Köpp, Ulrike
geb. 1951 in Jena, Kulturhistorikerin, lebt in Berlin. (Stand 5/2022)
Siehe auch SINN UND FORM:
- 1/2018 | Neues Leben und Gemeinschaft. Zum Reformstreben in der Moderne
- 3/2019 | »Abstrakte, Moderne, verschiedene Ismen«. Zur Ablösung des Begriffs »entartete« Kunst
- 4/2020 | Nacktbaden. Technik des Glücks. Zur Freikörperkultur in der DDR
- 5/2022 | Der volkseigene Gartenzwerg. Über den Kampf gegen Kitsch in der frühen DDR
Die Stalinallee, jene für ihre Architektur bewunderte wie verhöhnte Prachtstraße in der östlichen Mitte Berlins, ist eine Chiffre für den hoffnungsvollen Kurs zum Aufbau des Sozialismus wie auch für die existentielle Krise der Deutschen Demokratischen Republik im Juni 1953. Der sozialistische Boulevard sollte Arbeitern und ihren Familien großzügige, lichte Wohnungen bieten, mit Ladenzeilen die industrielle Leistungsfähigkeit des Landes demonstrieren und den Bewohnern mit einer Vielfalt gediegener Konsumgüter ein gutes Leben verheißen. In der Vorstellung der Planer gehörten dazu neben Geschäften für Jenaer Glas, für Schuhe und Bekleidung auch eine großzügige Buchhandlung und zwei Reformhäuser. Deren Einrichtung war im Rat des Stadtbezirkes unumstritten. Ganz anders die Frage, ob man auch dem Verkauf von Antiquitäten und Pelzwaren stattgeben solle, galten diese doch als Luxusgüter und standen für eine Gesellschaft der sozialen Ungleichheit, welche die DDR als Gesellschaft der Gleichen überwinden wollte. (...)
LeseprobeKöpp, Ulrike
Neues Leben und Gemeinschaft. Zum Reformstreben in der Moderne
Die Stalinallee, jene für ihre Architektur bewunderte wie verhöhnte Prachtstraße in der östlichen Mitte Berlins, ist eine Chiffre für den hoffnungsvollen Kurs zum Aufbau des Sozialismus wie auch für die existentielle Krise der Deutschen Demokratischen Republik im Juni 1953. Der sozialistische Boulevard sollte Arbeitern und ihren Familien großzügige, lichte Wohnungen bieten, mit Ladenzeilen die industrielle Leistungsfähigkeit des Landes demonstrieren und den Bewohnern mit einer Vielfalt gediegener Konsumgüter ein gutes Leben verheißen. In der Vorstellung der Planer gehörten dazu neben Geschäften für Jenaer Glas, für Schuhe und Bekleidung auch eine großzügige Buchhandlung und zwei Reformhäuser. Deren Einrichtung war im Rat des Stadtbezirkes unumstritten. Ganz anders die Frage, ob man auch dem Verkauf von Antiquitäten und Pelzwaren stattgeben solle, galten diese doch als Luxusgüter und standen für eine Gesellschaft der sozialen Ungleichheit, welche die DDR als Gesellschaft der Gleichen überwinden wollte. An den Ende des 19. Jahrhunderts aufgekommenen Reformhäusern störte sich aber niemand, sie gehörten zum städtischen Leben und Einkaufen dazu wie Werbeanzeigen für Säfte oder Margarine aus der Reformsiedlung Eden bei Oranienburg. Die Ideen und Praktiken der um 1900 entstandenen Lebensreformbewegung waren inzwischen ganz selbstverständlich in den Alltag der Leute eingegangen. Auch für mich gehörten die Reformhäuser mit ihren braunen Holzregalen seit meiner Kindheit zum Inventar der Städte. Erst auf der Suche nach den Adern der Lebensreform in der DDR im Archiv stieß ich auch auf institutionelle Widerstände gegen diese Bestrebungen. Hinter den Kulissen gab es sogar den Versuch, den Gebrauch des Begriffs Reform für diese Handelseinrichtung zu unterbinden. Womöglich kam er von subalternen Mitarbeitern, die damit dem revolutionären Selbstverständnis der SED Genüge zu tun meinten. Bei dem Versuch sollte es dann aber auch bleiben.
