Karlauf, Thomas
geb. 1955 in Frankfurt am Main, Inhaber einer Agentur für Autoren in Berlin. Veröffentlichungen u. a.: »Stefan George. Die Entdeckung des Charisma« (2009) und »Helmut Schmidt. Die späten Jahre« (2016). Die Biographie »Stauffenberg. Biographie eines Attentäters« erscheint im Frühjahr 2019 im Blessing Verlag. (Stand 4/2018)
Siehe auch SINN UND FORM:
- 1/2007 | George und Hofmannsthal
- 2/2009 | Meine Jahre im Elfenbeinturm
- 4/2009 | »Nie mehr zurück in dieses Land.« Ein Pappkarton aus Harvard
- 1/2010 | Stauffenberg. Eine Motivsuche
- 4/2010 | Bericht von einer Auktion. Die Bibliothek des Castrum Peregrini
- 2/2011 | Meister mit eigenem Kreis. Wolfgang Frommels George-Nachfolge
- 4/2018 | Warum Stauffenberg? Die Motive des Attentäters und das Problem der Quellen
I Die Fahrkarte habe ich aufgehoben. Das kleine ockerfarbene Pappstück, 3 x 5,5 cm, liegt in meiner Devotionalienschachtel: einfache Fahrt 2. (...)
LeseprobeKarlauf, Thomas
Meine Jahre im Elfenbeinturm
I
Die Fahrkarte habe ich aufgehoben. Das kleine ockerfarbene Pappstück, 3 x 5,5 cm, liegt in meiner Devotionalienschachtel: einfache Fahrt 2. Klasse von Frankfurt (Main) Hbf nach Amsterdam, ausgestellt auf den 7. August 1974, Preis DM 56,60. Der Zug trug den herrlichen Fernwehnamen »Wien-Holland- Expreß«. In Wiesbaden wurde die Lok ans andere Ende gespannt, dann ging es gemütlich den Rhein entlang. Zwei Monate vorher hatte ich Abitur gemacht. Weil ich in Griechisch ohnehin verloren war, hatte ich mich mit zwei Klassenkameraden zusammengetan, um es wenigstens in Mathematik noch auf die rettende Vier zu schaffen. Nachmittags trafen wir uns, um sogenannte Kurven zu diskutieren. Wer sich als erster erbarmte, ging zum Plattenspieler und legte die einzige Platte auf, die wir in diesen Wochen hören mochten: Dylans »Highway 61 Revisited«. Spätestens beim fünften Lied der A-Seite war es mit dem Lernen vorbei. »Because something is happening here, but you don't know what it is«, krächzte Dylan, und grölend stimmten wir jedes Mal ein in den Refrain: »Do you, Mister Jones?« Dann holten wir uns was zum Durchziehen, und während die Scheibe zum dritten oder vierten Mal abgenudelt wurde, verflüchtigten sich unsere Kurven in süße Rauchringe.
Der von Dylan verspottete Mister Jones - so viel stand fest - war ein Idiot, ein intellektueller Streber, einer, der kluge Bücher las und glaubte, überall mitreden zu können. Bis er eines Tages in eine merkwürdige Gesellschaft geriet, in der ihm die abstrusesten Dinge widerfuhren und er jede Orientierung verlor: »Give me some milk or else go home.« - »Ballad of a Thin Man« zählt zu den großartigsten Dylan-Songs überhaupt und ist ziemlich deftig; geschildert wird eine Art früher Swingerparty in der Schwulen- und Transvestitenszene von Greenwich Village. Die sexuellen Anspielungen des Textes blieben mir zwar verborgen. Aber selbst wenn ich die Obszönitäten verstanden hätte - »Here is your throat back, thanks for the loan« -, wäre ich mit Mister Jones kaum nachsichtiger gewesen; er war und blieb ein Spießer.
