Menschen, begierig darauf zu forschen, zu lehren, Kritiken zu schreiben.
Es war Frühjahr, sie brauchten nur noch ein paar Prüfungen.
Zur Überraschung aller, auch zu meiner eigenen, war ich das erste lebende Exemplar der Gattung, deren Hervorbringungen sie mit ihrem frischen Wissen und einem bestrickend freimütigen Zugriff zu analysieren verstanden.
Beinahe wären sie damit in ihr Leben gestartet, ohne Verdacht zu schöpfen.
Aber nur beinahe.
Kurz vor dem Ziel war jemand aufgetaucht, der in so lebendiger Präsenz nicht im Bild vorgesehen war. Dessen bloße Anwesenheit die Versuchsanordnung änderte: eine lebende Schriftstellerin.
Ich warf, nachdem wir uns alle dieser Situation bewußt geworden waren, meine Seminarvorbereitungen über den Haufen.
Denn ich dachte bis jetzt, sie wüßten … (von unsereinem).
Vielleicht ist der Gedanke, die Wissenschaft weiß nicht, doch schwer denkbar.
Nein, meine Erfahrungen mit Kritikern sind nicht etwa frustrierend, nicht mal enttäuschend. Ich halte lediglich meine Erwartungen in Schach. Mein Verhältnis zu dieser Seite meines sogenannten Berufslebens ist eines der Suche. Nach Erkenntnis natürlich. Der Literaturwissenschaftler als solcher ist für mich eine noch immer unergründete Spezies. Zwar solide eingeordnet ins Literaturleben, ja, es nicht selten sogar ausmachend, dennoch – für mich hat er sein Wundersames nicht verloren.
Als etwas Unentdecktes müssen mich meine acht Hochintelligenten wohl ihrerseits angesehen haben. Und das ausgerechnet kurz vor den Prüfungen.
Bisher war eigentlich alles klar. Sie verfügten über Methoden der Analyse und setzten bei der Schriftstellerin Methoden der Konstruktion voraus.
So hatten sie es gelernt: Wie hat sie es gemacht?
Das war ihre Frage, das wollten sie von mir wissen.
St. Louis ist unbedingt eine Reise wert.
Aber eine einzige Fahrt auf dem menschenleeren Martin Luther King Boulevard, auf dem ein einzelner schwarzer Mann ziellos vor sich hinjagt, reicht aus, um sicher zu sein: Man fliegt nicht um die halbe Welt, um acht Hochbegabten zu erklären, der Dichter habe eine Methode, die der Literaturwissenschaftler entschlüsselt.
Falls eine solche Vereinbarung besteht, und es kann einem gelegentlich so vorkommen, so beruht sie von seiten der Wissenschaft auf Überzeugung aus reinem Herzen. Von seiten des Dichters auf einem Seufzer.
Hatte ich so weit reisen dürfen, um meine Chance zu bekommen?
Ich ergriff sie spontan – um diese Vereinbarung einmal und für immer (kurz bevor es zu spät ist) in Frage zu stellen. Ich verwarf also meine Seminarvorbereitungen und nutzte das große Appartement, um mir auf dem weißen, fünf Zentimeter tiefen amerikanischen Flauschteppich neue Dramaturgien auszudenken. Die Fensterwand schenkte einen unvergeßlichen Blick auf den Park, der einst auf dem Areal der Weltausstellung 1904 entstanden ist, jener Weltausstellung, die nach einem Jahr triumphal endete mit der Präsentation der neuesten Erfindung: dem gleichzeitigen Erglühen von viertausend Glühbirnen.
Erleuchtung! So sollte es sein.
Ich setze auf Anverwandlung als Erkenntnisweg. Als Poetin halte ich ihn für den verläßlichsten. Meine lieben, mir anvertrauten zukünftigen Literaturforscher sollten auf die andere Seite kommen. Auf unbekanntes Gebiet. Ich mußte sie also auf meine Seite locken. Wie könnte das gelingen?