Bei den Auseinandersetzungen um Praktiken der Lebensreform in den Nachkriegsjahren und der Frühzeit der DDR ging es immer auch um die Frage: Wie wollen wir leben nach diesem schrecklichen Krieg? Sein Ende wurde auch als Chance für einen kulturellen Neuanfang verstanden. Mit der Roten Armee kamen im Mai 1945 dessen Vorboten, die sowjetische Besatzungsmacht zirkelte den politischen Raum dafür ab: mit der Entnazifizierung der Behörden und Verwaltungen, mit der Bodenreform und der Enteignung der großen Unternehmen, die mit dem Krieg Gewinne gemacht hatten. Und ob die Deutschen sich nun als von den Faschisten Befreite fühlten oder als vom Feind Besiegte, sie nahmen diesen Raum ein und zeigten, daß selbst noch im radikalen historischen Bruch eine kulturelle Kontinuität waltet. Auch die Revolution von oben hat ihren Boden, der sie nährt.
Gleich im Sommer 1945 richtete der Magistrat von Groß-Berlin im Ressort Volksbildung eine Abteilung »Neues Leben« ein. Sie sollte »die Kulturarbeit des neuen Menschen« befördern. Mit Vorlesungen, Volkshochschulen und Ausstellungsführungen wollte sie den Berlinern geistige Anregung bieten. Tanz matineen, Gymnastik und Laienspielgruppen sollten für Unterhaltung und Entspannung der erschöpften Bevölkerung sorgen. Gesangs- und Sprechchöre wollte man auf die Beine stellen und mit ihnen die antifaschistisch-demokratische Politik des Magistrats unterstützen. Sogar um die Organisation von Reisen und Wanderungen wollte sich die Abteilung zusammen mit Jugend- und Tourismusvereinen kümmern. All diese Vorhaben erinnern an die Praxis der sozialdemokratischen Kulturarbeit in der Weimarer Republik. Der Mehrzahl der Berliner lagen freilich wohl die Unternehmungen weit näher, die sie mit der NS-Organisation »Kraft durch Freude« erlebt hatten. Diese aber hatte nur an das Freizeitkonzept der Arbeiterkulturbewegung vor 1933 angeknüpft, so wie nun auch die Antifaschisten, die zum Beispiel im Bezirk NO 55 die Bewohner zu einer ersten Silvesterfeier nach dem Krieg einluden. Man wolle das Jahr gemeinsam »in würdiger Form und froher Weise abschließen«, mit Freude und neuem Lebensmut. Die Einladung versprach ein kurzes Programm mit Rezitation und Gesang, ein Marionettenspiel mit dem Titel »Ein chinesisches Friedenslied« und Tanz in das neue Jahr hinein. Das Mehl und das Fett für die Pfannkuchen mußte allerdings jeder selber mitbringen.
Die Abteilung »Neues Leben« des Berliner Magistrats setzte auf alle, die trotz der Trümmerlandschaften wieder zu hoffen wagten. Mit Liederheften wollte sie die Gemeinschaft stärken, was schließlich not täte »beim nicht leichten Aufbauwerk «. Ein erstes Heft, »Lieder für Feier und Gemeinschaft«, erschien 1946. Es hob an mit »Freundschaft ist die Quelle wahrer Glückseligkeit«, einem Kanon von Beethoven, und ging weiter mit dem Volkslied »Die Gedanken sind frei« und dem Lied der Moorsoldaten, mit dem die Häftlinge des Konzentrationslagers Börgermoor ihr elendes Dasein zu überstehen versuchten. Der Grundton von Gemeinschaft erklang auch in den zukunftsgewissen deutschen Arbeiter und Jugendliedern wie »Wann wir schreiten Seit’ an Seit’« und in russischen Volksliedern. Ein zweites Liederheft hieß »Weisen von Abschied, Liebesfreud und Liebesleid«; der Verlag Neues Leben hatte sie offenbar sämtlich dem »Zupfgeigenhansl « entnommen, dem legendären Liederbuch der bürgerlichen Wandervögel. Vor dem Ersten Weltkrieg hatte es Gymnasiasten und Studenten auf ihren kleinen Fluchten aus dem Alltag begleitet und ihnen geholfen, sich auf ihren Wanderungen als »neue Menschen« zu fühlen. Im »Zupfgeigenhansl« war demokratisches Liedgut über die Nazizeit hinweg aufbewahrt worden. Die ursprünglich darin enthaltenen Soldatenlieder hatte der Verlag allerdings nicht mehr abgedruckt. Den fröhlichen Marsch ins Feld zu besingen, danach war niemandem mehr zumute, schon nach dem Ersten Weltkrieg nicht und nun erst recht nicht mehr.