Was ein Spießer ist, weiß ein heller Junge in diesem Alter sehr genau. Spießer waren zum Beispiel die Klassenkameraden, die nach dem Abitur eines dieser öden Studienfächer belegten, die schon ihren Vätern zur Karriere verholfen hatten. Auf die Idee, bei einer Literaturzeitschrift in Amsterdam, die keiner kannte, eine Lehre zu absolvieren, wären sie nicht einmal gekommen, wenn man ihnen die Lehre bezahlt hätte. Spießig war die Deutschlehrerin, die ich davon hatte überzeugen wollen, daß Stefan George nun wirklich bedeutender war als Rilke. Als sie mir am letzten Schultag die Hefte des »Castrum Peregrini« zurückgab, die ich ihr zur Nachhilfe ausgeliehen hatte, lag eine Ansichtskarte bei: »Gott segne Sie und Ihren Idealismus!« Pikanterweise zeigte die umseitige Abbildung einen nackten griechischen Jüngling. Dabei war die Deutschlehrerin gar nicht so übel, und ich hatte ihr zum Lohn die schönsten Hölderlin-Aufsätze geschrieben, die sie wohl je zu lesen bekam.
Am spießigsten war natürlich meine Mutter. Sie platzte vor Neugier, traute sich aber nicht, den einzig relevanten, für sie als Mutter aber unaussprechlich heiklen Punkt, was sich denn da nun zwischen den Männern in diesem Amsterdamer Kreis abspiele, mir gegenüber zur Sprache zu bringen. Nur in Gegenwart meines Vaters wagte sie sich bisweilen ein Stück vor; dann sprach sie etwa so, wie der Biologielehrer im Aufklärungsunterricht von den Bienen gesprochen hatte, bis mein Vater, dem das Ganze wohl ziemlich klar, aber sichtlich unangenehm war, ihr den Mund verbot. Heute glaube ich, daß der Grund ihres in Andeutungen sich erschöpfenden Schweigens nicht mangelnde Aufrichtigkeit oder fehlender Mut war, sondern die Sorge, mich, ihren einzigen Sohn, zu verlieren. Am Ende war sie aber vor allem stolz, daß dank der gewaltigen Dimension des Großen Geistigen, das sich ihrem Sohn durch Aufnahme in den George-Kreis eröffnete, sogar für ihre eigene Bildungsgeschichte noch etwas abfiel.
"How does it feel to be such a freak«, sang Dylan unterdessen zum hundertsten Mal, »and you say ›impossible‹, as he hands you a bone.« Ich hielt den »Knochen« für eine Dylansche Metapher und rätselte stets aufs neue, um welchen besonderen Knochen es sich wohl handelte.
Im Oktober 1970 war ich auf der Frankfurter Buchmesse von Wolfgang Frommel, dem Gründer und nimmermüden Spiritus rector der George-Zeitschrift »Castrum Peregrini«, angesprochen worden. Ich war fünfzehn und besserte mein Taschengeld auf, indem ich am Nachmittag den »Rheinischen Merkur« verkaufte. Aufmacher der Messe-Woche war ein Artikel über Richard Nixon; an das dazugehörige Porträtfoto erinnere ich mich gut, weil es mir hämische Bemerkungen der in Scharen vorbeiziehenden Achtundsechziger in ihren für den Bücherklau präparierten viel zu großen Parkas eintrug. Einmal blieb ein älterer Herr mit langem weißem Haar stehen. »Was für eine interessante Zeitung Sie da haben«, meinte er. Was ich denn so machte, wenn ich keine Zeitungen verkaufte. »Ach, Sie gehen auf das Gymnasium, wie interessant.« Alle Antworten, die ich dem Herrn auf seine neugierigen Fragen gab, quittierte er so - »ach, wie interessant«. Daß es ein humanistisches Gymnasium war, daß ich gern malte, daß ich katholisch war - alles fand er furchtbar interessant.
Am nächsten Tag kam er wieder, um eine Zeitung kaufen. Als ich ihn darauf hinwies, daß es sich beim »Rheinischen Merkur« um ein Wochenblatt handele, meinte er etwas verlegen, er habe gar keine Zeit gehabt, die Zeitung zu lesen, er kaufe mir aber gern ein zweites Exemplar ab. Ein weiterer Herr, der deutlich jünger war, vielleicht Anfang vierzig, und den ich beim ersten Mal nicht bemerkt hatte, stand diesmal etwas näher. »Das ist der Verleger unserer Zeitschrift«, sagte der Weißhaarige, »kommen Sie doch einmal an unserem Messestand vorbei.« Später legte der Jüngere stets großen Wert darauf, daß er es war, der mich als erster gesehen oder - wie es in der Sprache der Georgeaner hieß - mich »entdeckt« hatte. So werden Stammbäume des Geistigen begründet.