Mir schien, durch eine Erinnerung an etwas so Vertrautes wie Unverdächtiges: an das Aufsatzschreiben. Ich beschloß, ihnen den Einstieg mit dem ersten Satz zu erleichtern, indem ich ihn vorgab.
Erster Satz: Am Tag, als die Mauer fiel, war ich … Jahre … Tage alt.
(Ich verschwieg, was ich ihnen mit dem vorgegebenen ersten Satz ersparte bzw. schenkte. Von all dem wußten sie nichts, gar nichts wußten sie.)
Kommentar, prompt und durchaus scharf, meiner Primus-Kandidatin: Ich bin Wissenschaftlerin, ich sage nicht ich.
Ich atmete durch.
Ich erinnerte sie, wohl um die jähe Polarisierung abzuschwächen, an den Vortrag einer Linguistin über die Wirkung von Fachsprache in der Öffentlichkeit. Der entschiedene Impuls des geschädigten Subjekts »Ich zeige Sie an« – erscheint in der Fachsprache als »Sie werden zur Anzeige gebracht«. Was geschieht hier? Das Subjekt hat die Verantwortung abgegeben an eine Instanz, die dem Gebot der Objektivität folgt. Das Subjekt wird unsichtbar. Es ist verschwunden.
Genau, bemerkte meine Prima ungerührt.
Wie war das, dachte ich: Wozu reist man um die halbe Welt? Offenbar um es auf der anderen Seite zu erfahren, wozu. Ich schwieg. Sollte ich jetzt etwas erklären, sollte ich jetzt so tun, als wüßte ich etwas, das sich erklären läßt? Nur weil ich zehn Stunden geflogen war, eingeflogen wurde auf Kosten einer der angesehensten amerikanischen Privatuniversitäten, und jetzt vorne stand und weiterwissen mußte?
Dichtung sagt: Ich. Hier bin ich.
Dichtung sagt: Ich meine dich!
Ich dachte, ich sollte meine acht Blitzgescheiten dazu bringen, sich selbst in diesen Zustand zu begeben. Damit sie, und sei es nur einmal, erfahren, aus welcher Haltung heraus Literatur entsteht.
Die Gruppendynamik war, wie sich zeigte, bestens dazu geeignet. Es reichte ein Gegenüber von sieben Kommilitonen, mit denen jeder um souveräne Objektivität konkurrierte, um den Rückfall ins Gegenteil als Zumutung, ja als Desaster zu empfinden.
Meinen ersten Satz las ich eine Woche später achtmal in etwa folgender Vervollständigung: Am Tag, als die Mauer fiel, war ich sieben Jahre und einundsechzig Tage alt. Am Tag, als die Mauer fiel, war ich acht Jahre und zweihundertdreiunddreißig Tage alt. Am Tag, als die Mauer fiel, war ich fast sieben Jahre alt, zwei Tage fehlten noch.
(Ich ließ mir meine Erschütterung nicht anmerken. Ich hatte gehofft, sie wären wenigstens in der Pubertät gewesen, als die Mauer fiel. Schließlich waren sie jetzt erwachsen. So wie ich. Irgendwie. Offenbar hatten sie mich nicht weniger verwirrt als ich sie.)
Betrachtet euch nicht im Alter von sieben Jahren, seid es! rief ich.
Seid sieben Jahre!
Planen Sie ein öffentliches Vorlesen der Arbeiten?
Damit sei zu rechnen, gab ich bekannt.
Schweigen.
Ich werde meinen Master mit eins machen.
Es war nur geflüstert.
Schweigen.
Was wollen Sie von uns?
Und was wollen Sie von mir? konterte ich.
Wir wollen wissen, wie Sie es machen. Müssen wir dafür gequält werden?
Ja! rief ich. Aber nur einmal.