Wo sich 1945 in Ostdeutschland Hoffnung auf Gemeinschaft und ein neues Leben regte, reichte diese also bis an den Anfang des Jahrhunderts zurück. Der Soziologe Ferdinand Tönnies hatte den Begriff der Gemeinschaft 1887 in seiner Schrift »Gemeinschaft und Gesellschaft. Abhandlung des Communismus und des Socialismus als empirischer Culturformen« geprägt. Darin grenzte er die beiden sozialen Gebilde scharf voneinander ab. Er verklärte das naturwüchsige Leben in der traditionellen Dorfgemeinschaft zum Inbegriff harmonischen Daseins und sah die Gesellschaft als bloßes Nebeneinander entfremdeter Individuen. Tönnies hatte die mit den Gründerjahren sich rasant entwickelnde Industriegesellschaft vor Augen, die ihm allein auf »Egoismus«, auf »Begierde und Furcht« zu beruhen schien. Die Großstadt galt ihm »überhaupt als Verderben und der Tod des Volkes«. Seitdem entfaltete der Begriff der Gemeinschaft eine geradezu magische Kraft. Denn die Bewohner der großen Städte übernahmen ihn und übertrugen ihn auf ihre Bedürfnisse. Sie lösten ihn von seinem Ursprung, der dörflichen Zwangsgemeinschaft, und wendeten ihn auf Gemeinschaftsformen an, die sich innerhalb der kritisierten Gesellschaft eröffneten. Die in die Moderne Entlassenen erfanden sich ihre Gemeinschaft, wählten sie je nach Lebenslage, Interessen und Neigungen. Wie die Wandervögel, die Gymnasiasten und Studenten, die am Wochenende »auf Fahrt« gingen und dabei ihr Anderssein kultivierten und sich als Neue Menschen stilisierten. Oder wie die ehemaligen Tagelöhner und Mägde, die in die Städte gezogen waren, wo sie die Fabriken und Wohnverhältnisse als Fluch erlebten. Sie fanden mit ihresgleichen neue Zugehörigkeit, die Geselligkeit in der Kneipe, die Ausfahrt am Sonntag oder den solidarischen Zusammenhalt im Arbeitskampf um höhere Löhne.
Nicht selten war die Erkundung alternativer Lebensformen mit der Suche nach Antworten auf die »soziale Frage« oder »die Arbeiterfrage« verbunden, zeitgenössische Kürzel für die Mißstände der kapitalistischen Gesellschaft und die Hoffnung auf Besserung im Sinne des Sozialismus. Auch der Untertitel der ersten Ausgabe von Tönnies’ »Gemeinschaft und Gesellschaft«, der noch die Begriffe von »Communismus und Socialismus« enthielt, ist nur ein Indiz dafür, wie virulent sozialistische Vorstellungen waren und wie eng die verschiedenen politischen und kulturellen Bestrebungen im Ausgang des 19. Jahrhunderts zusammenhingen. Das Wissen darum ist freilich im 20. Jahrhundert verlorengegangen. Die geschichtlichen und sozialen Entwicklungen trennten sie, nicht zuletzt die großen Kriege. Und eine akademische Geschichtsschreibung, die dem Gang der Ereignisse politisch befangen, wenn nicht ideologisch verblendet nur auf bestimmten Pfaden folgt.