Ich besuchte die Herren in ihrer Koje, und eh ich mich versah, hatte ich für die zwei Wochen später beginnenden Herbstferien eine Einladung nach Amsterdam. Die Stadt galt als Hippiezentrum und war besonders bei der Afghanistan-Fraktion angesagt; einen bestickten Hirtenmantel besaß ich schon, und die Chance, da mal vorbeizuschauen, wollte ich mir nicht entgehen lassen. Meine Mutter hatte schlaflose Nächte. Nachdem ein halbes Dutzend Professoren und sonstiger Honoratioren ihr telefonisch versichert hatte, es könne im Leben eines Fünfzehnjährigen gar nichts Großartigeres geben, als von Wolfgang Frommel eingeladen zu werden, schämte sie sich wohl ein wenig, überhaupt auf abwegige Gedanken gekommen zu sein, und gab ihre Zustimmung unter der Bedingung, daß ein Freund mitfuhr.
[...]
Sinn und Form 2/2009, S. 262-264
Am 7. August 1939, dreieinhalb Wochen vor dem deutschen Überfall auf Polen, erschien in der »NewYork Times« unter der Überschrift »Prize for (...)
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»NIE MEHR ZURÜCK IN DIESES LAND«
Ein Pappkarton aus Harvard
Am 7. August 1939, dreieinhalb Wochen vor dem deutschen Überfall auf Polen, erschien in der »NewYork Times« unter der Überschrift »Prize for Nazi Stories« ein ungewöhnlicher Aufruf. Wissenschaftler der Universität Harvard seien auf der Suche nach Augenzeugenberichten über das Leben in Deutschland vor und nach 1933 und hätten zu diesem Zweck einen Wettbewerb ausgeschrieben. Das Preisgeld betrage insgesamt tausend Dollar, zur Teilnahme berechtigt sei jeder, der aufgrund eigener Erfahrungen berichten könne, wie sich der Alltag seit dem Machtantritt Hitlers verändert habe. Die Texte könnten auch anonym oder unter Pseudonym eingereicht werden und würden streng vertraulich behandelt – »but they must be authentic«.
»Mein Leben in Deutschland vor und nach dem 30. Januar 1933« – so lautete der Titel des Preisausschreibens, und der ausführliche, auf deutsch verfaßte Aufruf, der in den folgenden Tagen und Wochen über jüdische Informationsbüros und Hilfswerke weltweit verbreitet wurde, umriß das Projekt sehr genau. Die Lebensbeschreibungen sollten etwa achtzig Maschinenseiten umfassen und »möglichst einfach, unmittelbar, vollständig und anschaulich gehalten sein«. Geschildert werden sollten nur »wirkliche Vorkommnisse«, und deshalb könne jeder, der »ein gutes Gedächtnis, scharfe Beobachtungsgabe und Menschenkenntnis« besitze, sich beteiligen, auch wenn er zuvor nie etwas geschrieben habe. »Zitate aus Briefen, Notizbüchern und sonstigen persönlichen Schriftstücken geben Ihrer Schilderung die erwünschte Glaubwürdigkeit und Vollständigkeit.« Auch wer keinen Preis bekomme, dürfe sicher sein, daß seine »Arbeit für das Studium des neuen Deutschlands und des Nationalsozialismus sehr wertvoll sein« könne. Einsendeschluß war der 1. April 1940.
Mehr als 250 Manuskripte aus aller Welt gingen in Cambridge ein. 155 Texte kamen aus den USA, davon allein 96 aus New York; 31 Autoren gaben als Absender eine Adresse in Großbritannien an, zwanzig schickten ihren Beitrag aus Palästina. Aus Shanghai, wo sich dank einer Lücke in den internationalen Visa-Bestimmungen eine jüdische Enklave gebildet hatte, wurden sechs Manuskripte beigesteuert. Zwar folgten nicht nur emigrierte Juden dem Aufruf. Ein schlesischer Konditor etwa, der als Koch bei der Handelsmarine angeheuert hatte und jetzt als »feindlicher Ausländer« in einem britischen Lager festsaß, schwärmte ebenso vom neuen Deutschland wie das Au-pair-Mädchen aus Berlin, das in Amerika vom Kriegsausbruch überrascht worden war – aber diese Texte bildeten die Ausnahme. Die große Mehrzahl der Berichterstatter waren Juden, die Deutschland und Österreich nach den Pogromen vom November 1938 verlassen hatten.