Truman Capote war, während er an seinem letzten Roman schrieb, sechsmal in der Nervenklinik. Rilke wurde von manisch depressiven Schüben heimgesucht, erst nach den Duineser Elegien wagte er zu sagen: Ich bin.
Virginia Woolfs Tagebuch ist voll von Fragen wie: Wohin gehen denn die Leute immer nur so zielstrebig?
Meine lieben, klugen, bewunderten acht, die ihr der schönen Literatur so anhängt, daß ihr in ihrer Nähe leben und von ihr erzählen wollt, erfühlt nur einmal, woher sie kommt, wie sie entsteht und – großer Gott – warum.
WOHER?
[...]
SINN UND FORM 6/2011, S. 743-757
Frühjahr 1989. Es war in Leipzig etwas im Gange, an der Oberfläche Ruhe, aber ein Unterstrom war fühlbar. Für die Innewohnenden. Wie eine Woge, (...)
LeseprobeKrauß, Angela
Unterstrom.
Mein Verleger Siegfried Unseld
Frühjahr 1989. Es war in Leipzig etwas im Gange, an der Oberfläche Ruhe, aber ein Unterstrom war fühlbar. Für die Innewohnenden. Wie eine Woge, von Meeresboden her aufgebaut. Diese Wahrnehmung kann ich seit einem Jahr besonders klar abrufen; ich kenne, was jetzt gerade geschieht.
Niemand von den Innewohnenden hatte schon verstanden, was sich anbahnte, aber wir waren hellwach und jeder persönlich verwickelt in das Ganze, die Postfrau, der Bäcker, ich.
Es war, als stünde ich – wie oft als Kind – in der Dunkelkammer meines Vaters und wartete gespannt, was sich auf den Fotopapieren im Entwicklerbad zeigen würde.
Ich war ja erst seit 1988 im Suhrkamp Verlag. 88 – numerologisch die gesteigerte Unendlichkeit. Aber handgreiflich war das schwierig, die Anträge auf Erlaubnis, die Pässe für 24 Stunden, die Grenzübergänge – das haben wir längst vergessen.
Während hier alles wankte, die Gegenwart, die eigene Vergangenheit und die des Nachbarn, mit ihren kleinen, großen, tapferen Errungenschaften, alles einer plötzlichen Fragwürdigkeit ausgeliefert schien, war auf der anderen Seite alles stabil, selbstgewiß, unerschütterlich, wissend, großzügig.
Jeder in Ost und West konnte sich nun entscheiden, was er für den Westen und den Osten halten wollte. Die Auswahl war groß, von der politischen Bühne angefangen bis zur Urlaubsbekanntschaft mit Neckermannreisen. Jeder begegnete jetzt seiner Zukunft, so er danach suchte.
Und so kam es, daß ich es leicht hatte. Alles, was ich mir im schönsten Fall unter dem Westen vorstellen wollte – denn das Wollen entscheiden wir selbst –, kam mir entgegen.
Jener Mensch, den ich meinen Verleger hätte nennen können, aber dazu war ich zu schüchtern, Siegfried Unseld, verkörperte das. Das Stabile, Selbstgewisse, Wissende, Großzügige, Freundliche.
Eine Leitfigur des Westens geschenkt zu bekommen – ich erkannte darin erst später eine wundersame Fügung. Der Westen präsentierte sich mir als das Ideal – denn der Westen war nun die Weltliteratur und nicht die Treuhand.
Der Westen war damit das Bewahrenswerte, Gewichtige, Gediegene, Feine. Er war das Ambivalente, Abgründige und Euphorische der Literatur.
Da hatte der Westen Glück! Er sollte Siegfried Unseld dankbar sein.
Ich war nun entschlossen, aus dieser Perspektive auf all das zu sehen, was uns Anfang der Neunziger bevorstand an Abbau, Umbau, Aufbau.
Das verdanke ich ihm.
Dabei kannte ich ihn noch gar nicht näher, kurze Begegnungen, wenn es mit Antrag, Erlaubnis, Paß, Grenzübergang geklappt hatte. Dann kam im Frühjahr ’89 etwas Unverhofftes.