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SINN UND FORM 1/2018, S. 46-60, hier S. 46-49
Wie angewurzelt stand ich in der Alten Nationalgalerie vor dem Gemälde, ich hatte die gelöste Szenerie der Nacktbadenden am Ostseestrand (...)
LeseprobeKöpp, Ulrike
Nacktbaden. Technik des Glücks. Zur Freikörperkultur in der DDR
Wie angewurzelt stand ich in der Alten Nationalgalerie vor dem Gemälde, ich hatte die gelöste Szenerie der Nacktbadenden am Ostseestrand wiedererkannt, die mir aus DDR-Zeiten so vertraut war. Dabei befand ich mich doch in dem Raum mit der Kunst des ausgehenden 19. Jahrhunderts, und die »Tritonen und Najaden«, die sich da am Meeressaum ergingen, waren von Max Klinger. Ein Mann und eine Frau liefen ins Meer, zwei Liebende, den Rücken zum Betrachter gekehrt, vor ihnen ließ sich eine Frau ins Wasser fallen. Alle Bewegung auf diesem Bild rührte von dieser Menschengruppe in seiner Mitte her. Denn im Blaugrün des Wassers war nicht eine Welle auszumachen. Allenfalls der Struwwelkopf des Kindes, das auf dem linken Oberarm des Mannes saß, ließ eine Brise ahnen, aber vielleicht war sein Haar auch nur von dem Schwung bewegt, mit dem der Vater es hochgehoben hatte. Rechts im Bild standen zwei Frauen und ließen ihre Blicke ins Weite schweifen, links hatte der Maler drei weibliche Figuren gruppiert, die eine sitzend, die beiden anderen, ihren Oberkörper auf den Arm gestützt, im Wasser liegend. Träge, wie hingegossen auf eine Wiese. Es war die Sinnlichkeit des Leibes, die Klinger dem Betrachter vor Augen führte. Er hatte die »Tritonen und Najaden« 1884/85 für den Fries in einer Villa bei Berlin gemalt, sie waren sein lebensreformerisches Programm, ein Gegenentwurf zur Körperfeindlichkeit und Prüderie seiner Zeit. Mit seiner arkadischen Landschaft brachte Klinger auch die Sehnsucht nach einem vom Kampf der Geschlechter befreiten und ebenbürtigen Umgang von Mann und Frau zum Ausdruck. In mir aber rief sein Bild andere Bilder wach, Willy Sittes kraftvolle Männer und Frauen und Liebespaare, die mit ihrer ungezügelten Sinnlichkeit ein irdisches Glück priesen. Ein Strandbild von Werner Tübke kam mir in den Sinn, mit dem Gewimmel von Nackten und Halbnackten, deren Körper sich zu einem einzigen Wirbel verbanden und die dabei doch ganz bei sich selbst blieben. Wo Klinger seine Darstellung nackter Leiber noch mit mythologischen Namen rechtfertigen mußte, nobilitierte Tübke mit seiner altmeisterlichen Kunst die Ungeniertheit der Leute und verlieh ihnen die Würde von Renaissance- und die Sinnlichkeit von Barockmenschen.
Um die DDR als Paradies der Nacktbadenden ranken sich Legenden. So geht die Mär, die Bürger hätten sich im Widerstand gegen die SED ihre Freiheit am Strand erkämpft. Zwar gab es anfänglich Verbote und Restriktionen gegen Freikörperkultur, letztlich war es aber genau umgekehrt: Die Freiheit zum Nacktbaden verdankte das Volk der DDR den Genossen.