Die meisten von ihnen waren in Großstädten zu Hause gewesen; allein 61 Berichte stammten aus Berlin, 39 aus Wien. Überproportional vertreten waren die freien Berufe, Rechtsanwälte und Ärzte, Hochschullehrer und Angehörige der schreibenden Zunft; neben den Repräsentanten des wohlhabenden Bürgertums meldeten sich aber auch kleine Handelsvertreter und Leute zu Wort, die sich mit Gelegenheitsarbeiten durchgeschlagen hatten. Rund ein Viertel der Texte stammte von Frauen.
So unterschiedlich das soziale Milieu, so unterschiedlich die Motive der Autoren, sich am Wettbewerb zu beteiligen. Mit dem Preisgeld für den ersten Platz, fünfhundert Dollar, konnte ein Emigrant in den meisten Ländern mehrere Monate überdauern, und manch einer bezeichnete den Sieg im Preisausschreiben denn auch als seine »etzte Hoffnung«. Andere hatten schriftstellerische Ambitionen; obwohl ausdrücklich darauf hingewiesen worden war, daß es sich nicht um einen literarischen Wettbewerb handle und auch »kein Interesse an philosophischen Erwägungen« bestehe, erhielten die Initiatoren auch einige komplette Romanmanuskripte. Diesem und jenem verhalfen sie zu Kontakten mit Verlegern und Redakteuren; einige Bewerber verlangten aus Enttäuschung darüber, daß sie weder ausgezeichnet noch gedruckt wurden, ihren Text zurück. In Einzelfällen bemühte man sich in Harvard auch, für diejenigen etwas zu tun, die bei Kriegsausbruch von den Briten inhaftiert und in Lager nach Australien oder Kanada überstellt worden waren.
Das Hauptmotiv der meisten war, wie der Berliner Publizist Wolf Citron formulierte, »durch Aufarbeitung und Rekapitulation des Erlebten Abschied von Deutschland« zu nehmen. Dabei rechnete keiner so radikal ab wie der 21jährige Moritz Berger aus München, der seinem fünfseitigen Bericht den Titel »Rache« gab und davon träumte, als Bomberpilot seine Vaterstadt dem Erdboden gleichzumachen. Alle Berichte stimmten jedoch darin überein, daß die in der Nacht vom 9. auf den 10.November 1938 ungehemmt sich austobende Brutalität des Nationalsozialismus den größten Zivilisationsbruch der abendländischen Geschichte darstelle und es für einen deutschen Juden schlicht undenkbar sei, je wieder in diesem Land zu leben. »Nie mehr zurück in dieses Land«, notierte die Berliner Ärztin Hertha Nathorff eine Woche nach dem Pogrom, »wenn wir es erst einmal lebend verlassen haben.« Mehrere Autoren griffen am Schluß ihrer Erinnerungen den Titel des Preisausschreibens auf und faßten die Unumkehrbarkeit der Ereignisse in dem Satz zusammen: »So endete mein Leben in Deutschland«. [....]
SINN UND FORM 4/2009, S. 437-442
Nichts unheimlicher im Leben der Völker als das
langsame Nachwirken der historischen Schuld.
Treitschke
Wie die meisten Autoren, die sich (...)
Karlauf, Thomas
Stauffenberg. Eine Motivsuche
Nichts unheimlicher im Leben der Völker als das
langsame Nachwirken der historischen Schuld.
