Habel, Sabrina
geb. 1985 in Kandel / Pfalz, akademische Mitarbeiterin im Exzellenzcluster »Kulturelle Grundlagen von Integration« der Universität Konstanz und derzeit Gastredakteurin beim »Merkur«. 2012 erschien »Die Signatur des Bösen. 'Fausts Leben, Thaten und Höllenfahrt' von Friedrich Maximilian Klinger«. (Stand 2/2018)
Siehe auch SINN UND FORM:
- 3/2017 | Wahrheitskunst. Brechts Anleitung zum richtigen Lesen
- 2/2018 | Der Kritiker und die Resignation
Für Bertolt Brecht ist Wahrheit nicht nur eine Frage der Gesinnung, sondern auch eine Frage des Könnens. Die Wahrheit, schreibt er, wird gesellschaftlich hergestellt und ihre genauen »Produktionsweisen « lassen sich beschreiben. Bemerkenswerterweise zieht Brecht daraus nicht den Schluß, daß es mehrere Wahrheiten gebe oder gar geben solle – wie Roland Barthes, der sagen wird, daß es für jede Begierde eine eigene Sprache geben soll. Brechts Verständnis von Wahrheit (und vielleicht auch von Begierde) ist einfacher: »Es gibt nur eine Wahrheit«, schreibt er, »nicht zwei oder ebenso viele, als es Interessengruppen gibt.« In diesem Sinne gibt es auch nur eine Sprache, allerdings in zwei Zuständen: einem, in dem sie die Wahrheit abbildet, und einem, in dem sie die Wahrheit verstellt. Es gibt nämlich auch Produktionsweisen des Unwahren. (...)
LeseprobeHabel, Sabrina
Wahrheitskunst. Brechts Anleitung zum richtigen Lesen
Für Bertolt Brecht ist Wahrheit nicht nur eine Frage der Gesinnung, sondern auch eine Frage des Könnens. Die Wahrheit, schreibt er, wird gesellschaftlich hergestellt und ihre genauen »Produktionsweisen « lassen sich beschreiben. Bemerkenswerterweise zieht Brecht daraus nicht den Schluß, daß es mehrere Wahrheiten gebe oder gar geben solle – wie Roland Barthes, der sagen wird, daß es für jede Begierde eine eigene Sprache geben soll. Brechts Verständnis von Wahrheit (und vielleicht auch von Begierde) ist einfacher: »Es gibt nur eine Wahrheit«, schreibt er, »nicht zwei oder ebenso viele, als es Interessengruppen gibt.« In diesem Sinne gibt es auch nur eine Sprache, allerdings in zwei Zuständen: einem, in dem sie die Wahrheit abbildet, und einem, in dem sie die Wahrheit verstellt. Es gibt nämlich auch Produktionsweisen des Unwahren. Während Adorno unter dem Falschen einen Zusammenhang versteht, in den jeder bereits verstrickt ist, und betont, daß daraus bestenfalls ein Index des Besseren und Richtigeren entstehen kann, zeigt sich Brecht optimistischer. Am Richtigen läßt sich teilhaben, die erkannte Wahrheit kann das Falsche nicht nur anzeigen, sondern es auch stellen. Der Abgleich mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit ermöglicht es, die Sprache Lügen zu strafen. Es sei denn, die Wirklichkeit ist genauso falsch wie ihre Sprache: 1934, in »Zeiten, wo die Täuschung gefordert und die Irrtümer gefördert werden«, entwirft Brecht in seinem dänischen Exil ein Programm zur »Wiederherstellung der Wahrheit«. Der kurze Prosatext ist eine Auseinandersetzung mit dem faschistischen Deutschland und der faschistischen Propaganda, den Radioansprachen von Göring und Hess. Brechts Text beschreibt eine Methode, sich dem Imperativ der Täuschung entgegenzustellen und der Wahrheit zu ihrem Recht zu verhelfen. Wenn Irrtümer »gefördert« werden, dann bedeutet das nicht allein, daß sie positiv sanktioniert werden. Das Fördern weist metaphorisch in den Bereich der Schwerindustrie: Die Bedingungen zur Produktion von Unwahrheit werden geschaffen, das Rohmaterial Irrtum wird industriell geborgen und zur Lüge weiterverarbeitet. Brechts Text ist eine Anleitung, das Falsche – die allgemeinen Irrtümer und das bewußt produzierte Unwahre – zur Rede zu stellen. Er ist zugleich eine Anleitung zum richtigen Lesen.
Brecht erfindet das »close reading«
In Zeiten der Täuschung, beginnt Brecht, »bemüht sich der Denkende, alles, was er liest und hört, richtigzustellen. Was er liest und hört, spricht er leise mit, und im Sprechen stellt er es richtig.« Lesen und Hören werden hier als Aktivitäten verstanden, als Arbeit an der Sprache. Diese beginnt mit dem Wiederholen, dem tätigen Wiederaufnehmen des Gesagten. Brechts Anweisung führt auch direkt vor, wovon sie spricht. Der zweite Satz wiederholt den ersten und liest ihn erneut, mit einer Hinzufügung: dem leisen Mitsprechen. Das Mitsprechen erinnert an das kantische Programm der Aufklärung. Es ist der wörtliche Übergang von der Unmündigkeit zur Mündigkeit oder eben: Mündlichkeit. Das Selbstsprechen richtet sich gegen die Bevormundung, es bricht die monolithische Schriftfläche und monologische Rede des anderen auf. Wer sich durch Mitsprechen in die Rolle des Sprechenden versetzt, der mimt die Hervorbringung des Gesagten. Denn die Wiederholung ist keine bloße Tautologie, keine Festigung und Affirmation des Vorherigen. Sie ist ein Rückgang an den Ort der Produktion, ein Auflösen der Verfestigung der Worte und ihres Zusammenhangs. Im Nachsprechen wird die Sprache aktualisiert, werden ihre Lautlichkeit und Zeitlichkeit bewußtgemacht: Der zweite Satz des Textes, der den ersten wiederholt, ist – bei genauem Mitsprechen und Hinhören – ganz eigentümlich rhythmisiert und akzentuiert: Was er liest und hört, spricht er lei-se mit – und im Sprechen –: stellt er es rich-tig. Das tätige Lesen soll nach Brecht so lange geübt werden, bis es von der Fertigkeit zur Gewohnheit wird, bis man »nicht mehr anders lesen und hören kann«. Der Lesende kann das ihm Vorgesetzte nun aktiv be-richtig-en: Dazu gehe er »von Satz zu Satz«, »so daß er langsam, aber vollständig das Gehörte und Gelesene in seiner zusammenhängenden Form berichtigt«. Die aufmerksame, langsame, gründliche Arbeit am Wortlaut, die Brecht hier beschreibt, ist das, was in der Literaturwissenschaft später »close reading« genannt wurde. Es wendet sich gegen die autoritäre Erstarrung der Sprache und die Sprachvergessenheit ihres Lesers.
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SINN UND FORM 3/2017, S. 422-425, hier S. 422-423