Wenn die VP, die Volkspolizei, Anfang der fünfziger Jahre Badewiesen und Strände auf die Einhaltung des Verbots kontrollierte, mußte sie die Nackten nicht selten als die ihren identifizieren. Die Anhänger der Freikörperkultur, die etwa am Waldteich bei Moritzburg »gewohnheitsmäßig« zusammenkamen, seien zum größten Teil Mitglieder der SED gewesen, berichtete die sächsische Landesbehörde nach einer Personenfeststellung im August 1950 an die Hauptverwaltung der VP in Berlin. Die Genossen hätten zudem darauf hingewiesen, daß das Nacktbaden anderswo im Land erlaubt sei, auf der Insel Rügen und überhaupt an der Ostseeküste wie auch an den um Berlin gelegenen Seen. Eine der »festgestellten Personen« sei der Professor Ludwig Renn gewesen, der sich in der Angelegenheit an die »Deutsche Demokratische Regierung« wenden wolle. In der Volkspolizei herrschte Verwirrung, das VP-Kreisamt Teltow faßte im Herbst 1951 die Lage an den südlich von Berlin gelegenen Seen zusammen: »Übersichtlich gesehen« seien die Ermittlungen »schwieriger Natur« gewesen, denn man sei zumeist auf Personen getroffen, »die der Freikörperkultur sympathisch gegenüberstehen und überdies zum großen Teil Genossen unserer Partei sind«. Nicht anders als in Ahrenshoop oder an den Volkersdorfer Teichen bei Dresden hatten sich auch im Umland von Berlin nach dem Krieg wieder Sozialdemokraten und Kommunisten eingefunden, die dort bereits in den zwanziger Jahren in der linken Gruppe »Fichte«, im Arbeitertourismusverein »Die Naturfreunde« oder im »Bund Freier Menschen« nackt gebadet hatten. Oft waren es jene Mitglieder der SED, die jetzt die maßgeblichen Positionen in Partei und Staat besetzten. Sie waren also vom selben Stamm wie die Polizisten, die sie am Strand kontrollierten.
Der von der sächsischen VP festgestellte Ludwig Renn, Professor für Kulturgeschichte und Vorsitzender des Sächsischen Kulturbunds, gehörte freilich nicht zu den frühen Lebensreformern, sondern war auf anderem Wege zum Nacktbaden gekommen. Als geborener Vieth von Golßenau hatte er als Junge schwer unter der seelischen Kälte und den ständischen Reglements seines Elternhauses gelitten. In seiner Einsamkeit suchte er nach anderer Zugehörigkeit und fand sie als Offizier im Ersten Weltkrieg. Er fühlte sich verantwortlich für seine Soldaten, in der Begegnung mit gebildeten wie ungebildeten Arbeitern und den analphabetischen Bauern schärfte sich sein sozialer Sinn. Sein Entsetzen angesichts des kriegerischen Gemetzels verwandelte sich in Empörung gegen die deutsche Generalität. Als sich dem adligen Offizier zum Kriegsende nicht wenige seiner Soldaten als Sozialdemokraten zu erkennen gaben, weitete sich sein politischer Horizont, obgleich er die Wirren der Novemberrevolution noch kaum verstand. Arnold Friedrich Vieth von Golßenau will die hinter ihm liegenden Erfahrungen schreibend verarbeiten, nimmt für einen Sommer Quartier in einem Dorf im Elbsandsteingebirge. Ein Gebüsch am Fluß wird seine Klause zum Schreiben. Dort legt er seine Kleider ab, setzt seinen nackten Körper der Sonne aus und versucht, »auf eine fast verkrampfte Weise, dem gewöhnlichen Volk ähnlich zu werden«. Und wird der Schriftsteller Ludwig Renn.