Treitschke
Wie die meisten Autoren, die sich außerhalb des germanistischen Seminars heute mit Stefan George beschäftigen, stieß auch der amerikanische Literaturwissenschaftler Robert Norton am Schluß seiner vor einigen Jahren erschienenen voluminösen Studie »Secret Germany« auf Claus Schenk Graf von Stauffenberg. Nachdem er 750 Seiten lang mit inquisitorischem Eifer alle Indizien zusammengetragen und so aufbereitet hatte, daß ein schnurgerader Weg vom Dichter zum »Führer« ging, stand das Denkmal des Hitler-Attentäters allerdings etwas verloren im Park der Georgeschen Lyrik. Es leuchtete nicht recht ein, weshalb der glühende Jünger, der sich im Alter von fünfzehn Jahren in den Dienst des Meisters gestellt hatte und nach dessen Tod 1933 zu den treuesten Hütern seines Vermächtnisses zählte, zehn Jahre später den Entschluß gefaßt haben soll, ausgerechnet den Mann zu töten, in dem sich – nach Nortons Verständnis – die Prophetie Georges doch erfüllt hatte. Die Sache schien dem Autor selbst nicht ganz geheuer, wie die merkwürdige Dialektik im letzten Absatz seines Buches vermuten läßt: »Bis zum Schluß blieb Stauffenberg den Idealen treu, die er von Stefan George gelernt hatte. Wir werden niemals erfahren, ob Stauffenberg begriff, daß diese Ideale und der Mann, der sie predigte, dazu beigetragen hatten, denjenigen hervorzubringen, den er vernichten wollte.«
Im Sommer 2007 rückte, ausgelöst durch Spekulationen um den Walküre-Film von Tom Cruise, Stauffenberg in den Blickpunkt der Medien. Als der Film im Januar 2009 mit einiger Verspätung in die deutschen Kinos kam, meldete sich aus Cambridge der Historiker Richard Evans zu Wort und machte unmißverständlich klar, was von der ganzen »Operation Walküre« zu halten sei – nämlich nichts. Was dem Hitler-Attentäter vorschwebte, so Evans im Magazin der »Süddeutschen Zeitung«, sei ein von George inspiriertes neuromantisches Ideal gewesen, für das es schon 1944 keine Verwendung mehr gegeben habe. Stauffenbergs Vorstellung, daß Europa nur unter Führung der Deutschen eine Zukunft habe, sei genauso anachronistisch gewesen wie seine Sehnsucht nach dem Ständestaat. Ein Mann, der »für die parlamentarische Demokratie zeitlebens nur Verachtung übrig« hatte, schien dem Autor »als Vorbild für künftige Generationen schlecht geeignet«.
Wäre Demokratietauglichkeit der Maßstab historischen Interesses, hätten wir die Geschichtsschreibung eigentlich nicht nötig – die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen. Es liegt in der Logik einer solchen Argumentation, daß sie den Attentäter nur als Opfer seines Wahns begreifen kann. Immerhin, räumte Evans ein, habe Stauffenberg in der Erkenntnis seiner Mitschuld verantwortungsvoll gehandelt. Weil ihm »seine Bombe vor allem als moralische Geste bedeutsam war«, sei er heute zumindest menschlich rehabilitiert – ein geradezu aberwitziger Gedanke, der das Staatsstreichkonzept schlicht auf den Kopf stellt: Wer den Umsturz plant, handelt nun einmal aus Patriotismus, wie immer er ihn definieren mag, und nicht weil er als Gutmensch in die Geschichte eingehen will. Der Artikel sei »nahezu begriffsstutzig«, befand Karl Heinz Bohrer eine Woche später in seiner Replik, »reichlich naiv, aber auch scheinheilig« und – »nicht ohne Infamie«.
Für Robert Norton war die Diskussion, wie aus dem George-Schüler der Hitler-Attentäter hatte werden können, offenbar von Anfang an schiefgelaufen. Als seien die Historiker von falschen Prämissen ausgegangen, erklärte er im Juli 2009 in einem Artikel in der »Zeit«, der Hitler-Attentäter sei gar nicht der George-Schüler. Vielmehr habe sich Stauffenberg, um den Anschlag überhaupt denken zu können, zuvor von seinem Meister befreien müssen. »Als Stauffenberg seinen unvorstellbar mutigen und einsamen Versuch unternahm, hat er sich von zentralen Idealen und Werten Georges losgesagt. Stauffenberg hat die Achtung, die man ihm jetzt zuerkennt, auf schwerste Weise verdient. Dafür verdient aber Stefan George keine.« In der Wissenschaft kommt es nach dem berühmten Wort von Max Weber darauf an, die richtigen Fragen zu stellen. Wer fragt, ob Stauffenberg in der Lage war zu erkennen, daß die Ideale, denen er folgte, den Aufstieg Hitlers begünstigt hatten, zäumt das Pferd vom Schwanz auf. Nicht weil er die Georgesche Welt als Irrtum begriff, faßte er seinen Entschluß, sondern weil er glaubte, daß Hitler seine, Stauffenbergs, Ideale verraten hatte.