Der Suhrkamp Verlag plante, erfuhr ich von Burgel Zeeh, einen Betriebsausflug.
Es gibt wenige Worte, die die vier Jahrzehnte Teilung überlebt haben, obwohl sie systemverhaftet schienen. Wenn ich damals nach den Resten von Einer Nation in zwei Staaten gesucht hätte – wir alle haben das getan –, so wäre mir nichts vertrauenerweckender erschienen als das Wort Betriebsausflug. Als wäre ein Wort vergessen worden von der ideologischen Schere. Ganz harmlos schien es in den unteren Etagen überdauert zu haben, dort, wo zusammen gearbeitet, zusammen gefeiert und einer draufgemacht wird. Dort unten war das Wort unbeachtet, also unbeschadet in Deckung gegangen für vierzig Jahre. Es war noch nicht alles verloren!
Der Suhrkamp Verlag plante einen Betriebsausflug, erfuhr ich von Burgel Zeeh. Und zwar rüber in den Osten. Und nicht nur das. Sondern nach Leipzig.
Also wo doch grade diese Woge im Kommen war, unterirdisch noch.
Mittendrin stand dieses Hotel, das höchste in der Stadt, wo internationale Messebesucher abstiegen, dafür war es gebaut. Dort gab es Herberge für den Suhrkamp Verlag. Ich lebte schon lange in Leipzig und betrat zum ersten Mal dieses Hotel. Es wurde ein schönes Fest, es gibt schöne Bilder davon, ich empfing Siegfried Unseld und den Suhrkamp Verlag also – so plötzlich wie alles, was damals geschah – in meiner Stadt, ich möchte sagen: eh ich mich’s versah. Und Burgel Zeeh hat’s gesehen, das ist dokumentiert: Der Verleger küßte mir die Hand.
Dann gab es das 27. Stockwerk, die Bar unter dem Nachthimmel – wer wußte in Leipzig schon davon –, ich sah meine Stadt zum ersten Mal aus dieser Perspektive. Nachts, glitzernd unter Sternen.
Und dort oben, einige an der Bar waren schon betrunken, dort konnte ich sagen: Schaut, das ist meine Stadt. Ihr seid eingeladen, sie zu erleben. Das haben sie auch gemacht bis zum Morgengrauen, als ich einige durch mein Viertel führte.
Der Verleger war nicht dabei, aber von ihm hatte ich ja schon den Handkuß entgegengenommen, als Gastgeberin.
Siegfried Unseld hat seinen Verlag zum sensibelsten Zeitpunkt dieses historischen Geschehens, nämlich als es noch im Heraufkommen war, nur geahnt werden konnte, dorthin geführt, wo es einige Wochen später kulminieren und die Welt verändern sollte, nach Leipzig. Mir ist kein einziger Betriebsausflug eines westlichen Unternehmens zu diesem Zeitpunkt, also über die Mauer hinwegspringend, bekannt.
Das ist mit Berechnung nicht möglich.
Dazu gehört jener Sinn, Spürsinn, Wachsinn für lebendige Entwicklungen, für die Zukunft, mit dem er beschenkt war und uns beschenkt hat.
In seiner »Chronik« notierte Siegfried Unseld später, am 5. November 1989:
»Ich stelle mir vor, daß sich die Bezirke der DDR in die alten Länder umwandeln und diese sollen sich uns wirtschaftlich anschließen, politisch administrativ aber selbständig bleiben.
Und in zehn Jahren entscheiden die Deutschen in beiden Ländern, ob sie einen einheitlichen
Staat wollen oder nicht.«
Das vermochte nur jemand zu denken, zu sagen, der in der Weltliteratur zu Hause ist.
Der die Kühnheit besaß, den pragmatischen, berechnenden Kräften einerseits und den erschöpften, verwirrten Kräften andererseits in diesem fragilen Moment der Geschichte das Äußerste vorzuschlagen: das Ideal.