Wiewohl Renn sich das Nacktbaden also nicht von anderen Lebensreformern abgeguckt hat, bricht er doch wie diese mit seinem bisherigen Leben. Er findet Anschluß an den »Bund Freier Menschen« in Sachsen, reist durch Europa, immer »von Enttäuschung zu Enttäuschung«, kehrt nach Deutschland zurück und schließt sich den Kommunisten an. In Berlin findet er endlich zur »Fichte«. Er hält Vorlesungen über Militärgeschichte in der MASCH, der Marxistischen Arbeiterschule, und gibt seine militärischen Kenntnisse auch im Rotfrontkämpferbund weiter, denn die Arbeiter wollen lernen, sich gegen den aufziehenden Faschismus zu verteidigen und für eine Revolution zu wappnen. Mit »Fichte« hatte Renn seine Lebensform gefunden. Die Organisation unterhielt um Berlin herum auf gepachteten oder gekauften Grundstücken Zeltplätze. Dort verbrachten Arbeitslose, die sich die Miete in der Stadt nicht mehr leisten konnten, die Sommer, aber auch Intellektuelle und Künstler suchten hier am Wochenende Erholung. Man spielte Ball und trieb Gymnastik, traf sich im Lesezirkel zum Diskutieren und badete selbstverständlich nackt. Ludwig Renn tat sich zudem mit seinen arbeitslosen Zeltnachbarn zu einer Eßgemeinschaft zusammen, zu der er Lebensmittel beisteuerte. Es muß der Zeltplatz in Nassenheide gewesen sein, zumindest passen Renns Erinnerungen genau zu denen des Schauspielers Erwin Geschonneck. Dieser nämlich gehörte zu den Arbeitslosen, die zweimal die Woche mit dem Fahrrad von Nassenheide im Norden »zum Stempeln« nach Berlin fuhren, um sich ihre Arbeitslosenunterstützung zu holen. Für den aufgeweckten jungen Proletarier »gehörte es sich«, damals in den Jahren der Weltwirtschaftskrise, aus der Kirche auszutreten, zu politischen Demonstrationen zu gehen und im Arbeitersportverein organisiert zu sein. Geschonneck versuchte es zuerst mit den Boxern, ging dann aber zu den Arbeiterwanderern – die schienen ihm geistig reger. In Nassenheide fand er reichlich Zeit zum Lesen und den dazugehörigen Zirkel, in dem er sein Studium der Werke von Karl Marx vertiefte. Von hier aus ging er auch mit den Freunden am Wochenende »auf Fahrt« bis zur Ostsee, und eines Tages wurden die Mitglieder von »Fichte« sogar zum Film gerufen: Sie spielten als Statisten in »Kuhle Wampe«, dem Film von Bertolt Brecht und Slatan Dudow, und Geschonneck sang in der legendären S-Bahn-Szene mit den anderen Jungen »Vorwärts und nicht vergessen, / Worin unsre Stärke besteht!«
Renn erinnerte sich an eine Begebenheit, in der Freikörperkultur als Lebensform zur Weltanschauungsgemeinschaft verdichtet erscheint: Mitglieder von »Fichte« hatten ihn um militärische Schulung im Rahmen ihres Sommerlagers gebeten, er vergatterte die Freunde dazu, splitternackt zu dem verabredeten Waldstück zu kommen und auch kein Blatt Papier mitzubringen, denn so könne sich auch ein möglicher Spitzel keine Notizen machen. Im Fall des Falles wären seine Aussagen vor Gericht also nicht zu gebrauchen. So schützte unverfängliches Nacktbaden politisch höchst verfängliches Tun. Die existentielle Bedeutung seiner Entscheidung für die kommunistische Bewegung aber erhellt der bittere Vorwurf, den Renn in seinen Erinnerungen gegen Sigmund Freud richtet. Der habe mit seiner Psychoanalyse die Menschheit nur »noch tiefer in die Krankheit der Vereinsamung hineingestoßen«, an der sie durch den Kapitalismus ohnehin schon litt. Renn verknüpfte seine Suche nach einer alternativen Lebensform mit der Vorstellung von einer fundamental anderen Gesellschaftsform. Die Szene im Wald macht deutlich, daß das Bedürfnis nach Zugehörigkeit zu einer politischen Organisation keinen Widerspruch zu einer selbstbestimmten Lebensform bildete, in der Nacktheit des individuellen Körpers fand dies nur den sichtbarsten Ausdruck, bei Proletariern wie Intellektuellen bürgerlicher Herkunft gleichermaßen. Nach Nassenheide zog es am Wochenende auch Hilde und Georg Benjamin, von hier fuhr der aus armem jüdischem Milieu stammende Alexander Abusch täglich nach Berlin, wo er sich als Redakteur der »Roten Fahne« zum Intellektuellen mauserte. Er auch gehörte nach 1945 zur politischen Prominenz, die sich an den FKK-Strand in Ahrenshoop verlief.