»Auf innerpolitischem Gebiet hatten wir die Grundideen des Nationalsozialismus zum größten Teil durchaus bejaht«, gab Berthold von Stauffenberg, der ältere Bruder, nach seiner Verhaftung am 21. Juli zu Protokoll. »Der Gedanke des Führertums, der selbstverantwortlichen und sachverständigen Führung, verbunden mit dem einer gesunden Rangordnung und dem der Volksgemeinschaft, der Grundsatz ›Gemeinnutz geht vor Eigennutz‹ und der Kampf gegen die Korruption, die Betonung des Bäuerlichen und der Kampf gegen den Geist der Großstädte, der Rassegedanke und der Wille zu einer neuen, deutsch bestimmten Rechtsordnung erschien uns gesund und zukunftsträchtig.« Im Laufe der Jahre seien aber »die Grundideen des Nationalsozialismus … in der Durchführung durch das Regime fast alle in ihr Gegenteil verkehrt worden«.
Die Stichworte aus dem Vokabular der NS-Ideologie, auf die Berthold in den Gestapo-Verhören verwies, finden sich auch in jenem Aufruf, den die Brüder am Vorabend des Attentats gemeinsam formulierten, um den Staatsstreich sittlich zu begründen. Das »Volk, das in der Erde der Heimat verwurzelt« ist und durch seinen Stolz auf die eigene Scholle Neid und Mißgunst überwindet, wird, so heißt es in dem Memorandum, von Führern geleitet, »die aus allen Schichten des Volkes« wachsen und »durch großen Sinn, Zucht und Opfer den anderen vorangehen«. Die Gesellschaft der Zukunft müsse wieder feudalistisch aufgebaut und nach den Mustern von Herrschaft und Dienst organisiert werden: »Wir wollen eine Neue Ordnung die alle Deutschen zu Trägern des Staates macht und ihnen Recht und Gerechtigkeit verbürgt, verachten aber die Gleichheitslüge und beugen uns vor den naturgegebenen Rängen.«
Der Text, den die Brüder am Abend des 4. Juli 1944 als ihr politisches Testament verfaßten, atmete bis in die letzten handschriftlichen Korrekturen von Claus den Geist Stefan Georges. Der hatte seine Verachtung für die Masse, für alles, was mit Freiheit und Fortschritt, mit Liberalismus und Demokratie zu tun hatte, in Hunderten von Versen niedergelegt: »Schon eure zahl ist frevel«. Zur Herrschaft waren in seinen Augen nur die Wenigen bestimmt, junge Männer, die bei den Griechen »kaloikagathoi« hießen, die Schönen Guten, die schon im Knabenalter ausgewählt und auf ihre künftigen Aufgaben im Staat einschließlich des Kriegsdienstes vorbereitet wurden. Im 20. Jahrhundert – so wollte es George – sammelten sich diese Besten um ihn:
Ich sah von fern getümmel einer schlacht
So wie sie bald in unsren ebnen kracht.
Ich sah die kleine schar ums banner stehn ..
Und alle andren haben nichts gesehn.
Dieser »kleinen Schar« hatte der Meister nicht nur die Zukunft Deutschlands, ihr hatte er das Schicksal des ganzen Kontinents in die Hände gelegt. Schon in den Büchern der Ahnen sei zu lesen, hieß es in einem der großen programmatischen Gedichte aus der Endphase des verlorenen Ersten Krieges, »dass einst / Des erdteils herz die welt erretten soll«. Je schlechter es um die Nation bestellt war, desto hemmungsloser richteten sich die Phantasien ihrer Vordenker auf das, was am Ende das Geistige selbst genannt wurde; von nichts träumten die Deutschen während des 19. Jahrhunderts lieber als von geistiger Vorherrschaft. Mit der Griechenschwärmerei fing es an; der Deutsche sei aufgerufen, das Erbe der Griechen anzutreten, hatte Hölderlin um 1800 wortmächtig in die Welt gesetzt. Hundert Jahre später war deren Genius restlos in den deutschen Volkskörper überführt. »Wir bekennen uns«, hieß es daher konsequent im »Schwur« der Stauffenbergs, »im Geist und in der Tat zu den grossen Überlieferungen unseres Volkes, das durch die Verschmelzung hellenischer und christlicher Ursprünge im germanischen Wesen das abendländische Menschentum schuf.« Dieser besonderen Konstellation verdanke der Deutsche »die Kräfte, die ihn berufen, die Gemeinschaft der abendländischen Völker zu schönerem Leben zu führen«.