Er hat uns tatsächlich Geduld, Besonnenheit, er hat uns Weisheit zugetraut.
SINN UND FORM 1/2025, S. 140-141
JÖRG MAGENAU: Dein Werk umfaßt fünfzehn Titel, geschrieben in zweiundvierzig Jahren. Es ist überschaubar, auch deshalb, weil es sich um schmale (...)
LeseprobeKrauß, Angela
Das Werk sind nicht die Bücher.
Ein Gespräch mit Jörg Magenau über Lebenskunst und poetische Existenz
JÖRG MAGENAU: Dein Werk umfaßt fünfzehn Titel, geschrieben in zweiundvierzig Jahren. Es ist überschaubar, auch deshalb, weil es sich um schmale Bände handelt. Die Texte brauchen nicht viel Raum, weil sie so dicht sind. Sie öffnen sich beim Lesen nach innen, weiten sich aus in der Zeit, denn davon handeln sie auch: von Raum und Zeit, vom All und der Unendlichkeit. Doch zugleich verharren sie im ganz Konkreten, Dinghaften, Alltäglichen, wo das Leben sich abspielt. Zumeist läßt du ein Ich, eine Ich-Erzählerin sprechen. Nur im Debüt »Das Vergnügen« und in einigen Erzählungen ist das anders. Was ist das für ein Ich, das du in deinen Texten einsetzt? Eine literarische Figur? Ein Alter ego? Eine Erzählinstanz?
ANGELA KRAUSS: Am Anfang meines Erwachsenenlebens wollte ich bildende Künstlerin werden. Ein erstes Studium ging in Richtung Gebrauchsgrafik und Schrift, bevor ich mich für die Literatur entschied. Warum, könnte ich gar nicht erklären. Anfang zwanzig kamen in mir Fragen auf, die ich schon in der Pubertät gefühlt hatte: Was ist das hier? Wo bin ich? Mit diesen Fragen nähere ich mich offenbar seit jeher der Welt. Das zieht mich in jeder Weise ins Leben hinein. Damals nun hatte ich das prägende Ereignis meiner Jugend zu verarbeiten, den Freitod meines Vaters. Literarisch? Der Anspruch war zu hoch. Ich spürte das. Was in mir war, hatte keine Worte. Jetzt stellte sich die Frage so: Wer will da eigentlich schreiben? Wer ist das? Ich? Welches Ich? Diese Frage ist so fundamental – die Antwort kann eigentlich nur gefühlt werden, kaum formuliert. Wer kann sagen, welchen Raum dieses Ich in uns einnimmt? Zweifellos reicht es weit über das Autobiographische hinaus. Um dieses autobiographische Ich – das wußte ich instinktiv – ging es mir nicht. Das war nicht das, was ich an Erkenntnis suchte im Zusammenhang mit dem Tod meines Vaters. Und so habe ich bewußt Umwege eingeschlagen, habe im ersten Buch »Das Vergnügen« etwas ganz anderes erzählt und in der dritten Person. Erst achtzehn Jahre später war ich in der Lage, in der Art und Weise Ich zu sagen, in der ich die Geschichte meines Vaters schreiben konnte. Als Künstler soll man erklären, warum man etwas so und nicht anders macht. Aber es ist nicht zu erklären. Dem sogenannten Schaffensprozeß liegt keine Erklärungsnot zugrunde, sondern das freie Erleben, das umgesetzt wird in eine Form, in eine Gestalt. Das Konzept, so es das gegeben hat, löst sich im geglückten Kunstwerk auf. Es ist nicht mehr auffindbar. Erst mit »Der Dienst«, der Geschichte meines Vaters, war ich so weit, Ich zu sagen, weil ich mir dieses Ichs nun sicher war.
MAGENAU: Was ist das für ein Ich?