SINN UND FORM 4/2020, S. 470-483, hier S. 470-473
Im Sommer 1947 warb ein Plakat für den Besuch einer Ausstellung im Weimarer Schloß: »Gegen die Ausbeutung des Volkes durch Kitsch«. Den (...)
LeseprobeKöpp, Ulrike
Der volkseigene Gartenzwerg.
Über den Kampf gegen Kitsch in der frühen DDR
Im Sommer 1947 warb ein Plakat für den Besuch einer Ausstellung im Weimarer Schloß: »Gegen die Ausbeutung des Volkes durch Kitsch«. Den Initiatoren ging es offenbar ums Ganze. Den Schwung für ihr Unterfangen bezogen sie aus dem radikalen gesellschaftlichen Umbruch nach dem Untergang des Nazi-Reiches. So hatten die neuen politischen Machthaber mit der Bodenreform gerade für die Umsetzung eines alten lebensreformerisches Ziels gesorgt. Warum sollte da nicht auch die Stunde für die Kunsterziehungsreformer gekommen sein?
Die Malerin Lea Grundig erinnert sich an eine Begebenheit aus ihrer Schulzeit in Dresden, noch vor dem Ersten Weltkrieg. Als Achtjährige war sie von ihrem Lehrer über Kitsch aufgeklärt worden und stiftete ihre älteren Schwestern umgehend dazu an, die Nippes im elterlichen Zuhause wegzuräumen. Zum Entsetzen der Mutter packten sie die Vasen und die Engel mit den goldenen Flügeln und die komischen »Dämchen« aus Porzellan in den Wäschekorb. Kunsterzieher wie Leas Lehrer und auch Künstler bekämpften den Kitsch, der als Synonym für gestalterischen Schund und Verlogenheit galt, als Symptom gesellschaftlicher Mißstände. Der Maler Otto Griebel etwa hatte sich, durch den Ersten Weltkrieg politisiert, den Linksradikalen angeschlossen und als dadaistischer Künstler das Dresdner Publikum verschreckt. Als Mitglied der Asso, der Dresdner Gruppe proletarisch-revolutionärer bildender Künstler, zog Griebel mit Vorträgen über »Kunst und Kitsch« umher und provozierte seine Zuhörer mit Kritik an »grienenden Gartenzwergen« und Öldruck-Elfenreigen im Schlafzimmer, diesen üblen Produkten »gefühlsverderbenden Massenschunds«. Der Architekturkritiker Adolf Behne forderte 1920 gar mit einem Manifest »Fort mit der Gemütlichkeit!« und warb für kühl-sachliche architektonische Konstruktionen aus Glas und Stahl. Der Schriftsteller Ludwig Renn meinte, daß Kitsch wirklichen Verbrechen als »ästhetisches Mäntelchen« diene. Im Exil in Mexiko sprach er 1944 im Heinrich-Heine-Club über die im Interesse von Geschäft und Politik erzeugten falschen Gefühle, über die Postkarten mit süßlichen Motiven, die Frauen an ihre geliebten Söhne und Männer, an »Unsere sonnigen Feldgrauen « an der Front schickten. Renn, ein geborener Adliger, hatte als Leutnant im Ersten Weltkrieg das Elend der Soldaten erlebt, den Hunger, den Dreck, die Leichen der Kameraden, die auf dem Schlachtfeld zurückgelassen wurden. Jetzt wartete er einmal mehr auf das Ende des Krieges und auf seine Rückkehr nach Deutschland.