Sich heute in solche Phantasiewelten hineinzudenken, fällt unendlich schwer. Wir empfinden die Szene des 4. Juli als geradezu gespenstisch und fragen nervös, in welcher Wirklichkeit die Stauffenbergs eigentlich lebten. Als folgten sie anderen Gesetzen, als gälte für sie ein anderes Zeitmaß, blieben sie bis in die letzten Stunden hinein ihrer elitären Grundhaltung treu. Ihre kalte, mitleidlose Arroganz macht sie uns fremd, ja verdächtig.
[...]
SINN UND FORM 1/2010, S. 5-17
Ich habe es versäumt, mit ihm darüber zu sprechen. Als im Herbst 1983 der Amsterdamer Freundeskreis von jenem Brief erfuhr, aus dem, wie es hieß, (...)
LeseprobeKarlauf, Thomas
Meister mit eigenem Kreis.
Wolfgang Frommels George-Nachfolge
Ich habe es versäumt, mit ihm darüber zu sprechen. Als im Herbst 1983 der Amsterdamer Freundeskreis von jenem Brief erfuhr, aus dem, wie es hieß, hervorging, daß Wolfgang Frommel nie beim Meister zu Besuch gewesen sei, habe ich nicht mehr den Mut gefunden, eine eindeutige Antwort von ihm zu verlangen. Frommel stand im 82. Lebensjahr, seine Kräfte hatten zuletzt stark nachgelassen. Warum ihn noch einmal quälen mit einer Frage, die auszusprechen für die meisten Freunde schon Verrat bedeutete, schließlich gehörte Frommels »Dichterbericht«, in dem er seine Begegnung mit Stefan George im Jahre 1923 ausführlich geschildert hatte, zu den Identität stiftenden Büchern unserer Runde. Innerlich hatte ich bereits Abschied genommen: Ein paar Monate noch, dann würde ich das exterritoriale Leben der letzten zehn Jahre für immer hinter mir lassen und nach Deutschland zurückkehren. Es gab keinen Grund, noch einmal eine dieser aufreibenden Diskussionen über richtige und falsche Überlieferung vom Zaun zu brechen. Die Frage, ob Frommel George begegnet war oder nicht, hatte für mich keine existentielle Notwendigkeit mehr, sie interessierte mich nur noch phänomenologisch, und deshalb ging ich dieser letzten Auseinandersetzung aus dem Weg.
Fünfundzwanzig Jahre später gewann das Thema jene Eigendynamik, die meinen Ehrgeiz weckte: Jetzt wollte ich es doch genauer wissen. Ende 2007 stellte die Zeitschrift »Castrum Peregrini«, von Frommel 1951 im Geist Stefan Georges gegründet und bis zum Ende der Magnetberg seiner Verehrung, nach 280 Heften ihr Erscheinen ein. Ohne Frommel und seine Zeitschrift – so schrieb ich damals – »wäre die eigentümliche Welt Stefan Georges, die Welt des ›geheimen Deutschland‹, nicht bis an die Schwelle des 21. Jahrhunderts präsent geblieben«, und fügte hinzu, daß das Frommelsche Lebenswerk noch um vieles staunenswerter sei, wenn man bedenke, daß er George wahrscheinlich nie begegnet ist. In den Augen der Nachlebenden hatte ich mich damit endgültig als Verräter erwiesen. Daß es hier nicht um Wahrheit oder Lüge ging, sondern um die Bedingungen einer Nachfolge, die ohne persönliche Legitimation durch den Stifter nicht glaubte auskommen zu können, und daß genau hier das geistige Abenteuer begann, überstieg die Vorstellungskraft der Orthodoxen. In »Kreis ohne Meister«, seiner zwei Jahre später erschienenen Studie über das Nachleben Georges, nahm Ulrich Raulff auf meine Ausführungen Bezug. Wegen des problematischen Quellenzugangs habe er auf ein Kapitel über Wolfgang Frommel und das »Castrum Peregrini« verzichtet. Er könne allerdings nicht erkennen, daß eine Wirkungsgeschichte Georges ohne dieses Kapitel unvollständig sei, im Gegenteil. Raulff schien geradezu erleichtert, daß er sich mit den Amsterdamer Dunkelmännern nicht näher befassen mußte. Vor allem hätte ihn der Alleinvertretungsanspruch des »Castrum Peregrini« gezwungen, Nachfolge – den zentralen, von ihm recht großzügig gehandhabten Begriff seines Buches – genauer zu definieren. Weil er hier im Ungefähren blieb, konnte er zahlreiche für das Nachleben Georges periphere Figuren in den Zeugenstand rufen, wie etwa den Prinzen Löwenstein, der durch köstliche Anekdoten zur Eroberung Helgolands freilich sehr zum Unterhaltungswert des Buches beitrug.