KRAUSS: Ein überpersönliches, das dem Leser gestattet, hineinzuschlüpfen, eines, das mich mit allen Lesern verbindet. Es hat mich fortan vor diesem Autobiographie-Ich bewahrt, auch wenn autobiographischer Stoff in meinen Büchern zu finden ist. Dabei ist die Grenze zur Fiktion für mich selbst nicht auszumachen, sie löst sich bereits vor dem Schreiben auf. Und das zunehmend. Es ist eine Frage der Intensität. Die Erlebnisstärke beim Schreiben übertrifft die ursprüngliche mühelos. Übrigens eine phantastische Erfahrung, im wahrsten Wortsinn.
MAGENAU: Also es ist ein Sich-weg-Schreiben vom Autobiographischen, das aber der Ausgangspunkt bleibt? Das Material sind Fragmente des gelebten Lebens, das zur Sprache kommt. Das läßt das Autorinnen-Ich erkennen. Und gleichzeitig ist es ein Ich, das etwas ganz anderes darstellt.
KRAUSS: Es ist offen für alle. Auf einer tiefen Ebene bin ich es, in meiner überzeitlichen Essenz sozusagen. Das geht weit über das Autobiographische hinaus.
MAGENAU: Die Hoffnung, daß andere sich in das eigene Ich hineinlesen und hineinfinden, können autofiktionale Autoren doch aber genauso haben, also Karl Ove Knausgård zum Beispiel oder Annie Ernaux, die ganz direkt am eigenen Leben entlangschreiben. Warum bist du da skeptisch?
KRAUSS: Ich wäre gefangen in meiner eigenen Biographie. Nach der suche ich aber nicht, ich suche nach Erweiterung, Entgrenzung, deshalb schreibe ich. Mein persönliches Leben ist dabei eine Inspiration. Eine Inspiration, über es hinauszugehen.
MAGENAU: In »Eine Wiege« habe ich die schöne Formulierung gefunden: »Die einzige ersehnte Konsequenz des Dichtens: daß meine Person in ihrer poetischen Gestalt restlos auf- also untergeht.«
KRAUSS: Das würde ich mein Credo nennen.
MAGENAU: In »Eine Wiege« arbeitest du mit Fotos aus der Kindheit, Fotos, die dein Vater gemacht hat. Da würde man doch sofort sagen, das ist eine Form von Autobiographie, von Kindheitsbuch. Es ist zugleich lyrisch, poetisch und doch Prosa.
KRAUSS: Wie gesagt, ich habe keinerlei Interesse an Autobiographie. Deshalb war der von dir zitierte Vorsatz nötig, damit das von meiner Seite ausgeschlossen wird. Wir wissen, wie verlockend es ist zu glauben, etwas sei autobiographisch, worunter gern die sogenannte Wirklichkeit verstanden wird. Keiner kann sich dem ganz entziehen, ich selbst auch nicht. Der Mensch ist neugierig auf den anderen. Wer dazu noch private Fotos aus der Kindheit bietet, lädt ja geradezu zu dieser Lesart ein. Aber gerade das hat mich ungeheuer gereizt. Die erste Prüfung war »Der Dienst«, weil er auf autobiographischen Tatsachen beruht. »Eine Wiege« bedeutete angesichts der Fotografien: Erhöhung der Prüfungsbedingungen. Aber man ist mir auch hier nie zu nahe getreten mit der Bemerkung: Oh, das bist ja du! Meine Person ist also in ihrer poetischen Gestalt auf- und untergegangen.
MAGENAU: Wann hast du zum ersten Mal auf deine Bücher geschaut und gesagt, das sind nicht nur einzelne Titel, sondern ein Werk? Hast du das Gefühl, da ist etwas Ganzes, das zusammengehört? Gibt es so etwas wie ein Werk-Gefühl?