Schon bald nach Ende des Zweiten Weltkriegs regten sich allerorts Anti-Kitsch- Initiativen. Als im Herbst 1946 im Club der Kulturschaffenden in der Berliner Jägerstraße die Kommission Bildende Kunst des Kulturbunds tagte, ging es auch um den Kampf gegen den Kitsch. Max Taut, der sich im Arbeitskreis von Hans Scharoun, Stadtbaudirektor im Berliner Magistrat, für den Wiederaufbau der Stadt engagierte, forderte die bildenden Künstler auf, sich dafür einzusetzen, »daß endlich der Kitsch beseitigt werde«. Auch dafür brauche es eine Zeitschrift für bildende Kunst. Der Publizist Kurt Stern schlug vor, die Geschmacksbildung der Leser mit grundsätzlichen Artikeln zu fördern. Ihn hatten bei seiner Rückkehr aus dem französischen Exil nicht nur die Trümmerlandschaften erschüttert, sondern auch die Schwemme von Kitsch. Überall wurden »Geschenkartikel« angeboten, die provisorischen Verkaufsräume von Wertheim im »Columbia- Haus« schienen überzulaufen von Aschenbechern und Vasen, von Tabakdosen und Zigarettenspitzen, »nie so viele Raucherartikel gesehen wie jetzt, da es 6 Zigaretten im Monat gibt«, notierte er in sein Tagebuch. Es seien Bücher und Spielzeuge aus Pappe und Holz zu haben, aber neben Lebensmitteln mit künstlichen Aromen vor allem künstlicher Blumenschmuck und »allerhand andere Kinkerlitzchen und Schund«.
Es ging in diesen ersten Nachkriegsjahren ums nackte Überleben. Jeder handelte mit dem, was ihm geblieben war, oder produzierte Dinge aus Material, das er beschaffen konnte. Im Referat für Bildende Kunst, Museen und Denkmalpflege wollte man deswegen zur Geschmacksbildung eine »Kitschausstellung« lancieren. Diesen Plan mußte man jedoch aufgeben, so der Kunstwissenschaftler Gerhard Strauss als Vertreter der Deutschen Zentralverwaltung für Volksbildung in der Kunstkommission, da die Menschen aus Mangel an Bedarfsartikeln »gezwungen seien, Kitsch zu kaufen«. Die Landesregierung von Mecklenburg- Vorpommern machte Anfang 1947 hingegen ernst, als sie in einem Rundschreiben die Landräte und Oberbürgermeister aufforderte, Prüfstellen einzurichten, die den örtlichen Kunsthandel überwachen und »wertvolle Erzeugnisse von Kitsch« scheiden sollten. In Demmin nahm sich eine rührige »Gruppe bildender Künstler « des Kulturbunds der Sache an und bildete zusammen mit Vertretern von Kulturamt, Gewerbepolizei und Gewerkschaft eine Kommission, die Maßstäbe für die »bekämpfung von kitsch und preiswucher in kunst und kunstgewerbe« zu finden und zu exekutieren versuchte – man bemerke die Kleinschreibung, auch sie ein Feld der Lebensreformer. Wucherpreise waren bei der Kontrolle von Auslagen und Schaufenstern von Galerien und Kunsthandwerkern noch leicht zu indizieren, Geschmacksurteile hingegen waren eine zwiespältige Sache, wie sich in den Protokollen nachlesen läßt. Da war, in bezug auf Heiligenbilder, von »ekelhaften Machwerken« die Rede. Es gab den »Heimat-Maler«, dessen Bilder »für den Handel« gerade noch tragbar schienen, und den »auswärtigen Kitschmaler «, einen aus Berlin Zugezogenen. Bei der Malerin Ilse von Heiden-Linden hingegen seien »edelstes Bemühen und vollendete Kunst« zu bemerken, und die Arbeiten des Bildhauers Wilhelm Graf stünden »auf dem goldnen Boden deutscher Handwerkskunst«. Der Landrat des Kreises Demmin berichtete im April 1947 dem Ministerium für Volksbildung des Landes Mecklenburg von den irritierenden Erfahrungen der Prüfstelle für den Kunsthandel. Es habe sich gezeigt, daß es schon in der Kommission Meinungsverschiedenheiten gebe, weil ihre Vertreter verschiedenen Kunstrichtungen anhingen. Man sei sich zwar grundsätzlich einig, wann man es mit Kitsch zu tun habe, es gebe aber auch Grenzfälle. So meinten die einen, auch Arbeiten von hauptberuflichen Malern, die nicht hohen künstlerischen Ansprüchen genügten, seien auszuschließen, andere hielten dagegen, ein solches Vorgehen würde diese brotlos machen. Man müsse das Ministerium diesbezüglich um eine klare Entscheidung bitten. (…)
SINN UND FORM 5/2022, S. 664- 678, hier S. 664-666