So weit, so gut, könnte man sagen, eine Georgesche Wirkungsgeschichte ohne Frommel ist eben eine Georgesche Wirkungsgeschichte, die einen ganz bestimmten, zunächst nicht näher bezeichneten Bereich ausklammert. Ein bißchen schade, wird der eine oder andere gedacht haben, aber schließlich haben es sich die Frommel-Erben selbst zuzuschreiben, daß sie noch restriktiver und selektiver mit den Akten umgehen als das Politische Archiv des Auswärtigen Amtes. Schlägt man indes das Register des Raulffschen Buches auf, stellt man fest, daß der Name Frommel zu den am häufigsten genannten gehört, daß er genauso oft vorkommt wie der seiner beiden schärfsten Widersacher im Kampf um die George-Nachfolge: Edgar Salin und Ludwig Thormaehlen. Wie ein roter Faden zieht sich der Name durch das Buch. Das wirft dann doch Fragen auf.
Im George-Kreis der späten zwanziger und dreißiger Jahre galt Frommel als der Usurpator, der sich über geschickt eingefädelte Beziehungen Zugang zum Innersten verschaffen wollte, und entsprechend schlecht wurde über ihn gesprochen. Nach dem Krieg setzte sich diese Rivalität in den Diadochenkämpfen fort, die insbesondere zwischen Amsterdam und Genf, dem Wohnsitz des Erben Robert Boehringer, ausgetragen wurden. Während die meisten Freunde Georges in Frommels Augen zu bloßen Verwaltern mutiert waren, die sich längst in bürgerlichen Existenzen eingerichtet und damit dessen Ideale mehr oder minder verraten hatten, war er dem Auftrag des Dichters gefolgt: durch alle Fährnisse hindurch unverzagt nach jener Jugend Ausschau zu halten, die bereit war zur Aufnahme des dichterischen Wortes. Es ging in dieser Auseinandersetzung nicht darum, wer welche Texte veröffentlichen durfte, es ging um Grundsätzliches: um die Berechtigung der eigenen Existenz, die zugleich die Existenz des jeweils anderen verneinte. Dem Erben in Genf hätte es ziemlich gleichgültig sein können, was Frommel trieb, wäre ihm dies nicht wie ein schwerer Mißbrauch des Georgeschen Werkes vorgekommen.
Hier wiederholte sich ein Verdacht, dem George selbst ein Leben lang ausgesetzt war, der Verdacht, daß seine Gedichte immer auch als Werkzeuge dienten, schöne Jünglinge aufzuschließen. Weil sie in ihm eine Art photographisches Negativ erkannten, das an die flimmernden Seiten Georges erinnerte, die ihnen ja durchaus nicht verborgen geblieben waren, ist Frommel in den Briefen der George-Jünger als Scharlatan und böser Geist, als der leibhaftige Antichrist allgegenwärtig. Spätestens seit 1931, als der von ihm initiierte Gedichtband »Huldigung« die Verehrung für George zum Programm erhob: »Es ist das erste Mal«, hieß es im Ankündigungsprospekt, »daß aus dem Lager der weiteren Jugend dichterisch eine Antwort auf den an sie ergangenen Ruf vernommen wird.« Frommels Aktivitäten, nicht zuletzt viele der in dem von ihm geführten Runde-Verlag erschienenen Publikationen, brachten die Freunde Georges wiederholt in Verlegenheit. Frommel war der Stachel im Fleisch der Georgeaner.
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SINN UND FORM 2/2011, S. 211-218