KRAUSS: Das bildet sich allmählich heraus. Auf meiner Website gibt es eine Rubrik »Werk«, aber das ist eher so gemeint, daß ich da am Werk bin. Damit ist kein qualitativer Werkbegriff gemeint. In Werk steckt ja das Werken mit drin. Zusammenhänge ergeben sich auch dadurch, daß ich mich immer wieder mal spielerisch selbst zitiere. Mozart hat das auch so gemacht. Beim letzten Buch »Das Weltgebäude muß errichtet werden. Man will ja irgendwo wohnen« geht das bis in den Titel. Der Satz stammt aus »Im schönsten Fall«. Das war 2011. Das Weltgebäude zu errichten hat heute eine ganz andere Dringlichkeit bekommen, deshalb habe ich den Satz als Titel gewählt. Ich mache das also nicht nur, um die einzelnen Bücher miteinander zu verbinden. Es ist wie ein Knüpfen am ganzen Netz, dem der Literatur und des Lebens. Dabei merke ich ganz nebenbei, daß ich tatsächlich an einem Werk schreibe.
MAGENAU: Gibt es so etwas wie eine Entwicklung? Schreibst du dich zu etwas hin, dem du von Buch zu Buch näherkommst?
KRAUSS: Das geschieht von selbst, es ist ein Wachsen im Leben. Ich komme im Leben einem Etwas näher. Was ist das? Vollkommenheit, Erkenntnis im Rahmen dessen, was Beschränktheit und Unvorhersehbarkeit des Lebens erlauben. Ich reflektiere, komponiere das schreibend, in Formen, Szenen.
MAGENAU: In deiner Poetikvorlesung »Die Gesamtliebe und die Einzelliebe« erzählst du einen Traum, in dem du das Werk siehst. Das ist ein Block aus Sandstein, kantig behauen. Als Gegenstand läßt es sich aber nicht festhalten. Die Träumerin weiß, wenn sie jetzt zum Stift greifen würde, um das alles aufzuschreiben, wäre es verloren. Also läßt sie es und gleitet zurück in den Traum.
KRAUSS: Ich habe damals den »Dienst« gesehen. Eine Zeitlang hatte ich eine ganze Traumserie. Immer wenn ich zu einem neuen Buch ansetzte, habe ich es im Traum gesehen. Einmal als barocken Schuh mit einer Schleife darauf, einmal diesen Sandsteinblock, und jedesmal wußte ich, ich sehe jetzt mein Werk. Ich habe das Symbol seltsamerweise immer sofort verstanden, es wies auf Gestalt und Rhythmus des Textes hin. Einmal war es eine Torte, eine feinziselierte Schokoladentorte.
MAGENAU: An einer anderen Stelle in der Poetikvorlesung setzt du das Werk mit dem Sein gleich. Da sprichst du von Eigensinn, von der Zauberkraft des Bewußtseins, von Sehnsucht, Erwartung, Phantasie, Liebe. Das sind die Kräfte, die das Sein hervorbringen. Und dann schreibst du: »Das war mein Werk, mein Kunstwerk.« Da geht es nicht mehr um ein einzelnes Buch, sondern tatsächlich um ein in Jahrzehnten geschaffenes Werk: das Sein.
KRAUSS: Das Werk sind nicht die Bücher. Es ist die Lebenskunst. Sie besteht in erster Linie darin, daß man sich seiner bewußt wird. Nur dann kann man aus dem Leben mit all seinen Banalitäten ein Kunststück schaffen. Es muß nicht unbedingt Literatur daraus werden. Es kann auch etwas anderes entstehen. Ein Spiel etwa, eine bewußt gewordene Lebensweise, ein Lebensentwurf, der eine Versuchsanordnung bleibt, alles mögliche. Mir wurde offenbar in die Wiege gelegt, nach einer poetischen Existenz zu streben, das Leben als Kunstwerk auffassen zu wollen. Daß dabei Bücher entstehen, ist ein schöner Nebeneffekt.
[...]
SINN UND FORM 3/2025, S. 357-367, hier S. 357-360